Anlagenbau & Prozesstechnik

Digital bis in die Feldebene

Ist Ethernet APL ein Enabler für die flexible Produktion in der Prozessindustrie?

10.11.2021 - Mit Ethernet APL (Advanced Physical Layer) steht jetzt eine Kommunikationstechnologie bis in die Feldebene bereit, die das Potenzial für einen Game Changer hat.

Was in den Fabriken der Automobilindustrie seit vielen Jahren Standard ist, hat sich in der Prozessfertigung noch nicht richtig durchgesetzt: Die digitale Kommunikation bis in die Feld­ebene, also in die Welt der Sensoren und Aktoren. Dabei wird eine flexible Produktion ohne intelligente Vernetzungen bis ins Feld nur schwer möglich sein. Mit Ethernet APL (Advanced Physical Layer) steht jetzt eine Technologie bereit, die das Potenzial für einen Game Changer hat.

Die Abnehmerbranchen wünschen sich von der Prozessindustrie verstärkt individuelle Lösungen für ihre Probleme. Dies wird zu einer differenzierteren Produktlandschaft führen – mit entsprechenden Auswirkungen auf die Architektur der Produktion: Kleinere, flexiblere Anlagen werden große, bestehende Anlagen ergänzen müssen. Modulare Strukturen werden großen Lösungen überlegen sein. Numbering-up könnte das neue Scaling-up werden. Und schließlich müssen Nachhaltigkeitsziele erreicht sowie die Time to Market und die Betriebs- und Wartungskosten reduziert werden.

 

„Die Besonderheiten der Prozessindustrie stellen besondere Herausforderungen für digitale und vernetzte Kommunikationsstrukturen dar.“

 

Alle diese Herausforderungen sind unter dem Generalthema „Industrie 4.0“ vielfach diskutiert worden. Digitalisierung ist ein wichtiger Schlüssel für eine wettbewerbsfähige zukünftige Produktion. Die NAMUR weist mit ihrem Konzept NOA (NAMUR Open Architecture) Wege dazu auf. Aber an der durchgängigen Umsetzung bis ins Feld hapert es oft noch. Dabei sind die Feldbussysteme Profibus PA und Foundation Fieldbus seit 20 Jahren bekannt und seit 15 Jahren ausgereifte Technologien – in den mitteleuropäischen Werken der Prozessindustrie führen sie jedoch ein Schattendasein, ganz anders als z.B. in Asien.

Zweifellos ist die Brownfield/Greenfield-Thematik ein wichtiger Faktor dabei, dass die meist neuen Chemieanlagen im asiatischen Raum digital bis ins Feld kommunizieren und die europäischen nicht.

Ethernet in der Prozessanlage

Das allgegenwärtige Ethernet soll es jetzt richten und die durchgängige Kommunikation vom Feld bis ins ERP-System schaffen. Doch die speziellen Anforderungen der Prozessindustrie sind hoch. Der bekannte RJ45 Steckverbinder, mit dem wir unser Telefon in das Netzwerk einstecken, die 4- oder gar 8-poligen Leitungen, die vergleichsweise kurze Reichweite der Kabel von maximal 100 m und die notwendige separate Energieversorgung machen den Einsatz in einer Prozessanlage nicht möglich. Hier sind Steckverbindungen für raue Umgebungsbedingungen, eine (oft schon vorhandene) 2-Draht-Leitung mit integrierter Energieversorgung für die Geräte, der Einsatz in explosionsgefährdeten Bereichen und Kabellängen bis zu 1.000 m gefordert. Das wird jetzt mit Ethernet APL möglich.

Wünsche der Anwender

Der NAMUR AK 2.6 „Digitale Prozesskommunikation“ hat in zwei Positionspapieren „APL-Netzwerk-Topologien für die Prozessindustrie“ und „Ethernet APL für Anwendungen der funktionalen Sicherheit“ die besonderen Anforderungen an Ethernet APL beschrieben.

Die verschiedenen Anlagentypen, -ausprägungen und -größen verlangen eine Topologie, die einfach erweiterbar ist und an die unterschiedlichen Anforderungen der Verfügbarkeit und Redundanz angepasst werden kann. Aufgrund der langen Anlagenlaufzeiten sind Migrationslösungen für bestehende Feldbusanlagen notwendig. Bestehende Anlagenstrukturen sollten teilweise weiter benutzt werden können, z.B. bereits vorhandene Feldgerätekabel.

Zum Erreichen der hohen Verfügbarkeitsanforderungen sind redundante Strukturen notwendig, die zusätzlich auch den Vorteil bieten, Änderungen und Erweiterungen im laufenden Betrieb durchführen zu können. Ähnlich wie bei heutigen Feldbuskomponenten müssen die Inbetriebnahme des Netzwerkes und die Wartung der Komponenten vom vorhandenen Anlagenpersonal, z.B. PLT-Handwerker, durchgeführt werden können.

Als bevorzugte Topologie bei APL-Netzwerken wird im überlagerten Ethernet-System eine Ring-Redundanz angesehen. Der Aufbau eines optischen Ringes (LWL) kann als Option vorgesehen werden. Im Ring befinden sich dann auch die APL ­Power Switches oder die Powered APL Field Switches, die einen Sternpunkt zu den Feldgeräten bilden. Bei Ausfall des APL Field Switch fallen alle an diesem angeschlossenen Geräte aus. Eine redundante Anbindung von einzelnen Feldgeräten an einen Field Switch ist ebenso wie die Kaskadierung von Feldgeräten nicht vorgesehen.

 

„Ethernet-APL bietet das Potenzial zur Vereinheitlichung der Infrastruktur und Gerätetechnik für Betriebs- und Sicherheitseinrichtungen.“

 

Alle Komponenten müssen sich ohne weiteren Konfigurationsauf­wand in die festgelegten Netzwerk-­Topologien integrieren lassen (Grundfunktionalität). Falls im Laufe der Anlagenlebensdauer Komponenten getauscht werden müssen, ist sicherzustellen, dass die Grundfunktionalität ohne weitere Eingriffe funktioniert („Plug & Produce“). Für erweiterte Einstellungen sind Infrastrukturkomponenten mit den gleichen Mechanismen in die Konfigurationstools einzubinden wie Feldgeräte (FDI-Package, Field Device Integration). Spezielle Software darf nicht notwendig sein. Damit lassen sich Infrastrukturkomponenten mit den gleichen Prozeduren und Werkzeugen integrieren und konfigurieren.

Während des gesamten Lebenszyklus muss die Möglichkeit bestehen, neue Komponenten nachzurüsten und alte durch neue zu ersetzen. Der Austausch und das Hinzufügen von Feldgeräten und Switches muss dabei im laufenden Betrieb erfolgen können, ohne die Prozessführung zu beeinflussen. Vergleichbare Komponenten verschiedener Anbieter müssen untereinander interoperabel sein. Technische Innovationen müssen sowohl in neuen als auch in alten Infrastrukturen nutzbar sein und sich automatisch an die bestehende Infrastruktur anpassen (z. B. Bandbreiten­adaption oder zusätzliche Dienste).

Einheitliche Infrastruktur für Betriebs- und Sicherheitseinrichtungen

Ethernet-APL bietet das Potenzial der Vereinheitlichung der Infrastruktur und Gerätetechnik für Betriebs- und Sicherheitseinrichtungen. Dabei sind durch die durchgängige Transparenz der Daten über den gesamten Lebenszyklus der Anlage wesentliche wirtschaftliche Vorteile zu erwarten: Durch die Nutzung einheitlicher Geräte und Infrastruktur ergeben sich wesentliche Vorteile bei der Wartung und Instandhaltung. Die Integration, Inbetriebnahme, Parametrierung und Konfiguration können einheitlich erfolgen, das Anlagenpersonal muss nur eine Gerätetechnologie beherrschen. Voraussetzung hierfür ist, dass Feldgeräte in der Breite über Ethernet-APL in den Anlagen eingebunden werden und auch das erforderliche Portfolio für Sicherheitsanwendungen zur Verfügung steht.

Deshalb erwarten die Betreiber baugleiche Feldgeräte, die sowohl für die Prozessführung als auch für Anwendungen der funktionalen Sicherheit eingesetzt werden können. Diese Lösung bietet Herstellern und Anwendern von Sensorik, Aktorik und Steuerungen den Vorteil, dass lediglich ein Gerätetyp gepflegt werden muss. Eine gemeinsame Infrastruktur für Sicherheitsanwendungen und Prozessführung benötigt keinen Unterschied bei Kabeln und Verteilertechnik, vereinfacht Wartung und Inbetriebnahme von Geräten und bietet geringeren Aufwand bei der Lagerhaltung von Geräten und Komponenten. Die Diagnosekonzepte für Feldgeräte, Netzwerktechnik und Automatisierungssysteme sind einheitlich – ein differenziertes Auswerten und Reagieren auf Gerätediagnosen ohne Messwertverlust ist im Gegensatz zum analogen Fehlersignal mit Ethernet-APL möglich. Ein zentrales Auswerten von Diagnose- und Wartungsmeldungen mit dem Ziel der Reduzierung des Prüfungsaufwandes lässt sich so realisieren.

 

„Der neue, eigensichere, für 2-adrige Kabel ausgelegter Physical Layer Ethernet APL ist verfügbar.“

 

Durch den Einsatz einer einheitlichen Gerätetechnologie können bestehende Betriebsmessstellen bei neuen Anforderungen (z.B. aus Sicherheitsgespräch, HAZOP oder Normenänderung) einfach in PLT-Sicherheitseinrichtungen überführt werden. Eine Neubeschaffung von Geräten sowie die Installation einer neuen Infrastruktur sind nicht notwendig. Dadurch ergeben sich wesentliche Vorteile im Lebenszyklus der Produktionsanlage.

Durch die höheren Stückzahlen von Geräten, die in der Prozessführung eingesetzt werden, sind außerdem eventuelle systematische Fehler der Geräte schneller erkennbar.

Ethernet-APL-Technologie verfügbar

Die Standardisierungsorganisationen FieldComm Group, ODVA, OPC Foundation, Profibus & Profinet International (PI) sowie 12 wichtige Projektpartner aus der Industrie haben in den letzten drei Jahren zusammengearbeitet, um Ethernet APL, den Advanced Physical Layer für Prozessgeräte zu entwickeln. Mit der Veröffentlichung der Spezifikationen, Engineering Guidelines und Konformitätstestpläne können End­anwender nun Komponenten mit einer drastisch verbesserten Kommunikationsgeschwindigkeit, der Anwendung in explosionsgefährdeten Bereiche, mit im 2-adrigen Kabel integrierter Stromversorgung von Sensoren/Aktuatoren im Feld sowie die Möglichkeit zur Verlegung von Kabeln mit einer Länge von bis zu 1.000 m erwarten.

Ethernet APL unterstützt als Erweiterung der Spezifikation für Ethernet über zweiadrige Kabel (Single-Pair Ethernet, SPE) jedes übergeordnete Ethernet-Kommunikationsprotokoll wie z. B. Profinet, EtherNet/IP, HART-IP oder OPC UA. APL definiert mit Portprofilen mehrere Leistungsstufen mit und ohne Explosionsschutz. Derzeit läuft bei den führenden Standardisierungsorganisationen die Fertigstellung der Konformitätstests, die Teil des APL-Projekts sind. Die jetzt veröffentlichten Testspezifikationen werden die Qualität der Produkte sowie die Übereinstimmung von Produkten mit den im APL-Portprofil definierten Parametern sicherstellen.

Autor: Volker Oestreich, CHEManager

 

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