Strategie & Management

Zwillinge mit Potenzial

Digital Twin als Instrument für Topfloor und Shopfloor

22.10.2018 -

Der digitale Zwilling einer Chemiefabrik kann statisch den technischen Aufbau der Anlage wiedergeben. Oder er kann dynamisch einzelne Prozesse und Abläufe abbilden, so dass Ansätze für Qualitätsverbesserungen, Effizienzsteigerungen und Kostensenkungen erkennbar werden. Mit dem richtigen Konzept lassen sich die beiden Modelle auch verschmelzen. So ein Digital Twin, gefüttert in Echtzeit mit dem Input aus zahllosen Datenpunkten, würde zum Leitstand, aus dem die Produktion optimal gesteuert werden kann – und zum Simulationscenter, mit dem sich Ideen für neue Anlagen oder Produkte virtuell auf Herz und Nieren prüfen lassen.

Ein Farbenwerk im australischen Melbourne hat Großes erreicht. Es halbierte die Zeitspanne von der Planung bis zum Produktionsbeginn, erhöhte die Geschwindigkeit in der Fertigung um das Achtfache, reduzierte den Energieverbrauch um 25 %. Erfüllt nun individuelle Kundenwünsche durch die Produktion vieler kleiner Chargen und hat die früher rund 75.000 manuellen Eingriffe pro Jahr obsolet gemacht. Wie ist das möglich? Der Schlüssel liegt darin, mit Hilfe moderner Digitaltechnologie und einer hochautomatisierten Produktion Reproduzierbarkeit und Zielgenauigkeit zu schaffen. So entsteht höchste Qualität bei minimalem Ausschuss.

Per Digital Twin lässt sich so gut wie alles simulieren

Wesentlich zu diesem Erfolg beigetragen hat ein Digital Twin. Wird dieser am Rechner erzeugte digitale Zwilling mit statischen Konstruktionsdaten, dynamischen Betriebsdaten einer Maschine oder sogar dem virtuellen Abbild einer ganzen Fabrik gefüttert, lässt sich am Bildschirm im zentralen Leitstand nicht nur der aktuelle Zustand leichter überwachen und steuern. In Simulationen können auch Planungen beschleunigt, alternative Steuerungen ausprobiert und mögliche Wechselwirkungen von Veränderungen erforscht werden. Die Anwendungsfelder sind divers und werden in unterschiedlichen Branchen untersucht: Autobauer testen mit dem Digital Twin eines Motorblocks das Verhalten von Teilen bei unterschiedlichen Geschwindigkeiten. Windradbetreiber versuchen die Stromproduktion und mechanische Belastung mit einem digitalen Zwilling zu optimieren, indem Betriebsdaten in Echtzeit analysiert werden. Im Bereich der Luftfahrt arbeiten Airlines daran, die Wartung der Flugzeuge mit Hilfe eines Digital Twin zu vereinfachen. Und Singapur will mit einem digitalen Zwilling des ganzen Stadtstaats u. a. Vorhersagen über den Verkehrsfluss und die Lärmbelästigung nach Baumaßnahmen treffen.

Chemiebranche muss bei der Digitalisierung noch aufholen

Der Einsatz digitaler Technologien, wie dem Digital Twin, verspricht auch in der Chemieindustrie erhebliche Qualitätsverbesserungen, Effizienzsteigerungen sowie Kostensenkungen. Besonders da die Branche, so ein Ergebnis des Digital Performance Index (DPI) von Accenture, im Vergleich mit anderen Wirtschaftsbereichen bei der Digitalisierung zurückliegt. Genau wegen dieses Nachholbedarfs ist das Potenzial, das sich mit Digital Twin, Virtual Reality und Co. verbindet, enorm: Werden die Technologien und Methoden in der Chemieindustrie gezielt eingesetzt, so die Accenture-Studie „Unlocking the Power of Digital in Plant Operations“, könnten die Kosten pro Beschäftigten um gut 91.000 USD sinken.

Der Schritt in Richtung Industriedigitalisierung – bei Accenture reden wir in diesem Zusammenhang von ‚Industry X.0‘ – dürfte also auch die Chemiebranche nachhaltig verändern. Dabei ist der digitale Wandel kein einheitlicher Prozess der einem klaren Ablaufmuster folgt: Nicht alle Branchen, Betriebsgrößen oder Technologien lassen sich über einen Kamm scheren und nicht alle Unternehmen durchlaufen gerade dieselbe Phase der Digitalisierung. In jedem Wirtschaftsbereich müssen die Manager das am besten zu den aktuellen Herausforderungen ihres Konzerns passende Instrument finden, wobei sie aus einem immer umfangreicheren Angebot digitaler Lösungen wählen und diese sehr individuell einsetzen können.

Ein digitaler Zwilling kann statisch oder dynamisch sein

Bezogen auf die Chemiebranche heißt das u.a.: Der Einsatz eines digitalen Zwillings birgt großes Potenzial – aber es sollte auch der zum Unternehmen passende sein. Die aktuell verfügbaren Konzepte lassen sich grob in zwei unterschiedliche Ansätze unterteilen, nämlich den statischen und den dynamischen Digital Twin. Der statische digitale Zwilling bildet die gesamte Anlage ab. Dafür werden Informationen zur verbauten Technik in dreidimensionalen und mit Daten angereicherten Modellen erfasst, digitalisiert und auf der zentralen Plattform so abgelegt, dass jeder – vom Betriebsingenieur, Prozessoptimierer oder Anlagenbauer bis zu den Instandhaltungsteams – bei Bedarf zugreifen kann. Alle Veränderungen werden hier gespeichert und müssen erfasst werden, damit stets die aktuelle Technik der Anlage abrufbar ist. So einen Digital Twin anzulegen, dauert bei größeren Anlagen bis zu zwei Jahre und erfordert erhebliche Investitionen in die Erfassung und Harmonisierung der Daten. Dann lässt sich in einer technisch betrachtet komplett gläsernen Umgebung arbeiten, wo Angestellten wie externen Dienstleistern immer und überall die benötigten Informationen in Echtzeit zur Verfügung stehen. Die Anlage kann als Blaupause für andere Werke dienen und wird zum Instrument, das die Konzernleitung bei der Planung von Standorten oder langfristigen Entscheidungen nutzt, also der Topfloor.

Grundlage für bessere Werksplanung und optimierte Prozesse

Der dynamische digitale Zwilling dagegen bildet ab, was in einer Anlage passiert. Hierbei geht es um konkrete Prozesse und Abläufe, bspw. um klare Vorgaben zur Prozesssteuerung und -optimierung, Reinigung, Kontrolle oder Qualitätssicherung. Ein erster Schritt zum dynamischen Zwilling könnte sein, Anlagenläufer mit Tablets oder VR-Brillen auszustatten. Wenn sie auf ihren Rundgängen nach Auffälligkeiten suchen, könnte das Tablet die Route vorgegeben und Dialogfelder enthalten, in die Beobachtungen direkt eingetragen werden – statt in Papierformulare, die später nochmal erfasst werden müssen. Diese Dialogfelder könnten auch Handlungsanweisungen zur Ausbesserung kleiner Defekte geben oder mit einer exakten Problembeschreibung der Reparaturcrew helfen. Für verschiedenste Prozesse und Abläufe innerhalb der Anlage festgelegt, würden solche Vorgaben – falls die entsprechende IT-Infrastruktur zur Datenerfassung und -analyse existiert – aus vielen einzelnen Aufgaben in der Summe einen dynamischen Zwilling ergeben, der über die Arbeit der Betriebsmannschaft einen aktuellen Einblick in den Zustand und die Leistung der Anlage (inkl. Vormaterial und Zwischen-/Fertigproduktdisposition) erlaubt. Die effizientesten Prozesse und Abläufe könnten nach dem Prinzip der Best Practice für andere Standorte standardisiert vorgegeben werden. So ermöglicht der dynamische digitale Zwilling schnelle Verbesserungen im Konkreten, sprich auf dem Shopfloor.

Digital Twin funktioniert nur mit Einbindung der Mitarbeiter

In der Chefetage jedes Chemiekonzerns sind nun vor allem drei Fragen zu beantworten. Erstens ist zu klären, ob es sinnvoller ist, mit einem dynamischen oder einem statischen digitalen Zwilling zu beginnen. Wer bereits viele Daten digitalisiert und zahlreiche operative Abläufe optimiert hat, sollte besser die ganze Anlage in einem statischen Digital Twin abbilden. Andere setzen zunächst auf die raschen Effizienzeffekte kleiner Verbesserungen mit einem dynamischen digitalen Zwilling. Zweitens muss eine (IT-)Strategie gefunden werden, die gewährleistet, dass sich unabhängig vom Ausgangspunkt der statische und der dynamische Zwilling später verschmelzen lassen. Erst diese Integration erlaubt es, irgendwann das volle Potenzial des Digital-Twin-Konzepts auszuschöpfen. Hier ist es sinnvoll, über eine API-zentrierte (Cloud-)Architektur eine skalierbare IT mit einer analytischen Modell- und Prozessbibliothek sowie Schnittstellen in jede Richtung zu schaffen, um abgeschottete Datensilos zu vermeiden. Drittens muss nicht nur in die IT-Ausstattung – von der zentralen Digital-Twin-Software bis zu den mobilen Endgeräten für die Werksmitarbeiter – investiert werden, sondern auch in Qualifizierung und Motivation der Beschäftigten. Sie müssen in die Lage versetzt werden, digitale Geräte zu bedienen sowie deren Handlungsanweisungen zu folgen, ohne den Anspruch, dass alle Mitarbeiter Data Scientists werden. Die Geräte inkl. der Technologie dahinter sollte als Beitrag zur Sicherung von Arbeitsplätzen durch Effizienzsteigerungen kommuniziert und verstanden werden – statt als Rationalisierungsinstrument und Jobgefahr. Erst wenn dies nachhaltig gelingt, lassen sich Statik und Dynamik, Topfloor und Shopfloor, Anlagenplanung und Anlagenbetrieb in Einklang bringen – und die Möglichkeiten nutzen, die der Digital Twin verspricht.

Digitaler Zwilling

Der Digital Twin erfordert diszipliniertes Arbeiten mit gemeinsamen Daten.

Gemeinsame Stammdaten: Alle Systeme verwenden die gleichen Stammdaten, etwa bei IDs oder technischen Spezifikationen. Das Kernsystem kann nur durch spezielle Systeme ergänzt werden, die sich über entsprechende Schnittstellen anschließen und so integrieren beziehungsweise synchronisieren lassen.

Gemeinsame Datenbank: Alle Abteilungen arbeiten mit und in zentral gespeicherten Informationen bzw. Dokumenten. Änderungen werden automatisch für jedes damit zusammenhängende Dokument übernommen. Kommunikation und Synchronisation laufen via Workflow-Tools, nicht per E-Mail oder Telefon.

Gemeinsame Werkzeuge: Für Betrieb und Wartung werden die gleichen Werkzeuge genutzt wie zur Entwicklung und Projektsteuerung – von internen Spezialisten ebenso wie von externen Dienstleistern. Alle arbeiten mit aktuellen Informationen aus der gemeinsamen Datenbank, wo stets tagesaktuelle Dokumente zu finden sind.

 

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