Verkehrsinfrastruktur in der Diskussion
10.09.2019 -
Europa ist die Wiege des modernen Verkehrs: Kühne Seefahrer entdeckten neue Kontinente, Auto und Lokomotive prägten Epochen mit wachsendem Wohlstand. Doch seit einigen Jahren zeichnet sich ein negativer Trend ab: Europa kommt nicht voran mit der nationalen Umsetzung seiner Verkehrspolitik. Doch für die Wirtschaft ist ein reibungsloser Gütertransport essenziell. So beschreibt Frank Andreesen, Vorsitzender des VCI-Fachausschusses Verkehr, die Situation in einem Beitrag für den CHEManager. Die Verkehrsinfrastruktur ist entscheidend für den Industriestandort Deutschland und seine chemische Industrie. Außer den Straßen, Brücken und dem Schienennetz bereitet auch der Zustand der Binnenwasserstraßen – insbesondere der Schleusen – der Industrie aktuell große Sorgen.
Dazu haben wir Experten und Entscheider entlang der chemischen Lieferkette angesprochen und diese Fragen zur Diskussion gestellt:
➊ Wie beurteilen Sie grundsätzlich die Verkehrsinfrastruktur für Chemie- und Industriestandorte in Deutschland?
➋ Welche Verkehrsinfrastruktur-Probleme sehen Sie regional für Ihren Standort bzw. Ihre Standorte und wie wirken sich diese auf Ihr Geschäft bzw. Ihren Betrieb aus?
➌ Welche Verbesserungen wünschen Sie sich von der Politik in Bezug auf die regionale und überregionale Verkehrsinfrastruktur für Chemiestandorte?
Ein paar Antworten von den betroffenen Industriestandorten:
Ohne Sanierung der Wasserwege fällt die Wirtschaft ins Wasser
Jörg Harren, Standortleiter Chemiepark Marl, Evonik Technology & Infrastructure
➊ Die Rhein-Ruhr-Region ist mit über 10 Mio. Einwohnern einer der größten Ballungsräume Europas. Ihre ökonomische Bedeutung wird unterstrichen von der großen Anzahl hier ansässiger internationaler Unternehmen und starker Mittelständler. Darüber hinaus verfügt die Region über ein dichtes Netz von Universitäten und Hochschulen, das seinesgleichen sucht und Garant für Forschung und Entwicklung sowie für qualifizierte Fachkräfte ist. Dieses industrielle Zentrum darf nicht fahrlässig in Gefahr gebracht werden, indem dringend benötigte Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur verzögert werden.
Nur wenn die Infrastruktur und das Umfeld zukunftsfähig ausgebaut werden, kann den modernen Anforderungen starker Industriestandorte begegnet werden. Infrastrukturell lebt die Region seit vielen Jahren von der Substanz. Jeder weitere Aufschub bedroht Arbeitsplätze, den wirtschaftlichen Erfolg und die Chancen von ganz Nordrhein-Westfalen. Besonders der Sanierungsstau auf den Binnenwasserstraßen muss enden, um einen drohenden Verkehrsinfarkt zu vermeiden. Denn die Wasserwege in NRW nehmen eine eindrucksvolle Rolle für den Transport von Gütern in Deutschland und in Europa ein. Die Wasserstraßen in Nordrhein-Westfalen sind daher von dem Problem verzögerter und verschleppter öffentlicher Investitionen in moderne Schleusen und Kanaltechnik besonders betroffen. Die Kanäle befinden sich in desolatem Zustand. Die Region braucht gut funktionierende und auch für künftige Herausforderungen gewappnete Kanäle mit moderner Technik.
➋ Die Problematik an den lange vernachlässigten Binnenwasserstraßen zeigt sich an vielen Stellen. Ein besonders gravierendes Beispiel ist der Wesel-Datteln-Kanal (WDK) im nördlichen Ruhrgebiet: Er ist eine der bedeutendsten Verkehrsadern für die Schifffahrt in der Region und der europäischen West-Ost Wasserstraßen-Achse, doch die Situation ist alarmierend: Der Wesel-Datteln-Kanal (60 km Länge, Güterumschlag 19,7 Mio. t in 2014) ist marode und genügt nicht mehr den Anforderungen einer bedeutenden Verkehrsader. Dringenden Handlungsbedarf gibt es vor allem hinsichtlich der Nischenpoller, der häufig reparaturbedürftigen Schleusen und der zu niedrigen Brückenhöhen.
Eine starke Industrie braucht eine verlässliche und moderne Infrastruktur. Noch können wir im Chemiepark Marl mit dem Argument einer guten logistischen Anbindung und Flexibilität punkten.
➌ Damit das so bleibt, muss dringend Abhilfe geschaffen werden – durch Sanierung und Ertüchtigung. Konkrete Zeit- und Umsetzungspläne sowie mehr Personal in der zuständigen Wasser- und Schifffahrtsverwaltung des Bundes sind unabdingbar, um die Sanierungs- und Neubauarbeiten zu beschleunigen. Mit dem Masterplan Binnenschifffahrt hat Bundesverkehrsminister Scheuer den Anfang gemacht. Weitere Schritte müssen folgen. Dazu zählt auch ein Notfallplan, in dem die Bundesregierung aufzeigen muss, wie gehandelt wird, falls die Wasserinfrastruktur ausfallen sollte. Nur so kann verhindert werden, dass die Wirtschaftsfähigkeit der Region weiter nachhaltig beeinträchtigt wird. Nur so können zukunftsfähige Arbeitsplätze gesichert werden, und nur so wird sich die Verkehrsinfrastruktur nicht zu einem negativen Standortfaktor entwickeln.
www.evonik.de
Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur als nationale Aufgabe betrachten
Thomas Schmidt, Geschäftsführer InfraServ Höchst Logistics
➊ Wir haben in Deutschland einen erheblichen Investitionsstau in Bezug auf die Verkehrsinfrastruktur, von dem viele Wirtschaftszweige betroffen sind, auch die Chemie- und Pharmabranche. Die Abhängigkeit von funktionierenden Logistikanbindungen ist bei den produzierenden Unternehmen sehr groß. Da sind Einschränkungen beim Schwerlastverkehr, weil marode Brücken für Lkw gesperrt werden und die bestehenden Fernstraßen völlig überlastet sind, ein großes Problem. Eine auch aus ökologischen Gründen wünschenswerte Verlagerung von Transportkapazitäten auf andere Verkehrsträger wie die Bahn oder das Binnenschiff scheitert daran, dass es auch im Schienennetz großen Investitionsbedarf gibt und die Wasserstraßen aufgrund immer häufiger auftretender Niedrigwasserphasen nicht immer zur Verfügung stehen.
➋ Alle genannten Probleme betreffen auch den Industriepark Höchst und die anderen Standorte, an denen wir tätig sind. Vor allem in Höchst sind wir durch die zentrale Lage und die guten Verkehrsanbindungen in der Lage, auf Engpässe flexibel zu reagieren und Transportkapazitäten zu verlagern. Das funktioniert natürlich nur, wenn es funktionierende Alternativen gibt. In einer Niedrigwasser-Phase könnten wir nur auf die Bahn verlagern, wenn die Waggons und die Strecken auch kurzfristig verfügbar wären, ansonsten müssen wir mit erhöhtem Personaleinsatz und hoher Flexibilität diese Engpässe ausgleichen. Aufgrund der größer werdenden Herausforderungen sind wir als Logistik-dienstleister immer stärker als Berater der Kunden gefragt. Wir entwickeln mit ihnen Konzepte, um Alternativen für solche Engpässe aufzuzeigen und zu bewerten bzw. diese durch Prozessveränderungen auszugleichen. Auch bei der Vorhaltung wichtiger Rohstoffe am Produktionsstandort unterstützen wir unsere Kunden.
➌ Die Politik muss den Investitionsstau beseitigen und die Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur als nationale Aufgabe von höchster Priorität betrachten. Die Zukunftsfähigkeit des Wirtschaftsstandortes Deutschland hängt nicht unwesentlich davon ab, dass wir gut ausgebaute, leistungsfähige Verkehrswege haben.
www.infraserv-logistics.com
Industriestandorte sind abhängig von funktionierenden Verkehrsinfrastrukturen
Peter Bartholomäus, Vorsitzender der Geschäftsleitung der InfraServ Wiesbaden, Industriepark Kalle-Albert
➊ Die gute Verkehrsinfrastruktur ist ein wichtiger Standortvorteil für die deutsche Industrie. InfraServ Wiesbaden sitzt als Betreiber des Industrieparks Kalle-Albert inmitten des dicht besiedelten Rhein-Main-Gebiets. Kluge Planungsentscheidungen der Vergangenheit ermöglichen uns dennoch den Zugang zu den Transportwegen Wasser, Schiene, Luftverkehr und Straße. Täglich passieren hunderte von LKW unsere Tore, den Schwerverkehr können wir fast direkt auf die Autobahn führen. Hinzu kommen Bahnkesselwagen und Schiffstransporte. Jede Woche werden Zigtausend Tonnen Material bewegt. Etwa 5.800 Beschäftigte plus externe Dienstleister gehen außerdem ein und aus. Die gute Verkehrsanbindung ist essentiell für die Bedienung unserer Standortkunden wie auch für unserer Attraktivität als Arbeitgeber.
➋ Aktuell beklagen wir Versäumnisse bei der Intakt-Haltung dieser Infrastruktur. Autobahnbaustellen mit Brückensanierungen in der Nachbarschaft haben zu neuen Unwägbarkeiten geführt. Unmittelbaren Einfluss auf die Produktion hat dies noch nicht, aber die Logistikanforderungen sind deutlich gestiegen. Die gute Verkehrsinfrastruktur ist essentiell für die Bedienung unserer Standortkunden wie auch für unserer Attraktivität als Arbeitgeber.
➌ Das wachsende Verkehrsaufkommen ist eine Herausforderung für unsere wirtschaftsstarke Metropolregion. Allein in die 290.000 Einwohner Stadt Wiesbaden pendeln täglich rund 75.000 Berufstätige. Zukunftsfähige Konzepte einschließlich verbesserter ÖPNV-Angebote lassen sich nur von Bürgern, Politik und Unternehmen gemeinsam planen, wie kürzlich hier angestoßen. Erarbeitet wird ein neues Mobilitätsleitbild für Wiesbaden, das den vielfältigen Anforderungen der Menschen, die hier leben und arbeiten, gerecht wird.
Industriestandorte wie Kalle-Albert sind wichtige Arbeitgeber und regionale Wohlstandsfaktoren. Sie sind aber abhängig von nachhaltigen und effizient funktionierenden Verkehrsinfrastrukturen. Hierfür erwarten wir weiterhin politische Rückendeckung, insbesondere, was den Transportweg Straße angeht. Klar ist auch, dass Mut und Innovationsgeist gefragt sind, um neue Lösungen für die individuelle wie industrielle Mobilität zu entwickeln.
www.infraserv-wi.de
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