Indische Pharmaindustrie auf Expansionskurs
Reform des Patentrechts bewirkt Umbruch am indischen Pharmamarkt
Die indische Pharmaindustrie rückte 2001 ins Blickfeld der Öffentlichkeit, als das zweitgrößte indische Pharmaunternehmen Cipla Ländern in Afrika ein AIDS-Präparat für 300 US-$ anbot, das in den USA 12.000 US-$ kostet. Dies war möglich, da das indische Unternehmen eine „All-in-one-Generika-Pille" herstellte, die alle drei Wirkstoffe für eine AIDS-Behandlung enthielt. Diese Art der Herstellung ist andernorts bedeutend schwieriger, weil die Patente dafür von drei verschiedenen Unternehmen gehalten werden. Letztlich beruhte der Preisverfall also auf dem laxen Patentrecht in Indien.
Weil es in Indien von 1970 bis 2005 keinen wirksamen Patentschutz gab, kopierten viele indische Pharmahersteller teure Originalpräparate von ausländischen Herstellern und produzierten sie mit Hilfe alternativer Herstellungsverfahren. Dies war kostengünstiger als die teure Entwicklung von Originalpräparaten, denn letztlich entfiel das finanzielle Risiko der eigenen Forschung. Dieser Ausgabenblock kann bei einem Medikament bis zu 600 Mio. € erreichen. Solche Mittel konnten bislang nur von großen Konzernen in den Industrieländern aufgebracht werden. Die Wettbewerbsfähigkeit der Generikahersteller wird durch eine kosteneffiziente Produktion bestimmt, bei der indische Unternehmen derzeit die Nase vorn haben. Demzufolge ist Indiens Weltmarktanteil am Generikamarkt mit einem Fünftel merklich höher als in der Pharmaindustrie insgesamt (rund 2%). Daher wird Indien auch als „Apotheke der Armen" bezeichnet. Dies ist nicht zuletzt für den heimischen Markt wichtig, denn etwa 140 Mio. von insgesamt 192 Mio. indischen Haushalten haben nicht mehr als 1.900 € pro Jahr zur Verfügung und können sich somit teure westliche Präparate nicht leisten.
Neues Patentrecht seit 2005
Seit einigen Jahren befindet sich die indische Pharmaindustrie im Umbruch. Maßgeblich dafür war vor allem die Änderung des Patentrechts 2005. Zuvor galt, dass nicht der Wirkstoff selbst, sondern lediglich das Herstellungsverfahren für sieben Jahre patentiert werden konnte. Wegen dieser indischen Patentschutzgesetzgebung kam es früher immer wieder zu Streitigkeiten mit großen westlichen Pharmaunternehmen, vor allem aus den USA. Nunmehr unterliegt die Branche - wie international üblich - Produkt- und Prozesspatenten mit einer Laufzeit von 20 Jahren.
Von 1996 bis 2006 nahm der nominale Pharmaumsatz des Subkontinents um jährlich 9% zu und expandierte damit merklich schneller als der Weltpharmamarkt insgesamt (+7%). Die indischen Unternehmen bauten ihre Kapazitäten kräftig aus und machten das Land weitgehend zum Selbstversorger. Dennoch kommt Indien mit einem Branchenumsatz von rd. 10 Mrd. € lediglich auf einen Anteil am Weltpharmamarkt von knapp 2% (1996: 1,5%). Das Land rangiert damit international auf Platz 12, noch hinter Korea, Spanien und Irland und vor Brasilien, Belgien und Mexiko. In Asien belegt die indische Pharmaindustrie mit 8% zwar den vierten Platz, verlor aber Marktanteile an China, weil das Umsatzwachstum dort fast doppelt so hoch und das Umsatzvolumen nahezu viermal höher war als in Indien.
Die indische Pharmabranche besteht aus insgesamt etwa 20.000 lizenzierten Unternehmen mit ca. 500.000 Beschäftigten. Neben vielen Kleinstfirmen sind darunter auch international bekannte Unternehmen wie Ranbaxy, Cipla oder Dr. Reddy's. Ranbaxy ist mit einem Umsatz von rd. 1 Mrd. € inzwischen weltweit der siebtgrößte Generikahersteller. Das wichtigste Segment auf dem Inlandsmarkt sind derzeit Infektionsmittel mit einem Umsatzanteil von einem Viertel. Es folgen Herz-/Kreislauf-Präparate, Pharmazeutika zur Bekämpfung von Erkältungskrankheiten und schmerzstillende Medikamente mit je einem Zehntel. Demgegenüber haben Arzneien gegen Zivilisationskrankheiten (u.a. Diabetes, Asthma, Übergewicht) und so genannte Lifestyle-Drugs wie Anti-Depressiva, Entwöhnungsmittel für Raucher und Anti-Falten-Mittel zurzeit nur eine geringe Bedeutung. Insgesamt stellt die indische Pharmaindustrie etwa 70.000 verschiedene Medikamente her, also mehr als in Deutschland produziert werden (60.000).
Verglichen mit den großen Industriestaaten ist die Bedeutung der indischen Pharmaindustrie - trotz der hohen Wachstumsraten - noch immer sehr gering. In den USA ist der Umsatz um den Faktor 14, in Japan fünfmal und in Deutschland viermal höher. Noch eindrucksvoller ist der Abstand des Pro-Kopf-Umsatzes. In den westlichen Industrieländern kommt er im Durchschnitt auf gut 400 € jährlich, das ist etwa 40-mal mehr als in Indien.
Wachstum durch höhere Bevölkerungszahlen
Hohe Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, eine steigende Bevölkerungszahl und als Folge aus den ersten beiden Faktoren eine zunehmende Mittelschicht sind die Treiber des indischen Pharmamarktes. Einen starken Schub erhält die Pharmabranche in Indien von der Bevölkerungsentwicklung. Nach Schätzungen der UN dürfte die Bevölkerungszahl von derzeit 1,1 Mrd. bis 2020 auf 1,4 Mrd. zunehmen. Bis 2020 kommen also so viele Menschen in Indien hinzu wie heute in Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien leben. 2025 dürfte Indien sogar China als bevölkerungsreichstes Land der Erde abgelöst haben. Der Zuwachs resultiert nicht zuletzt aus der höheren Lebenserwartung. Dies ist u.a. auf eine verbesserte Gesundheitsvorsorge zurückzuführen. Noch liegt die durchschnittliche Lebenserwartung in Indien freilich deutlich unter jener in westlichen Ländern. Während sie bei Männern in Indien 64 und bei Frauen 66 Jahre beträgt, kommt sie z.B. in Deutschland auf 76 bzw. 82 Jahre.
Die Alterung der indischen Gesellschaft bietet erhebliche Marktchancen. Nach einer Schätzung der UN dürfte der Anteil der über 65-Jährigen an der Bevölkerung von derzeit 5 auf 8% im Jahr 2025 steigen. Das wären dann etwa 55 Mio. über 65-Jährige mehr als heute. Entsprechend werden auch typische altersbedingte Krankheiten wie Krebs und Herz-/Kreislauferkrankungen zunehmen. Impulse erhält die Branche auch von der allmählichen Verbreitung von Zivilisationskrankheiten wie Übergewicht und Diabetes.
Entwicklung „originärer" Medikamente nimmt zu
Seit 2005 wird die indische Pharmaindustrie nicht mehr durch das laxe Patentrecht geschützt. Innovation muss daher nun vor Imitation stehen. Große Hersteller haben schon seit einiger Zeit ihre Geschäftsmodelle angepasst und die Arzneimittelforschung forciert. Sie wollen sich auf Dauer nicht darauf beschränken, nur billige Generika zu produzieren. Zwar ist eine Reihe von Unternehmen im Generikamarkt gut aufgestellt, viele von ihnen wollen jedoch zu forschungsbasierten Unternehmen reifen. Allerdings sind die Hersteller in diesem Segment einem starken internationalen Wettbewerb ausgesetzt. Bis Indien mit patentgeschützten Erzeugnissen zu einem ernsthaften Konkurrenten für westliche Pharmakonzerne wird, dürften daher noch viele Jahre vergehen. Beim Arzneimittelhersteller Ranbaxy sollen gemäß Unternehmensangaben 2012 etwa 40% des Umsatzes aus Eigenentwicklungen stammen, was aber noch um etwa ein Zehntel niedriger wäre als bei ähnlich großen westlichen Pharmaunternehmen. Um die Entwicklungsgeschwindigkeit zu erhöhen und das finanzielle Risiko zu teilen, dürfte es häufiger zu strategischen Allianzen zwischen indischen und ausländischen Unternehmen kommen.
Die führenden indischen Unternehmen geben inzwischen zwar knapp ein Zehntel ihrer Einnahmen für Forschung und Entwicklung aus, doch liegt die Quote bei großen westlichen Unternehmen bei 20%. Dr. Reddy's startete schon 1994 ein Programm für die Grundlagenforschung, gefolgt von Ranbaxy und Wockhardt 1997. Im letzten Jahr waren immerhin zwölf Unternehmen in der Erforschung neuer Wirkstoffe engagiert. Dabei konzentrieren sie sich auf Medikamente gegen Malaria und AIDS, weil in diesen Segmenten das Nachfragepotential sehr hoch ist.
115.000 neue Chemiker pro Jahr
Das trotz der niedrigen Lohnkosten hoch qualifizierte Personal der indischen Pharmaindustrie ermöglichte schon relativ früh, qualitativ hochwertige Produkte zu wettbewerbsfähigen Preisen anzubieten. Etwa 115.000 Chemiker schließen in Indien jährlich ihr Studium mit einem Diplom ab und etwa 12.000 mit einem Doktortitel. Demgegenüber liegen die Zahlen in Deutschland mit knapp 3.000 bzw. 1.500 deutlich darunter. Nachdem in den vergangenen Jahren viele Chemiker aus Indien ins Ausland abgewandert sind, schätzen sie inzwischen ihre Entwicklungsmöglichkeiten im Heimatland immer besser ein, so dass in den kommenden Jahren weniger ins Ausland gehen oder sogar aus dem Ausland in ihr Heimatland zurückkehren werden.
Attraktiver Standort für klinische Studien
Trotz der Nachteile in einigen Gebieten spielen die indischen Pharmaunternehmen ihre Wettbewerbsvorteile gegenüber den traditionellen Herstellern in den westlichen Industrieländern aus. Die Lohnkosten der indischen Pharmaindustrie liegen bei etwa 30% des europäischen Niveaus bzw. 20% im Vergleich zu den USA. Insgesamt ist in Indien die Pharmaproduktion um bis zu 50% billiger als in westlichen Industrieländern. Für internationale Pharmaunternehmen ist der Forschungsstandort Indien in erster Linie wegen der niedrigen Entwicklungskosten attraktiv. Klinische Tests können leichter durchgeführt werden und bringen häufig sogar genauere Ergebnisse. Dies liegt daran, dass sich in Indien dank der höheren Bevölkerungszahl deutlich mehr geeignete Testpersonen finden lassen als im Westen. Medikamente werden für den Markt erst dann zugelassen, wenn sie in einer Reihe von Tests am Menschen erfolgreich erprobt wurden. Dazu brauchen die Unternehmen in der Regel mehrere Tausend Personen pro Medikament. Dies bedeutet, dass sich etwa 100.000 Freiwillige einer Voruntersuchung unterziehen müssen. Oft sind Medikamentenhersteller im Westen gescheitert, weil ihre Testpersonen schon eine Reihe anderer Medikamente einnahmen, so dass sich die Wirkung des neuen Mittels kaum nachweisen ließ. Zudem springen hier etwa 40 bis 70% der Probanden wieder ab. Demgegenüber melden die Firmen in Indien für ihre Testpersonen eine Durchhaltequote von weit über 90%, nicht zuletzt weil mit der Teilnahme an dem Test eine Verbesserung ihrer Einkommen verbunden ist. Allerdings könnte hier ein Problem entstehen, wenn ethische Gesichtspunkte mehr und mehr an Bedeutung gewinnen, weil Nebenwirkungen aufgrund des relativ hohen monetären Anreizes zu wenig Beachtung geschenkt wird.
Bereits mehrere große internationale Unternehmen haben Indien als Standort für klinische Studien entdeckt. Eli Lilly führt derzeit in Indien mehrere Projekte durch, Pfizer testet dort Medikamente gegen Malaria. Der Markt für Auftragsforschung könnte in Indien bis 2010 knapp 2 Mrd. € erreichen, gegenüber 600 Mio. € im Jahr 2006. Insgesamt dürfte der Weltmarkt für Auftragsforschung von zuletzt 8 Mrd. € bis 2010 auf 20 Mrd. € zulegen.
Auftragsproduktion gewinnt an Bedeutung
Lukrative Geschäftschancen sehen die indischen Unternehmen auch in der Auftragsproduktion für internationale Pharmakonzerne. Die Kapazitäten dafür stehen nach dem massiven Ausbau der Anlagen für die Generikaproduktion weitgehend zur Verfügung. Schon heute produziert z.B. Ranbaxy für die deutschen Unternehmen Hexal und Ratiopharm. Nach einer Analyse der India Brand Equity Foundation (IBEF) beläuft sich die gesamte Auftragsproduktion weltweit auf ein Volumen von ca. 25 Mrd. €, das bis zum Jahr 2010 auf etwa 40 Mrd. € steigen dürfte. Das Wachstum wird vor allem von der Produktionsverlagerung für solche Präparate getragen, deren Patentschutz bald ausläuft. Der Bau einer Pharmafabrik ist in Indien um rd. 40% günstiger als in Europa oder den USA und die Produktionskosten von Pharmazeutika sind deutlich niedriger. Diese Kostenvorteile bedeuten auch für westliche Firmen starke Anreize zur Verlagerung.
Für westliche Pharmaunternehmen ist der indische Markt nach der Verbesserung des Patentschutzes und des Kapitalschutzes wieder attraktiv geworden. Nach Auskunft der Deutsch-Indischen Handelskammer haben sich bereits 20 deutsche Pharmaunternehmen in Indien engagiert.
Zunehmende Investitionen im Ausland
In den kommenden Jahren dürfte sich die Expansion indischer Pharmaunternehmen ins Ausland fortsetzen. Ein Beispiel für die globale Ausrichtung von indischen Pharmaunternehmen ist Ranbaxy. Die Firma exportiert mittlerweile in 125 Länder, unterhält Niederlassungen in knapp 50 Staaten und hat Produktionsanlagen in mehr als zehn Ländern. Die USA sind inzwischen zum wichtigsten Markt für das Unternehmen geworden. Zuletzt erzielte es dort schon knapp 30% seiner Umsätze und in Europa knapp 20%. Insgesamt macht das Unternehmen ca. 80% seines Umsatzes im Ausland.
In den vergangenen Jahren hat z.B. Ranbaxy Unternehmen in Rumänien, Belgien, Italien und Frankreich erworben und will bis zum Jahr 2012 zum fünftgrößten Generikahersteller weltweit aufsteigen. Wockhardt engagierte sich in Deutschland und Großbritannien sowie Candila in Frankreich. Anfang 2006 kaufte Dr. Reddy's für knapp 500 Mio. € das deutsche Generikaunternehmen Betapharm.
Der deutsche Markt ist deswegen für indische Unternehmen so attraktiv, weil die Generikapreise im internationalen Vergleich relativ hoch sind. Im Vergleich zu Großbritannien kostet ein Generikum in Deutschland fast 50% mehr. So verwundert es nicht, dass die Inder den lukrativen deutschen Markt nicht allein großen deutschen Generikaherstellern wie Ratiopharm, Hexal und Stada überlassen wollen.
Prognose für die indische Pharmaindustrie bis 2015
Insgesamt rechnet DB Research für Indien mit einer Zunahme des Pharmaumsatzes zwischen 2006 und 2015 um jährlich 8% auf knapp 20 Mrd. €. Die Wachstumsrate ist zwar höher als die für Deutschland (+5% p.a.) und für die Welt insgesamt (+6%). Dennoch nimmt der Anteil Indiens am Umsatz des Weltpharmamarktes nur marginal auf gut 2% zu.
Das Wachstum der pharmazeutischen Industrie in Indien und damit der Anteil an der Weltpharmaindustrie könnte sogar noch etwas höher ausfallen, wenn die Infrastrukturprobleme rasch beseitigt werden können. Weil die chinesische Pharmaindustrie und die Branche in Singapur auch in Zukunft ein weit höheres Wachstum aufweisen dürften, verliert Indien in Asien sogar Marktanteile.
Insgesamt kommt der Pharmaanteil an der Gesamtchemie in Indien 2015 auf etwa 17% (2006: 18%), gegenüber 28% in Deutschland (24%); für die Welt insgesamt dürfte die Quote nur geringfügig unter dem deutschen Niveau liegen (25%).
Obwohl die Pharmaindustrie in Indien stark wächst, kann der Bedarf der Bevölkerung nicht in allen Segmenten aus eigener Produktion gedeckt werden. Die gesamten Pharmaimporte des Landes haben gegenwärtig mit 1,5 Mrd. € eine Größenordnung wie der gesamte Pharmamarkt Norwegens. Die Einfuhren dürften auch künftig weiter zunehmen.