Logistik & Supply Chain

Vermeiden, beherrschen, akzeptieren

Strukturierter Umgang mit Risiken in der Supply Chain erhöht Versorgungssicherheit

16.11.2009 -

Seit der Krise an den Weltfinanzmärkten ist das Thema Risikomanagement der Banken in aller Munde. Doch wie sieht es in der Chemieindustrie aus? In den einzelnen Produktionsanlagen hat die Risikovermeidung sicherlich Top-Priorität, doch im Supply Chain Management ergibt sich rasch ein anderes Bild. Branchenspezifisch ist hier der Vernetzungsgrad außerordentlich hoch. Wenn dann plötzlich strategische Supplier ausfallen, kann das einen gewaltigen Dominoeffekt auslösen. Beispielsweise führte der Störfall im Atomkraftwerk Krümmel vor einigen Monaten bei Bayer Material Science zu einer „Force Majeure", weil der plötzliche Spannungsabfall wichtige Anlagenteile im nahe gelegenen Werk beschädigte. Ähnliche Erfahrungen dürfte wohl schon jedes Chemieunternehmen gemacht haben. Umso erstaunlicher ist es, dass das Supply-Chain-Risikomanagement (SCRM) oft eher ereignis- statt prozessgetrieben ist. Dabei beginnt SCRM bereits beim Supply Chain Design, wie das erste unserer beiden Beispiele aus dem Bereich Transportlogistik zeigt:

Supply Chain - Risikomanagement by Design


Das Beispiel steht im Zusammenhang mit den Bayer-Investitionen der vergangenen Jahre in World-Scale-Produktionsanlagen in China. Die meisten Einsatzstoffe werden hier mit Schiffen zu einem Schiffsanleger transportiert, den ein Logistikdienstleister betreibt. Von dort gelangen sie per Pipeline auf das Bayer-Werksgelände. Die Möglichkeiten für eine Störung der Rohstoffversorgung sind dabei vielfältig: Der Anleger, über den auch die anderen Firmen im Chemiepark mit Rohstoffen versorgt werden, ist blockiert, Schwankungen in der Schiffsgröße sorgen ggf. für eine Verringerung des Durchsatzes an den Entladestellen, und Taifune oder Nebel können das Anlegen der Schiffe gänzlich verhindern. Dies ist nur ein kleiner Auszug aus der Liste der im Projekt berücksichtigten Risiken. In derart komplexen Situationen lässt sich das Gesamt­risiko einer unterbrechungsfreien Rohstoffversorgung nicht einfach durch die Summation der Einzelrisiken ermitteln. In unserem Projekt entschieden wir uns für die Methode der ereignisdiskreten Simulation, um die Abhängigkeit der Einzelrisiken untereinander und ihre Überlagerung zu quantifizieren. Die Simulationsergebnisse dienten schließlich dazu, die zur Absicherung der Rohstoffversorgung notwendigen Puffertanks geeignet zu dimensionieren.

Operatives Risikomanagement mithilfe aktueller Netzwerkmodelle


Im zweiten Beispiel war kurzfristig die Frage zu beantworten, wie trotz der plötzlichen Nichtverfügbarkeit eines Tanklagers in Straßburg die Marktversorgung in Süddeutschland und Frankreich sichergestellt werden könne. Als naheliegende Lösung bot sich an, die Belieferung umzustellen vom multimodalen Transport per Schiff über den Rhein bis Straßburg mit anschließender Zulieferung per Tanklastzug und stattdessen auf Direktlieferungen vom Produktionswerk zu den Kunden per Lkw überzugehen. Die zu erwartenden Kosten für dieses Szenario zu bewerten, war dabei der einfache Teil der Aufgabe. Doch welche Auswirkungen auf die Lieferzeit würde die Umstellung haben? Und standen überhaupt hinreichende Abfüll- und Transportkapazitäten zur Verfügung?
Mithilfe eines detaillierten mathematischen Modells des Distributionsnetzwerkes gelang es innerhalb ­kürzester Zeit, die technische Machbarkeit der Direktlieferungen zu ­verifizieren und darüber hinaus die resultierende Verlängerung der Lieferzeiten zu quantifizieren. Letztere bewegte sich in einem für die Kunden akzeptablen Rahmen, womit die Lösung gefunden war. Ohne das bereits vorhandene, aktuelle Modell des Distributionsnetzwerkes wäre eine Bewertung des Lösungsvorschlags in dieser Tiefe und Geschwindigkeit nicht möglich gewesen.
Supply-Chain-Modelle haben sich im Risiko-Management sehr bewährt. Allerdings müssen die Modelle schon vor einer Störung zur Verfügung stehen und laufend à jour gehalten werden. Dann können auch bei unerwarteten Störungen schnell kostenoptimale Ausweichstrategien gefunden und bewertet werden.

Supply Chain Risk Management (SCRM): Mehr als nur Patchwork


Die beiden Beispiele spiegeln nur einen kleinen Ausschnitt unserer Projekterfahrungen wider. Erfahrungen, die eines zeigen: Risikomanagement in Supply Chain und Logistik der chemischen Industrie ist häufig ein Flickenteppich einzelner Maßnahmen. Nur allzu oft werden diese Maßnahmen leider erst nach einem Vorfall eingeleitet, um eine Wiederholung zu vermeiden. Einen umfassenden und zum Unternehmenswert beitragenden Supply-Chain-Risikomanagement-Prozess sieht man dagegen selten. Ein solcher Prozess sollte die folgenden Schritte beinhalten:

  • einen systematischen Ansatz zur Identifizierung möglicher Risiken,
  • eine objektive Abschätzung der Eintrittswahrscheinlichkeit, der Schadenshöhe und der Kosten von Vermeidungs- oder Ausweichstrategien sowie
  • den proaktiven Umgang mit den identifizierten Risiken („What can happen will happen!") durch die Umsetzung geeigneter risikomindernder Maßnahmen.

Die gute Nachricht: Um einen derartigen Risikomanagement-Prozess zu etablieren, startet man nicht bei null. Aufgrund gesetzlicher Vorgaben im Bereich von Finanzen und Controlling sind entsprechende Prozesse bereits etabliert. Hieran kann man sich orientieren, wenn es um den Aufbau eines SCRM-Systems inklusive der Definition von Prozessen, Organisation, Rollen und Verantwortlichkeiten geht.