Märkte & Unternehmen

Chemiekonjunktur – die Stimmung in der deutschen Chemieindustrie trübt sich ein

16.10.2024 - Die deutsche Wirtschaft kommt nicht in Schwung. Seit zweieinhalb Jahren befindet sie sich in einer Seitwärtsbewegung

Die deutsche Wirtschaft kommt nicht in Schwung. Seit zweieinhalb Jahren befindet sie sich in einer Seitwärtsbewegung. Zuletzt haben die Wirtschaftsforschungsinstitute die Prognosen für 2024 und 2025 deutlich nach unten revidiert. So wird die Wirtschaft in diesem Jahr wohl schrumpfen und für nächstes Jahr steht nur ein schwaches Plus von 0,8 % zu Buche. Damit ist Deutschland Schlusslicht unter den G20-Ländern. Besonders deutlich fällt die Wachstumsschwäche in der Industrie aus. Längst sind nicht mehr nur energieintensive Branchen betroffen. Die Probleme ziehen sich durch die ganze Industrie. Aus dem Ausland kommen nur geringe Wachstumsimpulse, das bremst die exportorientierten Branchen. Hohe Finanzierungskosten und geopolitische Unsicherheiten machen den Investitionsgüterindustrien zu schaffen. Das hohe Preisniveau bremst die Konsumgüterindustrien. Vor allem verhindern aber die strukturellen Probleme am Standort Deutschland zusätzliches Wachstum: hohe Energiekosten, eine Regulierungsflut aus Brüssel, langsame Genehmigungsverfahren, bürokratische Hürden, hohe Steuern, marode Infrastruktur, fehlende Digitalisierung, Fachkräftemangel. Diese Gemengelage verdirbt den Unternehmen die Geschäfte und schlägt auf die Stimmung. Der Ifo-Geschäftsklimaindex ging im September das vierte Mal in Folge zurück. Auch in der Chemie- und Pharmaindustrie hat sich die Stimmung zum Herbstbeginn deutlich eingetrübt. Dabei wird nicht nur die aktuelle Lage negativ bewertet. Auch für die kommenden Monate zeigen die Unternehmen der Branche sich wieder skeptischer (Grafik 1).

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Produktion mit leichtem Plus
Die Produktion der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie ist von Januar bis Juli 2024 um insgesamt 2,5 % im Vergleich zum Vorjahreszeitraum gestiegen. Nach den tiefen Einbrüchen der Vorjahre setzte damit eine moderate Erholung ein. Während in den vergangenen Jahren die Industrieproduktion sich von der Chemieproduktion zu entkoppeln schien, näherten sich jetzt die Verläufe wieder an (Grafik 2). Das Plus in der Chemie darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Verluste der letzten beiden Jahre damit noch bei Weitem nicht aufgeholt werden konnten. Gegenüber dem Vorkrisenjahr 2021 lag die Chemie- und Pharmaproduk­tion noch um 11 % niedriger. Bei der Chemieproduktion (ohne Pharma) betrug der Rückgang immer noch 15 % – bei einzelnen Sparten wie der Petrochemie bzw. den Polymeren sieht es noch düsterer aus. Setzt sich der Rückgang bei den Abnehmerindustrien fort, wird auch die Chemieproduktion wieder sinken. Die Kapazitäten blieben bis zuletzt schlecht ausgelastet. Im Juli fiel die Auslastung sogar erneut. Damit wurde die Rentabilitätsschwelle der deutschen Chemieproduktion seit mehr als zwei Jahren deutlich unterschritten. 

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Erzeugerpreise unter Druck
Bei den Energie- und Rohstoffkosten kam es in den Sommermonaten zu keiner weiteren Entspannung mehr. Im Gegenteil: Der Gaspreis lag im August bei über 38 EUR/MWh und damit um 10 % höher als im Vorjahr. Der Börsenstrompreis stieg im Jahresverlauf wieder an. Das Niveau der Vorkrisenjahre wurde sowohl bei Strom als auch bei Gas weiterhin deutlich überschritten. Und auch langfristig muss mit diesem höheren Energiepreisniveau gerechnet werden. Dagegen gab der Rohölpreis im August leicht nach. Der Preis für Naphtha, dem wichtigsten Rohstoff der Chemieindustrie, folgte dem Rohölpreistrend. Zu einer deutlichen Abnahme der Rohstoffkosten kam es aber nicht. Die damit weiterhin hohen Kosten am Standort können nur teilweise überwälzt werden. Die Erzeugerpreise befanden sich im Jahresverlauf 2024 im Abwärtstrend. Nach leichter Pause im zweiten Quartal nahm der Druck auf die Preise zuletzt wieder zu. Im bisherigen Jahresverlauf lagen die Erzeugerpreise um 3,1 % unter ihrem Vorjahresniveau. 

Umsätze im Minus
Fehlende Nachfrage, sinkende Preise, schlechte Standortbedingungen. Diese Faktoren ließen die Umsätze der Chemie- und Pharmaindustrie sinken. Im Vergleich zum Vorjahr lagen die Umsätze um 2,2 % niedriger. Besonders schlecht liefen die Geschäfte im Inland (-4,8 %). Aber zuletzt ließen auch die Käufe aus dem Ausland nach. Europa kämpft insgesamt mit schwachem Indus­triewachstum, was den wichtigsten Markt für die deutsche Chemie ausbremst. In den USA wächst vor allem der Dienstleistungsbereich, der Warenkonsum – und damit die Chemienachfrage – schwächelt. Und China fällt aufgrund der internen Probleme als Wachstumsmotor aus. Statt Nachfrage zu generieren, strömen eher chinesische Produkte mangels Binnennachfrage auf die Weltmärkte. Der Auslandsumsatz der deutschen Chemie- und Pharmaindustrie lag von Januar bis Juli um 0,6 % unter Vorjahr. Dabei liefen die Geschäfte nicht in allen Sparten schlecht. Umsatzeinbußen verzeichneten vor allem Anorganika, Polymere und industrienahe Fein- und Spezialchemikalien. Dagegen konnten die Hersteller von Konsumchemikalien und Pharmazeutika ihre Umsätze im Vergleich zum Vorjahr erhöhen. 

Strukturelle Probleme überwiegen zunehmend
Die Unternehmen der Branche sind nicht nur mit einer konjunkturellen Schwächephase und einer weltweiten Industriekrise konfrontiert. Zusätzlich belasten strukturelle Pro­bleme zunehmend die Geschäfte. Fast Dreiviertel der Unternehmen der Chemie- und Pharmaindustrie sehen die aufwändige Bürokratie, die langsamen Genehmigungsverfahren und die Regulierungsflut als Haupthindernis für ihre Geschäftstätigkeit (Grafik 3). Dabei handelt es sich bei den „bürokratischen Hürden“ nicht um ein abstraktes Hemmnis, sondern um einen massiven Kostenfaktor. Ein Großteil der Unternehmen schätzt, dass 2 – 5 % der Umsätze in die Bearbeitung bürokratischer Erfordernisse fließt. Hinzu kommen weitere Kostenprobleme: Arbeit, Energie, Rohstoffe sind hier teurer als an anderen Standorten. Und ein Damoklesschwert hängt über allem: der demografische Wandel, der den Fachkräfte- bzw. Arbeitskräftemangel in Zukunft verschärfen wird. Bereits heute sehen sich 35 % der Unternehmen durch fehlende Mitarbeiter in ihren Geschäften massiv behindert. Die strukturellen Probleme betreffen bei Weitem nicht nur die Chemie, sondern alle Industriebranchen. Das Geschäftsmodell der deutschen Industrie gerät insgesamt unter Druck. Es wird immer schwieriger, vom Wachstum in anderen Regionen mittels Ausfuhren zu profitieren. Die hohen Produktionskosten am Standort können immer schwerer durch höhere Qualität ausgeglichen werden.

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Aussichten: Erholung verschiebt sich weiter
Das Geschäftsumfeld für die Chemie- und Pharmaindustrie wird auch in den nächsten Monaten schwierig bleiben. Die Hoffnung auf eine baldige Erholung der deutschen Wirtschaft verflüchtigt sich zunehmend. Falls sich die Talfahrt in der Industrie fortsetzt, dürfte auch die Chemieproduktion mangels Nachfrage wieder sinken. Gleichzeitig fällt die Erholung der Weltwirtschaft nur moderat aus, sodass die Impulse aus dem Ausland schwach bleiben dürften. Für das Gesamtjahr rechnen wir weiterhin mit einem Produktionsanstieg von 3,5 %. Die unsichere und wenig dynamische Entwicklung hat Auswirkungen auf die Investitionspläne der Unternehmen und damit auf die langfristigen Produktionsmöglichkeiten. Bereits in den zurückliegenden Jahren zeichnete sich eine Zurückhaltung für Investitionen am Standort Deutschland ab. Zu gravierend waren die Ertragseinbußen. Aufgrund der Unsicherheiten und der strukturellen Defizite treffen immer mehr Unternehmen ihre Investitionsentscheidungen zugunsten ausländischer Standorte (Grafik 4). Es ist dringend geboten, die Rahmenbedingungen für Produktion und Innovation am Standort Deutschland zu verbessern.

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Henrik Meincke, Chefvolkswirt, Verband der Chemischen ­Industrie e. V., Frankfurt am Main

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Zur Person

Henrik Meincke ist Chefvolkswirt beim Verband der Chemischen Industrie. Er ist seit dem Jahr 2000 für den Branchenverband tätig. Meincke begann seine berufliche Laufbahn am Freiburger Materialforschungszentrum. Der promovierte Chemiker und Diplom-Volkswirt studierte an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

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