Biotechnologische Produktion humaner Milcholigosaccharide
Interview mit Stefan Jennewein, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter von Jennewein Biotechnologie
Muttermilch ist das beste Nahrungsmittel für Säuglinge, nicht nur hinsichtlich des optimal abgestimmten Nährstoffgehalts, sondern auch aufgrund der Bestandteile mit besonderen physiologischen Funktionalitäten. Zucker stellen – noch vor Fetten und Proteinen – die Hauptkomponente der humanen Milch dar. Neben dem Milchzucker Laktose, der als Energiequelle dient, sind 7 bis 25 g komplexe Zuckermoleküle, sog. Oligosaccharide, pro Liter menschlicher Muttermilch enthalten. Diese komplexen Zuckermoleküle kommen in der Struktur, Vielfalt und Konzentration ausschließlich in der menschlichen Milch vor und werden daher unter dem Begriff „humane Milcholigosaccharide“ (HMOs) zusammengefasst.
Diese seltenen funktionellen Zucker im industriellen Maßstab bereitzustellen, ist das Spezialgebiet der Firma Jennewein Biotechnologie aus dem rheinland-pfälzischen Rheinbreitbach. Das Unternehmen forscht seit seiner Gründung 2005 an der biotechnologischen Herstellung humaner Milchzucker. Stefan Jennewein, Gründer und geschäftsführender Gesellschafter des Unternehmens, erläuterte CHEManager die proprietäre Technologie und die Aktivitäten der Firma.
CHEManager: Herr Jennewein, was war der ausschlaggebende Impuls für die Gründung Ihres Unternehmens im Jahr 2005?
Stefan Jennewein: Bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts ist bekannt, dass die humanspezifischen komplexen Oligosaccharid-Strukturen für die Säuglingsgesundheit von zentraler Bedeutung sind. Es wurde erkannt, dass gestillte Säuglinge eine bis zu siebenmal geringerer Kindersterblichkeit aufwiesen als nichtgestillte Säuglinge. Stillen ist das Beste für jedes Baby, denn unter anderem enthält Muttermilch eine Vielzahl unterschiedlicher humaner Milcholigosaccharide – auch HMOs genannt. Leider kann aber nicht jedes Baby von der Mutter gestillt werden – aus einer Vielzahl von Gründen, die sich aus der privaten, der medizinischen oder der gesundheitlichen Situation ergeben. Unser Ziel war und ist es, diese Lücke zu schließen.
Wir sind davon überzeugt, dass wir hier einen sehr wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Kindernahrung leisten, indem wir nach dem Vorbild der Natur identische humane Milcholigosaccharide herstellen und der Babynahrungs-, Pharma- und Nahrungsmittelindustrie und damit auch dem Endverbraucher zur Verfügung stellen können.
Worauf genau beruht die infektionsvorbeugende Wirkung humaner Milchzucker?
S. Jennewein: Der deutsch-österreichische Kinderarzt und Bakteriologe Theodor Escherich sowie der deutsche Kinderarzt Ernst Moro konnten Anfang des 20. Jahrhunderts zeigen, dass HMOs unter anderem aufgrund ihrer prebiotischen Wirkung die Entwicklung der Darmflora und somit die Gesundheit des Säuglings positiv beeinflussen. So dienen humane Milcholigosaccharide als Substrat für die Entwicklung eines gesunden Säuglingsmikrobioms, indem sie gezielt die Proliferation humanspezifischer probiotischer Mikroorganismen fördern. Außerdem wirken humane Milcholigosaccharide infektionsvorbeugend, indem sie zellständige Glycostrukturen imitieren und so gegenüber Infektionskrankheiten schützen. Zirka 80 % aller Humanpathogene verwenden zellständige Glycostrukturen in Form von Oligosacchariden als Rezeptor oder Co-Rezeptor. Humane Milcholigosaccharide entfalten ihre Wirkung nicht nur im Magen-Darm-Trakt, sondern gehen auch in den menschlichen Blutstrom über und können somit einen systemischen Effekt entfalten. Während die schützende Wirkung gegenüber Pathogenen, wie zum Beispiel Noroviren, gut verstanden ist, stehen wir bei den Wirkungen der HMOs auf das Mikrobiom heute jedoch noch ziemlich am Anfang.
Warum ist bzw. war die Entwicklung eines rentablen Herstellungsprozesses für HMOs so schwierig?
S. Jennewein: Als wir begonnen haben von unserer Vision zu erzählen, humane Milcholigosaccharide für Babynahrung biotechnologisch herzustellen, sagte man, dass es drei Gründe gebe, weshalb dies nicht möglich sei. Erstens: Es würde unmöglich sein, mit Hilfe der Biotechnologie humane Milcholigosaccharide in einem industriellen Multi-Tonnen-Maßstab herzustellen, der für die Anwendung in Babynahrung nötig ist. Zweitens: Selbst wenn dieser Maßstab erreicht würde, wären die Produktionskosten für eine Anwendung in einer Babynahrung viel zu hoch. Und drittens: Selbst wenn wir all diese Hindernisse überwinden können, würde das Produkt nie von den zuständigen Behörden zugelassen werden.
Es war für uns von Anfang an klar, dass eine chemische Synthese von komplexen Oligosacchariden im Multi-Tonnen-Maßstab ökonomisch nie zu realisieren gewesen wäre; somit haben wir uns auf die biotechnologische Herstellung konzentriert und damit, Stand heute, diese Hürden sehr erfolgreich überwunden!
Welche Branchen sind die Hauptabnehmer der von Jennewein Biotechnologie produzierten seltenen Mono- und Oligosaccharide?
S. Jennewein: In erster Linie sind dies heute Babynahrungsproduzenten. Hier sagte uns die US FDA schon 2014 bei der Zulassung, dass der Einsatz von humanen Milcholigosacchariden in Säuglingsnahrung ein „no brainer“ beziehungsweise selbstverständlich für sie sei. Die physiologischen Eigenschaften der HMOs sind jedoch relevant für alle Altersgruppen, und wir sehen mehr und mehr Anwendungen in weiteren Gebieten, wie z.B. in der medizinischen Ernährung.
Die von Ihnen produzierten Milchzucker sind also schon für bestimmte Märkte zugelassen?
S. Jennewein: Ja, sicher! Bereits im November 2015 haben wir die Zulassung von der US FDA für unser erstes HMO, das heißt für 2‘-Fucosyllactose, zur Anwendung in Baby- und Kleinkindnahrung, erhalten. Die Säuglingsnahrung ist ein sehr sensibler Markt. Insofern ist das eine hohe Auszeichnung für unser Unternehmen. Im Sommer 2016 kam dann auch schon die erste Babynahrung mit unserer 2‘-Fucosyllactose auf den US-amerikanischen Markt und wurde sehr erfolgreich verkauft. Voraussichtlich Ende des Jahres werden alle bedeutenden Babynahrungsmarken 2‘-Fucosyllactose im US Markt einsetzen.
In der EU war die Zulassung wie erwartet etwas schwieriger. Aber Ende 2017 bewilligte auch die Europäische Kommission die Zulassung unserer 2‘-Fucosyllactose für Säuglingsnahrungsprodukte.
Im Juni hat Jennewein Biotechnologie einen langfristigen Mietvertrag für ein Areal in Bonn Bad Godesberg und für den Bau eines neuen F&E-Zentrums unterzeichnet. Zunächst einmal: Welche Pläne haben Sie für den neuen Standort? Und: Was ist eigentlich das Mikrobiom?
S. Jennewein: Im November beziehen wir bereits einen Teil des neuen F&E-Standorts. Der Fokus des neuen F&E-Zentrums soll auf der Erstellung von Designer-Mikroorganismen und der Erforschung des menschlichen Mikrobioms liegen. Unter Designer-Mikroorganismen verstehen wir das Design von Mikroorganismen bzw. deren Genome am Computer und der Entwicklung von Methoden zu deren de-novo-Aufbau. Diese Ausrichtung auf Designer-Organismen ist eine konsequente Fortführung unserer Metabolic- und Genetic-Engineering-Arbeiten der vergangenen 10 Jahre.
Unter Mikrobiom, oder spezifischer dem humanen Mikrobiom, versteht man heute im weitesten Sinne die Gesamtheit aller den Menschen besiedelnden Mikroorganismen. In erster Linie interessieren wir uns aber für das Mikrobiom des Säuglings und den Einfluss unserer HMOs auf die Darmflora. Hier gab es in den vergangenen 10 Jahren mit der Einführung von Probiotika und im Besonderen von Prebiotika, welche humane Milcholigosaccharide imitieren sollten, einige interessante Veränderungen. So nahm zum Beispiel die Fettleibigkeit bei Kleinkindern unter 5 Jahre immens zu.
Jennewein Biotechnologie startete kürzlich eine klinische Studie zur Entwicklung des Säuglingsmikrobioms. Welche Informationen erhoffen Sie sich davon?
S. Jennewein: Richtig, wir starteten nach langer Vorarbeit kürzlich eine äußerst anspruchsvolle und sicherlich einmalige klinische Studie, in welcher wir den Einfluss von humanen Milcholigosacchariden auf das Säuglingsmikrobiom untersuchen. Die Studie analysiert zum einen die natürliche Situation des Stillens auf die Entwicklung des Säuglingsmikrobioms; hier untersuchen wir die HMO-Zusammensetzung der humanen Milch der Mutter und die Entwicklung des Säuglingsmikrobioms über die Stillzeit. Zum anderen vergleichen wir eine Säuglingsnahrung, welche einen Cocktail unserer HMOs enthält, mit einer Kontrollgruppe, die gewöhnliche, heute handelsübliche Säuglingsnahrung verwendet. Aktuell führen wir diese Studie in mehreren Kinderkliniken in Spanien, Italien und Deutschland durch. Wir erhoffen uns einerseits schon zeigen zu können, dass der Einsatz unseres aktuellen HMO-Cocktails die Säuglingsnahrung ein großes Stück näher an die Muttermilch heranbringt, andererseits neue Erkenntnisse über die Entwicklung eines gesunden Säuglingsmikrobioms während der ersten Lebensmonate und auch Erkenntnisse für die Entwicklung weiterer HMO-Produkte.
Wie sehen Ihre Pläne bzw. Ihre Strategie für die nächsten Jahre aus? Welche weiteren Projekte stehen bei Jennewein Biotechnologie an?
S. Jennewein: Zum einen werden wir uns mit unserem neuen F&E-Center in Bonn Bad Godesberg vermehrt der Anwendungsforschung widmen. Andererseits haben wir kürzlich die Anlagen der vormals Artus Mineralquelle in Bad Hönningen gekauft. Hier werden wir eine integrierte Produktionsanlage für die großtechnische Produktion von humanen Milcholigosacchariden sowie weiteren Zuckern – im Besondern auch für klinische Ernährung und Pharma-Anwendungen – bauen.
Aktuell entwickeln wir, wie schon erwähnt, einen Cocktail bestehend aus mehreren HMOs, welcher die Säuglingsnahrung ein großes Stück näher an die humane Milch bringen wird. Dies erfordert jedoch deutlich größere Mengen an humanen Milcholigosacchariden, als aktuell eingesetzt werden. Humane Milcholigosaccharide stellen den drittgrößten Bestandteil der humanen Milch nach der Lactose und den Fetten dar. Somit werden wir in den kommenden Monaten unsere Produktion deutlich ausbauen, um die Nachfrage an HMOs bedienen zu können.