Chemie & Life Sciences
Chemiedistribution: Disruption vertagt?
Digitalisierung wird die Chemiedistributionsbranche verändern, aber nicht zerstören
Der Markt für unabhängige Chemiedistributoren ist nach wie vor auf Wachstum ausgerichtet: Produzierende Unternehmen der Chemieindustrie weisen den Distributoren in ihren Marketing- und Vertriebsstrategien eine zunehmend wichtige Rolle.
In Europa liegt die Marktgröße bei ca. 45 Mrd. EUR. Dies entspricht ca. 11-12 % der Chemieumsätze insgesamt. Mit ca. 85 % ist der Direktumsatz von Produzenten in der Chemie damit überdurchschnittlich hoch: In anderen produzierenden Branchen werden oftmals mehr als 50 % der Umsätze über Distributoren erzielt (z. B. Stahl > 60 %, Baustoffe und Pharma > 80 %). Auch innerhalb der Chemieindustrie ist die Schwankungsbreite zwischen den Teilsegmenten groß – so beträgt z. B. der Umsatzanteil via Distribution im Bereich Laborchemikalien mehr als 80 %, bei großvolumigen Petrochemikalien dagegen weniger als 10 %. In den vergangenen Jahren wurde die Chemiedistribution von einer Reihe Markttrends geprägt, die nach wie vor aktuell sind. Hierzu zählen insbesondere: Zunehmende Bedeutung strategischer Partnerschaften zwischen Produzenten und ihren „Kerndistributoren“
Kundennahe Wertschöpfung und Wertschaffung als Erfolgsfaktor Die Bedeutung wertschöpfender Dienstleistungen (Value Added Services) in der Chemiedistribution ist seit langem unbestritten und wird aufgrund der dargestellten Markttrends im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Wertschaffung voraussichtlich weiter steigen. Neben den klassischen „anlagenbezogenen“ Dienstleistungen (Asset Based Value Added Services) – Mischen, Formulieren, Abfüllen in kundenspezifische Gebinde, Kommissionieren etc. – erlangen informations- und datenbasierte Services größere Bedeutung. Hierbei geht es z. B. um sehr spezifische anwendungstechnische Beratungsleistungen für Kunden, aber auch um den Umfang und die Qualität von Marktinformationen, die die Distributoren ihren wichtigsten Lieferanten („Prinzipalen“) regelmäßig zur Verfügung stellen, oder etwa um die gemeinsame Entwicklung von Formulierungen und Rezepturen mit Kunden. Das bloße „Weiterverkaufen“ von (Standard-)Produkten ohne Mehrwertleistungen oder Mehrwertinformationen wird in Zukunft für Distributoren kaum mehr ausreichend sein.
Disruption vor der Tür: Analoge und digitale Plattformmodelle Viele Industrien spüren bereits die disruptive Kraft von Plattformmodellen, sei es durch den Eintritt von Amazon oder durch Start-ups. Dort, wo Produkte als solche digitalisierbar sind – Informationen, Bücher, Reservierungen oder Buchungen von „Assets“ (Mietwagen, Zimmer, Lagerhäuser etc.) –, ist dies nicht verwunderlich. Chemieprodukte bestehen zwar bekanntermaßen aus Molekülen – doch damit ist der Bereich keineswegs immun gegenüber derartiger Konkurrenz. Denn jedwede Information zum Chemieprodukt bzw. seinen Anwendungs- oder Formulierungsmöglichkeiten ist grundsätzlich digitalisierbar und damit einem digitalen Plattformmodell zugänglich.
Ferner zeigt sich ganz deutlich, dass auch die Verbindung physischer Anlagen mit digitalen Fähigkeiten traditionelle Geschäftsmodelle herausfordert. Amazon hat sehr umfangreich in Läger und Transportmittel (Flugzeuge etc.) investiert und kombiniert diese mit digitalen Fähigkeiten. Sehr gut vergleichbar hierzu ist der Erfolg von Distributoren im Bereich Laborchemikalien: Die führenden Unternehmen (z. B. Thermo Fisher und Merck Sigma-Aldrich) haben über viele Jahre sowohl ihre digitalen Produktkataloge als auch exzellente Logistikfähigkeiten für die höchst fragmentierte Produkt- und Kundenstruktur aufgebaut und miteinander verbunden. Hier erfolgt die Masse des Vertriebs – auch an große Kunden – nicht mehr über Produzenten, sondern über die Distributoren. Unsere Hypothese lautet daher, dass in der Chemiedistribution – und insbesondere in der Spezialchemiedistribution – Digitalisierung sehr wahrscheinlich nicht zu einer „plötzlichen Disruption“ führen wird. Vorstellbar ist jedoch, dass einzelne Distributoren (oder Plattformunternehmen wie Amazon) in einzelnen Segmenten im Laufe der Zeit eine sehr starke Position aufbauen können, indem sie ausgezeichnete „analoge“ Fähigkeiten und Asset-Positionen mit exzellenten digitalen Fähigkeiten kombinieren. Entscheidend ist, dass Chemiedistributoren schon heute ihre Geschäftsmodelle auf deren Nachhaltigkeit und Verteidigungsfähigkeit überprüfen. Dies betrifft sowohl mögliche „Angriffe“ seitens digitaler Plattformen als auch digitale Initiativen von Produzenten, die auf diesem Weg versuchen, ihre Kleinkunden (wieder) direkt zu bedienen. Die Indikatoren der Geschäftsqualität sind in Abbildung 1 zusammengefasst.
Essenzielle Industrieübergreifende Erfolgsfaktoren nicht vernachlässigen Bisher wurden spezifische Markttrends und Erfolgsfaktoren im Bereich Chemiedistribution diskutiert. Ein weiterer essenzieller Erfolgsfaktor ist hingegen industrieübergreifend: die Mitarbeiter mit ihrer Motivation, ihrem Engagement und ihren Kompetenzen. Viele Unternehmen der Chemieindustrie – und zunehmend der Chemiedistribution – haben die Bedeutung, die das Thema Demografie für sie hat, erkannt und entsprechende Initiativen im Bereich der strategischen Personalplanung (Strategic Workforce Planning) eingeleitet. In zahlreichen Unternehmen werden in den kommenden Jahren viele sehr erfahrene Mitarbeiter in den Ruhestand gehen. Vor diesem Hintergrund haben die Firmen konkrete Maßnahmen ergriffen, um dem Kompetenz- und Erfahrungsverlust gegenzusteuern. Dies gilt auch für Unternehmen der Chemiedistribution, bei denen verschärfend hinzukommt, dass sie in puncto Mitarbeiterrekrutierung und -bindung im Wettbewerb mit Chemieproduzenten stehen. Daher wird für Chemiedistributoren nach unserer Einschätzung dem strategischen Personalmanagement – verbunden mit einer weiteren Akademisierung von Tätigkeitsbereichen – künftig eine weitaus größere Bedeutung zukommen, als es heute der Fall ist.
In Europa liegt die Marktgröße bei ca. 45 Mrd. EUR. Dies entspricht ca. 11-12 % der Chemieumsätze insgesamt. Mit ca. 85 % ist der Direktumsatz von Produzenten in der Chemie damit überdurchschnittlich hoch: In anderen produzierenden Branchen werden oftmals mehr als 50 % der Umsätze über Distributoren erzielt (z. B. Stahl > 60 %, Baustoffe und Pharma > 80 %). Auch innerhalb der Chemieindustrie ist die Schwankungsbreite zwischen den Teilsegmenten groß – so beträgt z. B. der Umsatzanteil via Distribution im Bereich Laborchemikalien mehr als 80 %, bei großvolumigen Petrochemikalien dagegen weniger als 10 %. In den vergangenen Jahren wurde die Chemiedistribution von einer Reihe Markttrends geprägt, die nach wie vor aktuell sind. Hierzu zählen insbesondere: Zunehmende Bedeutung strategischer Partnerschaften zwischen Produzenten und ihren „Kerndistributoren“
- Fortschreitende Konsolidierung der Chemieproduzenten, d. h. der Lieferanten der Distributoren
- Weiterhin steigende regulatorische und sicherheitstechnische Anforderungen entlang der gesamten Wertschöpfungskette in der chemischen Industrie
- Zunehmende geschäftsstrategische Bedeutung von Nachhaltigkeits- und Kreislaufwirtschaftskonzepten
- Erheblicher Transformations- und Investitionsbedarf sowohl der Produzenten als auch der Distributoren durch die beginnende Digitalisierung der Chemie-Wertschöpfungsketten
Kundennahe Wertschöpfung und Wertschaffung als Erfolgsfaktor Die Bedeutung wertschöpfender Dienstleistungen (Value Added Services) in der Chemiedistribution ist seit langem unbestritten und wird aufgrund der dargestellten Markttrends im Hinblick auf Wettbewerbsfähigkeit und Wertschaffung voraussichtlich weiter steigen. Neben den klassischen „anlagenbezogenen“ Dienstleistungen (Asset Based Value Added Services) – Mischen, Formulieren, Abfüllen in kundenspezifische Gebinde, Kommissionieren etc. – erlangen informations- und datenbasierte Services größere Bedeutung. Hierbei geht es z. B. um sehr spezifische anwendungstechnische Beratungsleistungen für Kunden, aber auch um den Umfang und die Qualität von Marktinformationen, die die Distributoren ihren wichtigsten Lieferanten („Prinzipalen“) regelmäßig zur Verfügung stellen, oder etwa um die gemeinsame Entwicklung von Formulierungen und Rezepturen mit Kunden. Das bloße „Weiterverkaufen“ von (Standard-)Produkten ohne Mehrwertleistungen oder Mehrwertinformationen wird in Zukunft für Distributoren kaum mehr ausreichend sein.
„Man sieht ein ‚Rennen‘ um digitale Anschlüsse bei Kunden, da Schnitt-
stellen zu vielen Distributoren nicht akzeptiert würden."
Udo Jung, Senior Partner, BCG Frankfurt
Disruption vor der Tür: Analoge und digitale Plattformmodelle Viele Industrien spüren bereits die disruptive Kraft von Plattformmodellen, sei es durch den Eintritt von Amazon oder durch Start-ups. Dort, wo Produkte als solche digitalisierbar sind – Informationen, Bücher, Reservierungen oder Buchungen von „Assets“ (Mietwagen, Zimmer, Lagerhäuser etc.) –, ist dies nicht verwunderlich. Chemieprodukte bestehen zwar bekanntermaßen aus Molekülen – doch damit ist der Bereich keineswegs immun gegenüber derartiger Konkurrenz. Denn jedwede Information zum Chemieprodukt bzw. seinen Anwendungs- oder Formulierungsmöglichkeiten ist grundsätzlich digitalisierbar und damit einem digitalen Plattformmodell zugänglich.
Ferner zeigt sich ganz deutlich, dass auch die Verbindung physischer Anlagen mit digitalen Fähigkeiten traditionelle Geschäftsmodelle herausfordert. Amazon hat sehr umfangreich in Läger und Transportmittel (Flugzeuge etc.) investiert und kombiniert diese mit digitalen Fähigkeiten. Sehr gut vergleichbar hierzu ist der Erfolg von Distributoren im Bereich Laborchemikalien: Die führenden Unternehmen (z. B. Thermo Fisher und Merck Sigma-Aldrich) haben über viele Jahre sowohl ihre digitalen Produktkataloge als auch exzellente Logistikfähigkeiten für die höchst fragmentierte Produkt- und Kundenstruktur aufgebaut und miteinander verbunden. Hier erfolgt die Masse des Vertriebs – auch an große Kunden – nicht mehr über Produzenten, sondern über die Distributoren. Unsere Hypothese lautet daher, dass in der Chemiedistribution – und insbesondere in der Spezialchemiedistribution – Digitalisierung sehr wahrscheinlich nicht zu einer „plötzlichen Disruption“ führen wird. Vorstellbar ist jedoch, dass einzelne Distributoren (oder Plattformunternehmen wie Amazon) in einzelnen Segmenten im Laufe der Zeit eine sehr starke Position aufbauen können, indem sie ausgezeichnete „analoge“ Fähigkeiten und Asset-Positionen mit exzellenten digitalen Fähigkeiten kombinieren. Entscheidend ist, dass Chemiedistributoren schon heute ihre Geschäftsmodelle auf deren Nachhaltigkeit und Verteidigungsfähigkeit überprüfen. Dies betrifft sowohl mögliche „Angriffe“ seitens digitaler Plattformen als auch digitale Initiativen von Produzenten, die auf diesem Weg versuchen, ihre Kleinkunden (wieder) direkt zu bedienen. Die Indikatoren der Geschäftsqualität sind in Abbildung 1 zusammengefasst.
Essenzielle Industrieübergreifende Erfolgsfaktoren nicht vernachlässigen Bisher wurden spezifische Markttrends und Erfolgsfaktoren im Bereich Chemiedistribution diskutiert. Ein weiterer essenzieller Erfolgsfaktor ist hingegen industrieübergreifend: die Mitarbeiter mit ihrer Motivation, ihrem Engagement und ihren Kompetenzen. Viele Unternehmen der Chemieindustrie – und zunehmend der Chemiedistribution – haben die Bedeutung, die das Thema Demografie für sie hat, erkannt und entsprechende Initiativen im Bereich der strategischen Personalplanung (Strategic Workforce Planning) eingeleitet. In zahlreichen Unternehmen werden in den kommenden Jahren viele sehr erfahrene Mitarbeiter in den Ruhestand gehen. Vor diesem Hintergrund haben die Firmen konkrete Maßnahmen ergriffen, um dem Kompetenz- und Erfahrungsverlust gegenzusteuern. Dies gilt auch für Unternehmen der Chemiedistribution, bei denen verschärfend hinzukommt, dass sie in puncto Mitarbeiterrekrutierung und -bindung im Wettbewerb mit Chemieproduzenten stehen. Daher wird für Chemiedistributoren nach unserer Einschätzung dem strategischen Personalmanagement – verbunden mit einer weiteren Akademisierung von Tätigkeitsbereichen – künftig eine weitaus größere Bedeutung zukommen, als es heute der Fall ist.
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