Digitale Marktplätze in der Chemie
Online- Plattformen: Alibaba und Amazon Business bringen sich in Position, um Schnittstellen zum Kunden zu übernehmen
Sie bieten neue und kostengünstige Möglichkeiten, die Kundennähe zu erhöhen. Neben Industriespezialisten wie CheMondis und ChemBid bringen sich industriefremde „Ecosystem“-Spieler wie Alibaba und Amazon Business in Position, um die Schnittstelle zum Kunden zu übernehmen. Was bedeutet das für das Vertriebsmodell der Chemieproduzenten? Wie können Hersteller bestehende Plattformen für die eigene Geschäftsentwicklung nutzen?
Seit 2015 gehören mehr als die Hälfte aller B2B-Einkäufer zur Generation der „Millenials“ und sind dementsprechend mit Online-Einkaufsplattformen vertraut. Im typischen B2B-Einkauf entfällt bis zu 70 % der Zeit auf Produktrecherche und Angebotsprozesse. Insofern ist die zunehmende Bedeutung von Marktplätzen wie Amazon und Alibaba nicht verwunderlich. Das führt dazu, dass Einkäufer auch bei ihren Geschäften endkundenähnliche Kundenerlebnisse erwarten. Die ersten Produzenten haben bereits reagiert: So haben bspw. BASF, Solvay und Covestro bereits Online-Shops auf 1688.com eröffnet, der Großhandelsplattform von Alibaba.
„Im typischen B2B-Einkauf entfällt
bis zu 70 % der Zeit auf
Produktrecherche und Angebotsprozesse.“
Andrea Maessen,
Senior Partnerin und Global Head der Practice „Chemicals & Construction“
bei Simon-Kucher
In den letzten zehn Jahren hat sich die Verfügbarkeit von Daten in Echtzeit so signifikant verbessert, dass die höhere Transparenz eine bessere Steuerung von komplexen Abläufen und ein nie zuvor gekanntes Ausmaß an Skalierbarkeit ermöglicht. Auf dieser Grundlage sind verschiedene Angebote für den Online-Vertrieb entstanden, von proprietären E-Channels für Einzelanbieter bis zu Multi-Anbieter-Plattformen und Ecosystem-Spielern (s. Tabelle).
Traditionelle Chemiehändler bieten einen One-Stop-Shop, der von Anfrage, Angebot, Bestellung bis hin zur Lagerhaltung, Finanzierung, Zollabfertigung, Logistik- und Zahlungsabwicklung alles aus einer Hand anbietet. Spieler wie Alibaba hingegen vernetzen Käufer, Verkäufer und Dienstleister entlang der Lieferkette, ohne eigenen Einkauf, Lagerhaltung oder Logistik. Stattdessen liegt der Fokus auf Koordination im Netzwerk und intelligenter Datennutzung. Diese neuen Absatzmittler haben direkten Kundenzugang, mehr Möglichkeiten zur Kommunikation der Werte von Produkten und Dienstleistungen sowie umfangreiche Informationen zum Einkaufsverhalten und zu Präferenzen der Kunden. Ihre Geschäftsmodelle basieren auf einer effizienteren Paarung („Matching“) von Käufern und Verkäufern, als dies im traditionellen Chemiehandel oder im Direktgeschäft der Fall ist.
Ihr Marktpotenzial ist riesig. Nehmen wir den globalen Umsatz der Chemiebranche. Er lag 2018 bei rund 3,5 Bio. EUR. Davon entfallen rund 60 % auf Commodity-, Basis- oder Massenchemikalien, von denen 10–15 % über Agenten, Händler oder Distributoren erzielt wurden. Daraus ergibt sich ein potenzielles Handelsvolumen von 200–300 Mrd. EUR für digitale Marktplätze und ein Vielfaches davon, wenn es gelingt zumindest teilweise den traditionellen Außendienst zu ersetzen. Über 70 digitale Marktplätze in China und mehr als zehn in Europa und Nordamerika kämpfen aktuell um eine Vormachtstellung im Chemiegeschäft. Aktuelle Herausforderungen in Bezug auf Regularien, Produktqualität oder Logistik werden eher früher als später überwunden sein.
Wann digitale Marktplätze aus Produzentensicht sinnvoll sind
Ecosystem-Spieler wie Amazon oder Alibaba verfügen über eine enorme Erfahrung in der Skalierung ihrer Plattformen. Insofern scheinen Versuche eine weitere, eigene Plattform aufzubauen wenig erfolgversprechend. Wie können Hersteller bestehende Plattformen für die eigene Geschäftsentwicklung nutzen? Die fünf wichtigsten Voraussetzungen:
1. „Lean & reliable supply“-Geschäfte: Einige Kunden wünschen sich einen wettbewerbsfähigen Preis und Liefersicherheit mit einer gewissen Flexibilität in der Logistik. Technische Unterstützung bei Formulierungen, Detailkenntnisse über Endanwendungen oder gemeinsame F&E-Projekte sind für sie nicht erforderlich. Für diesen Kundentypen ist die Nutzung digitaler Plattformen sinnvoll. Bei einem Klebstoffproduzent stellte sich in Kundeninterviews heraus, dass mehr als 60 % des Umsatzes mit dem zuvor beschriebenen Kundentyp erzielt werden. Hier lohnen sich digitale Marktplätze als Vertriebskanal.
2. Standardisierte Produkte: Massenprodukte oder kleinvolumige Feinchemikalien sind mit CAS-Nummern erfasst und mit vordefinierten Qualitäten, Verpackungen und Lieferformen hochgradig spezifiziert. Sie bedürfen keiner intensiven Erklärung mehr. Diese Produkte eignen sich für den Vertrieb über digitale Marktplätze.
3. Mittel- und Kleinkunden: Große Industriekunden werden weiterhin im Mittelpunkt der Kundenbeziehungen stehen: Zu ihnen pflegen Kundenbetreuer kontinuierlich Kontakt, stellen Lieferzuverlässigkeit sicher sowie die Grundauslastung der eigenen Kapazität und treiben gemeinsame Projekte voran. Für alle anderen Kunden lassen sich persönliche Beziehungen zukünftig durch Self-Service-Tools ersetzen, wie eine Simon-Kucher-Studie zeigt. Je stärker fragmentiert die Kundenbasis, desto höher sind die Vorteile aus digitalen Marktplätzen. Das ist auch der Grund für das starke Wachstum von Online-Umsätzen in China.
4. Garantierter Datenzugang: Je mehr Daten generiert werden, je mehr Schritte der Wertschöpfungskette abgedeckt werden, umso effektiver arbeitet ein digitaler Marktplatz. Durch diese Information lassen sich Nachfrageentwicklungen besser vorhersagen, neue Dienstleistungen entwickeln, die „Virtual Storefront“ optimieren und Preise differenzieren. Der Vertrieb wird für den Hersteller umso effektiver, je besser das Kauferlebnis der Kunden auf einer Plattform ist. Häufige Suchbegriffe und Klick- oder Konversionsraten sind dabei jedoch nicht ausreichend wie auch das Beispiel von Amazon zeigt: Demografische Daten und Kaufverhalten der Kunden sind nur im kostenpflichtigen „Analytics Premium“-Paket verfügbar. Produzenten benötigen diese Informationen, um ihren Vertrieb zu optimieren. Das gilt jedoch sowohl online als auch offline.
5. Hohe digitale Reife: Grundvoraussetzung für jegliche Maßnahmen ist ein hoher digitaler Reifegrad in Marketing, Vertrieb, Finanzen, Einkauf und Innendienst. Noch gibt es regionale Unterschiede, doch eine geringe Reife wird nur für kurze Zeit ein Hindernis für die Nutzung digitaler Marktplätze sein. Große Volkswirtschaften wie Brasilien und Indien entwickeln sich rasant und ebnen den Weg, China steht bereits an vorderster Front. Es bleibt wenig Raum für Nachzügler.
Vorteile für den Vertrieb
Zwei Vorteile von digitalen Marktplätzen liegen auf der Hand: Sie helfen, die Vertriebskosten zu optimieren und das Wachstum zu beschleunigen.
Nehmen wir an, dass Vertriebsgemeinkosten auf vorgelagerten Wertschöpfungsstufen bei unter 4 % des Umsatzes liegen und bei 5–7 % auf nachgelagerten Stufen. Die Provision für Online-Plattformen wie Alibaba beträgt zwischen 0,5–5 % des Umsatzes, je nach Servicelevel. Zusätzlich sind „Pay-per-Click“-Gebühren für Werbung zu berücksichtigen, um Traffic zu generieren. Dennoch zeigt diese vereinfachte Rechnung, dass das Potenzial zur Kosteneinsparung beträchtlich sein kann.
Dass digitale Marktplätze das Wachstum beschleunigen können, hat sich gezeigt. Mittelgroße und kleine Kunden können viel effizienter bedient werden. Die freien Ressourcen lassen sich produktiv anderweitig einsetzen. Laut einer Studie von Simon-Kucher erwarten 69 % der Unternehmen, dass persönliche Beziehungen zu Großkunden immer wichtiger werden.
Werden mittlere und kleinere Kunden künftig hauptsächlich über Online-Kanäle versorgt, kann sich der Vertrieb wesentlich stärker diesen Großkunden widmen und das Geschäft weiterentwickeln. Außerdem vergrößern Plattformen den adressierbaren Markt, wenn Kunden der Distributoren zukünftig direkt bedient werden.
„Mittlere und kleinere Kunden werden künftig
hauptsächlich über Online-Kanäle versorgt.“
Jan Haemer,
Partner im Kompetenzzentrum „Chemie & Materialien“
bei Simon-Kucher, Frankfurt
Welche Plattform sich am besten eignet, hängt stark davon ab, wer Herstellern die besten Wachstumschancen bietet. Spieler wie Alibaba und Amazon haben einen Erfahrungsvorsprung im Rennen und sind weiterhin auf dem Vormarsch. Für Hersteller, die sich auf diesen Weg einlassen, bedeutet es aber auch, dass ein aktiveres Kundenmanagement erforderlich ist. Das eigene Vertriebsmodell muss weiterentwickelt und das Kundenerlebnis verbessert werden, allerdings vor dem Hintergrund einer hohen Skalierbarkeit.
Digitale Marktplätze bieten zahlreiche Vorteile für den Vertrieb. Hybride, Multi-Kanal-Modelle, die Direktvertrieb und digitale Marktplätze kombinieren, sind nicht nur eine Option, sondern werden die neue Realität sein. Seien sie gewappnet!
ZUR PERSON
Andrea Maessen ist Senior Partnerin und Global Head der Practice „Chemicals & Construction“ bei Simon-Kucher. Ihre Beratungsschwerpunkte liegen in der Optimierung von Preis- und Vertriebsprozessen und -systemen sowie in der Entwicklung von Vertriebs- und Preisstrategien. Sie unterstützt Unternehmen beim Aufbau von Pricing-Kompetenzen.
ZUR PERSON
Jan Haemer ist Partner im Kompetenzzentrum „Chemie & Materialien“ bei Simon-Kucher und Spezialist für Produktportfoliomanagement sowie für die Entwicklung, Umsetzung und Digitalisierung von Vertriebs- und Preisprozessen. Er unterstützt überwiegend global aufgestellte Unternehmen mit europäischem Hauptsitz.
Kontakt
Simon-Kucher & Partners Strategy & Marketing Consultants GmbH
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