Anlagenbau & Prozesstechnik

Anerkannte Regeln der Technik

125 Jahre VDI-Richtlinien

21.06.2011 -

Anerkannte Regeln der Technik bilden die Basis für die Arbeit des Ingenieurs und Technikers und auch des Betreibers von Anlagen. Dennoch herrscht viel Unwissen darüber, welche Bedeutung anerkannte Regeln der Technik - speziell auch im Kontrast zu anderen „technischen Regeln" - haben. Diese Bedeutung in ein etwas klareres Licht zu rücken ist das Ziel dieses Beitrags.

Wer sind die Menschen, die „anerkannte Regeln der Technik" machen?
Albert Einstein sagte, er habe, als er die Relativitätstheorie veröffentlichte, „auf den Schultern von Riesen" gestanden. Damit würdigte er die Vorarbeit anderer großer Physiker, auf deren Arbeit seine aufbaute. Sich auf die Schulter von Riesen stellen kann jeder, der an VDI-Richtlinien mitarbeitet: Rund 10000 ehrenamtlich tätige Experten arbeiten derzeit in mehr als 500 Ausschüssen an VDI-Richtlinien. Sie alle tun das, weil sie es vorziehen, die Technik der Gegenwart und der Zukunft in freiwilliger Selbstverwaltung prägend mitzugestalten, anstatt technische Regelsetzung - Normung - zu erleiden.
Lassen Sie uns etwas in die Geschichte schauen: Der VDI Verein Deutscher Ingenieure e. V. wurde 1856 in Alexisbad als eine Vereinigung gegründet, die sich insbesondere folgenden Zielen widmete:

  • dem Zusammenwirken aller geistigen
  • Kräfte der Technik im Bewusstsein ethischer Verantwortung der Förderung technischer Forschung und Entwicklung
  • der Schaffung von anerkannten Regeln der Technik und von Prüfzeichen in freiwilliger Selbstverantwortung der Technik

Dieser Verein hat mittlerweile fast 139.000 persönliche Mitglieder. Das Wort „persönlich" ist so wichtig, weil es verdeutlicht, dass es sich nicht um Leute handelt, die anonym eintreten, „weil meine Firma Mitglied ist". Nein: Jede und jeder einzelne hat sich überzeugen lassen, dass die Mitgliedschaft für sie oder ihn das Richtige ist, und ist persönlich eingetreten.
Der VDI ist damit einer der größten technisch-wissenschaftlichen Vereine überhaupt und beansprucht mit gutem Recht für sich die Rolle des „Sprechers der Ingenieure und der Technik".
Im Oktober 1884, also vor ziemlich genau 125 Jahren, erschien die erste VDI-Richtlinie unter dem Titel „Grundsätze und Anleitung für die Untersuchung an Dampfkesseln und Dampfmaschinen zur Ermittlung ihrer Leistungen" und brachte eine Entwicklung in Gang, als deren Folge heute etwa 1.800 VDI-Richtlinien zu den verschiedensten Themen vorliegen. Diese Richtlinien, erarbeitet von ehrenamtlichen Fachleuten im Verein Deutscher Ingenieure, genießen jedoch nicht nur in ihrem Heimatland große Anerkennung, sondern - abhängig vom jeweiligen Fachgebiet - weltweit.
Zurück zur Frage: „Wer sind die Menschen...?" Ich behaupte, dass in den VDI-Richtlinienausschüssen die besten und am besten informierten Fachleute der Branche arbeiten, und das lässt sich argumentativ gut vertreten: Durch ihre Mitarbeit in VDI-Ausschüssen sind sie im ständigen Kontakt mit anderen motivierten, kompetenten Fachleuten, auf dem Laufenden über neue technische Entwicklungen und haben ein fachliches und soziales Netzwerk in der Branche, das man nirgends sonst in dieser Form findet.

Erfolgsstorys
VDI-Richtlinien sind insgesamt eine Erfolgsstory, und ich möchte das Jubiläum nutzen, um Ihnen Erfolgsstorys einzelner, ausgezeichneter Richtlinien zu berichten, aber auch um Ihnen einige Dinge nahe zu bringen, von denen ich sicher bin, dass viele von Ihnen sie sich in dieser Schärfe nicht klar gemacht haben.
Eine der erfolgreichsten Richtlinien aller Zeiten ist VDI 6022 über die Hygiene bei raumlufttechnischen Anlagen. Dieser Richtlinie verdanken wir es, dass das Sick Building Syndrome zu Recht einen englischen Namen trägt und nicht etwa „Krankes-Gebäude-Effekt" heißt: Krank durch die Klimaanlage - das gibt es bei einer nach dem Stand der Technik geplanten, gebauten und betriebenen Klimanlage, wie in VDI 6022 beschrieben, nicht.
Das System der VDI 6022 ist geschlossen, das heißt: Neben den Anforderungen an Planung, Bau und Betrieb enthält die Richtlinie auch Festlegungen für eine Schulung all jener Personen, die irgendwelche hygienerelevanten Arbeiten an raumlufttechnischen Anlagen vornehmen müssen. Die Qualität dieser Schulung wird von der VDI-Hauptgeschäftsstelle überwacht, so dass ein Mensch, der ein VDI-TGA-Zertifikat für eine Schulung nach VDI 6022 vorweist, mit großer Wahrscheinlichkeit die nötige Kompetenz vermittelt bekommen hat.
Von dieser Richtlinie wurden seit 1997 über 10.000 Exemplare verkauft, und jedes Jahr werden mehrere Hundert Menschen nach ihr geschult.
Eine weitere Erfolgsstory: Im Dezember 2007 erschien erstmalig der Entwurf VDI 4707 „Aufzüge
- Energieeffizienz". Das Verfahren rief auf dem Markt die klassischen Reaktionen hervor, wie Sie der schottische Biologe John Burdon Sanderson Haldane 1963 für wissenschaftliche Theorien postulierte:

  • Phase 1: Das ist völliger Schwachsinn!
  • Phase 2: Das ist interessant, aber pervers.
  • Phase 3: Das kann schon sein, ist aber nicht so wichtig.
  • Phase 4: Das habe ich immer schon gesagt.

VDI 4707 begegnete am Markt zunächst erheblichem Widerstand, der sich nicht zuletzt in massiven Einsprüchen gegen den Entwurf äußerte, teilweise mit dem Tenor „Die Richtlinie braucht kein Mensch!"
Der Ausschuss hat den Dialog mit den Einsprechern gesucht und sich der Einsprüche ernsthaft angenommen. Als Ergebnis wurde ein Weißdruck veröffentlicht, der mittlerweile die Basis für ein Energielabelling von Aufzügen durch eine Vielzahl von Prüfinstituten und Dienstleistern bildet. Inzwischen berichten uns die TÜVs, dass sie auf ausdrücklichen Wunsch der Betreiber sogar in Nordamerika und Asien nach VDI 4707 Blatt 1 Aufzüge mit einem Energielabel versehen.
Eine weitere Erfolgsrichtlinie ist die VDI 2083, die deutsche Richtlinie zur Reinraumtechnik. Gestartet in den 1970er Jahren mit einem Blatt, welches national die Luftreinheitsklassen festlegte, hat die Richtlinie mittlerweile fast 20 Blätter zu einer Vielzahl von Aspekten der Reinraumtechnik (siehe Tabelle).
Die Fachleute, die die VDI 2083 erarbeitet haben, waren rührig: Sie brachten die Richtlinie in die ISO- und CEN-Arbeit ein, als man anfing die Reinraumtechnik-Normung zu internationalisieren. Der Erfolg liegt auf der Hand: Überall in ISO 14644 ist der Fußabdruck der VDI 2083 zu erkennen. Was diese prägende Arbeit von Leuten wie „Reinraumpapst" Dr. Lothar Gail, aber auch weiteren Experten wie (Ich nenne stellvertretend nur die prominentesten Streiter und ziehe mich auf eine alfabetische Reihung zurück.) Prof. Gernod Dittel, Dr. Berthold Düthorn, Dr. Udo Gommel, Andreas Machmüller, Norbert Otto, Dr. Horst Weißsieker für die deutsche Reinraumtechnik-Branche gebracht hat, vermag ich kaum abzuschätzen.
Wenn man sich die Gegenüberstellung VDI/ISO anschaut, sieht man, dass Deutschland in der Reinraumtechnik der ISO und dem CEN immer noch um Jahre voraus ist. Doch genug des Eigenlobs.

Was ist eine „anerkannte Regel der Technik"?
VDI-Richtlinien haben im deutschen Rechtssystem denselben Status wie DIN-Normen, nämlich den der sogenannten anerkannten Regel der Technik. Man kann daher, auch wenn die VDI-Kollegen das teilweise nicht gerne hören, auch mit gutem Recht von einer „VDI-Norm" sprechen. (Vielleicht sollte man aber lieber von „DIN-Richtlinien" reden, denn - den VDI und die VDI-Richtlinien gibt es deutlich länger.)
VDI-Richtlinien entstehen in Ausschüssen ehrenamtlicher Fachleute unter der Betreuung durch die VDI-Geschäftsstelle in Düsseldorf. Die ehrenamtlich tätigen Fachleute - Leute, die in ihren jeweiligen Branchen hohes Standing haben - bringen das Fachwissen ein, und die hauptamtlichen VDI-Mitarbeiter aus Düsseldorf organisieren die Arbeit und sorgen dafür, dass den entstehenden Papiere der Status „anerkannte Regel der Technik" unterstellt wird, weil nämlich das Verfahren ihrer Erarbeitung bestimmten Spielregeln gehorcht, die sicherstellen sollen, dass die entstehende Richtlinien unabhängig von Partikularinteressen sind und nach der Meinung der Mehrheit der Fachleute den Stand der Technik beschreiben.
Um dies zu erreichen ist es nötig, die gesamte Öffentlichkeit - meist die Fachöffentlichkeit - in die Erarbeitung einzubinden. Dies geschieht über das Einspruchsverfahren: Jeder Mensch kann während der Einspruchsfrist seine Stellungnahme zum Richtlinienentwurf abgeben, und der Richtlinienausschuss ist verpflichtet, sich mit diesen Einsprüchen ernsthaft auseinanderzusetzen und die Einsprecher darüber zu unterrichten, wie er mit den Einsprüchen umgehen wird.
Man sieht dies auch an einem kleinen Detail, dass selbst die meisten aufmerksamen Leser von Richtlinien so nicht wahrnehmen: In den meisten Entwürfen von VDI-Richtlinien, den sogenannten Gründrucken, steht eine Liste der an der Erarbeitung beteiligten Fachleute. Bei endgültigen Fassungen der Richtlinien - Weißdrucken - fehlt diese Liste. Dies bekräftigt die Aussage, dass der Entwurf das Werk eines kleinen Autorenkreises von Fachleuten war; die Endfassung jedoch ist durch die Beteiligung der gesamten Öffentlichkeit über das Einspruchsverfahren eine anerkannte Regel der Technik und nicht mehr das Werk weniger.
An den vier kurzen Worten „anerkannte Regel der Technik" hängt eine Menge:

  • Haftung
  • implizite Geltung bei Verträgen
  • Fortbildungsgebot für Fachleute

Über Haftung muss ich nicht viel erklären. Die implizite Geltung ist interessant: Auch wenn bei Vertragsabschluss für eine Ingenieurleistung nichts über die jeweils geltenden VDI-Richtlinien gesagt wird, gelten diese a priori. Warum? Weil der Fachmann nach dem Grundsatz von Treu und Glauben verpflichtet ist, seinem Kunden eine Leistung nach dem Stand der Technik zu liefern, auch wenn der Kunde - meist ist er ja Nicht-Fachmann - diesen nicht kennt.
Das Fortbildungsgebot für Fachleute ist nicht minder spannend: Ebenfalls nach dem zitierten Grundsatz von Treu und Glauben darf ein Laie davon ausgehen, dass ein Mensch, der sich ihm als Fachmann vorstellt - sei es durch einen Briefkopf, durch die Aufschrift auf seinem Firmenwagen o. ä. - auch ein Fachmann ist. Ein Fachmann muss aber - das haben Gerichtsurteile bestätigt - die anerkannten Regeln der Technik in seinem Fachgebiet kennen. Da nun die anerkannten Regeln der Technik einer rasanten Entwicklung unterliegen -

  • durch Fortentwicklung der Technologie selber,
  • durch Aktualisierung der technischen Regeln,
  • durch Globalisierung von Märkten

- ist der „Fachmann" verpflichtet, sich ständig fortzubilden. Ansonsten läuft er Gefahr sich im Gestrick der ihm nicht bekannten Regeln zu verfangen.

Globalisierung
Greifen wir das Stichwort der Globalisierung von Märkten auf!
Immer wieder hört man Geschimpfe auf „den Unsinn, der da aus Brüssel kommt". Stimmt: Manches, was da von der EU und auch vom CEN kommt, kann uns gar nicht Recht sein, selbst dann nicht, wenn es eine der positiven, gewollten Folgen ist, dass technische Handelshemmnisse an den Ländergrenzen zunehmend wegfallen.
DIN-Normen und VDI-Richtlinien haben denselben Status. Das bedeutet, dass DIN-Normen ebenfalls anerkannte Regeln der Technik sind - und mit ihnen auch DIN-EN- und DIN-EN-ISO-Normen.
Nun kommt es oft vor, dass europäische Normen in Gremien erarbeitet werden, in denen - z. B. aus Geld-, Zeit- oder Interessenmangel bei den betroffenen Firmen - keine deutschen Fachleute mitgearbeitet haben. Dann wird auf dem deutschen Markt einem Papier der Status „anerkannte Regel der Technik" unterstellt, in das der deutsche Standpunkt möglicherweise gar nicht eingeflossen ist. Und dann kommt wieder das oben zitierte Geschimpfe.
Auf der anderen Seite ist es natürlich für das Vorhandensein eines gemeinsamen Markts zwingend erforderlich, dass sich die Beteiligten verpflichten, nach denselben Standards zu arbeiten.
In dieser Situation kann es hilfreich für die deutsche Wirtschaft und die Fachleute der Branche sein, dass der VDI nicht, wie das DIN, durch eine Stillhalteverpflichtung daran gehindert wird, technische Regeln zu Themen zu erarbeiten, an denen im CEN gearbeitet wird. Eine VDI-Richtlinie kann - und tut es oft - praxisrelevante Erläuterungen, Interpretationshilfen und Zusatzinformationen zu europäischen und internationalen Normen liefern. Das Gesamtwerk aus EN-Norm und VDI-Richtlinie kann dann tatsächlich wieder den Stand der Technik in Deutschland beschreiben.
Ebenso kommt es gar nicht so selten vor, dass sich Fachleute im VDI treffen und eine VDI-Richtlinie entwickeln, die dann als Vorlage für eine europäische oder internationale Norm dient. Dies wird ganz maßgeblich dadurch erleichtert, dass VDI-Richtlinien, sobald sie als Weißdrucke vorliegen, zweisprachig deutsch/englisch erscheinen.
Die Zweisprachigkeit hat noch einen zweiten Nutzeffekt, den deutsche Ingenieure im Ausland zu schätzen wissen: Englisch ist - wie Latein im Mittelalter - die „Lingua Franca" der Neuzeit. Mit der zweisprachigen VDI-Richtlinie im Handgepäck hat der Ingenieur eine hervorragende Verständigungshilfe für seine Gespräche im Ausland.

Machen Sie mit!
Ich schließe meine Ausführungen mit einem leidenschaftlichen Appell an Sie: Die technische Regelsetzung im DIN und im VDI ist eine Möglichkeit, prägend die Technik um uns herum zu gestalten. Die Fachleute können durch sie in eigener Verantwortung an Stellen regulierend tätig werden, an denen sonst der Staat eingreifen müsste.

 

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