Wertschöpfungsnetze müssen atmen können
Nachhaltige Flexibilisierung von Produktion, Beschaffung und Vertrieb als Vorsorge für den nächsten Umbruch
Noch Ende letzten Jahres herrschte in der Chemie- und Pharmaindustrie verbreitet Krisenstimmung. Sorgen bereiteten vor allem die erheblichen Überkapazitäten z.B. bei Standardkunststoffen wie Polyethylen, PET und Styrolkunststoffen sowie bei Papierchemikalien und bestimmten Polyurethanvorprodukten. Experten sagten voraus, dass die vollzogenen bzw. angekündigten Schließungen von Anlagen nicht ausreichen würden, um die Kapazitäten an die gesunkene Nachfrage anzupassen. JP Morgan prognostizierte als Konsequenz einen erheblichen Preisdruck für die Branche.
Heute - kein Jahr später - stehen die Zeichen wieder auf Wachstum: „China zieht die Chemieindustrie aus der Krise", „Neue Wachstumsparty in Brasilien", „Indiens Pharmamarkt auf der Überholspur", das sind nur einige der Schlagzeilen. So groß die Bedeutung der Emerging Markets für die Branche mittlerweile ist, so groß sind andererseits die Herausforderungen im Hinblick auf deren Markterschließung bzw. -ausbau. Denn mit Exportaktivitäten allein, unter anderem um die Überkapazitäten in wachstumsschwächeren Märkten zu nutzen, stößt man hier sehr schnell an seine Grenzen. Das haben Unternehmen immer wieder erfahren.
Die Kernfrage lautet daher: Wie kann ein global leistungsfähiges und kosteneffizientes Produktions-, Beschaffungs- und Vertriebsnetz geschaffen werden, das rasch an neue Nachfragekonstellationen anpassbar ist?
Die globalisierte Welt bleibt unberechenbar
Der Auf- bzw. Ausbau eines Wertschöpfungsnetzes ist - ebenso wie der Abbau - ein Kraftakt, häufig verbunden mit erheblichem Ressourceneinsatz und Investitionen, die sich nachhaltig rechnen müssen. Das Risiko liegt vor allem in der Vielzahl der Annahmen, auf denen der Business-Case zwangsläufig beruht - insbesondere im Hinblick auf Nachfrageentwicklung und marktseitige Rahmenbedingungen.
Risiken der Nachfrageentwicklung: Mittel- und Langfristprognosen von Wachstumsraten sind für viele Unternehmen ein spannendes Thema, unterschiedliche Meinungen nicht selten. Vor allem in den Emerging Markets lässt sich die Absatzentwicklung - schon kurz- bis mittelfristig - kaum verlässlich vorhersagen. Denn hier fehlt es, zumindest beim Endverbraucher, an einer ausgeprägten, „verlässlichen" Produkt- und Markenbindung, wie wir sie z.B. im Kosmetikbereich aus Europa kennen. Asiatische Nachfrager sind hier deutlich experimentier- und wechselfreudiger. Dies erleichtert zwar den kurzfristigen Markteintritt, erschwert aber die nachhaltige Marktbehauptung.
Risiken in den Rahmenbedingungen: Zölle und andere Handelshemmnisse, Lohn-, Transport- und Rohstoffkosten vor Ort, Wechselkurse, Finanzierungskosten und Beschaffungspreise - all diese Einflussfaktoren und Nebenbedingungen einer Standortentscheidung entwickeln sich im Zeitablauf extrem volatil. Dies zeigt sich u.a. seit nunmehr zehn Jahren an der Entwicklung des Euro-Wechselkurses wie auch an der jüngsten „Achterbahnfahrt" der Rohstoffpreise. Und auch die handelspolitischen Rahmenbedingungen, etwa in Fernost oder Russland, waren in den letzten Jahren nicht immer ein Hort der Stabilität.
Angesichts solch extremer Schwankungen und Unwägbarkeiten können sich vermeintliche Standortvorteile eines neuen oder bestehenden Wertschöpfungsnetzes sehr rasch in einen gravierenden Nachteil verwandeln. Profitables Wachstum wird damit leicht zum Zufallsprodukt. Wie agiert man erfolgreich in einem solch unberechenbaren Umfeld? Wie können Produktion, Beschaffung und Distribution weltweit so ausgerichtet werden, dass sie auch in Zeiten größerer Umbrüche noch rentabel arbeiten?
Seriöse Antworten hierauf bedürfen einer umfangreichen Sensitivitätsanalyse unterschiedlichster, auch extremster Szenarien. Nur auf dieser Basis lassen sich Netzstrukturen nachhaltig auf die Erfordernisse einer volatilen Welt ausrichten. Denn eines ist sicher: Der nächste Umbruch kommt bestimmt.
Sensitivitätsanalyse: Für alle wichtigen Einflussfaktoren und Nebenbedingungen einer Standortentscheidung gilt es, Bandbreiten zu ermitteln, innerhalb derer eine bestimmte Netzstruktur aus Produktion, Distribution und Beschaffung langfristig rentabel ist. Über eine solche Analyse lässt sich z.B. die Frage beantworten, wie renditerobust der Standort China bei drastischen Lohnkostensteigerungen vor Ort ist - eine Entwicklung, die viele Experten dem Reich der Mitte voraussagen.
Wichtig bei der Sensitivitätsanalyse ist eine ganzheitliche Sicht der Dinge auch im Hinblick auf Risikoaspekte wie Lieferfähigkeit und Produktqualität. Die möglichen Einflussfaktoren müssen daher gemeinsam in ihrer ganzen Vielfalt identifiziert, nach Bedeutung geordnet und letztlich mit Blick auf den langfristigen Standorterfolg analysiert werden. Moderne IT-Tools, mit denen die Ertragsstabilität unterschiedlichster Netzszenarien simuliert werden kann, sind dabei als Entscheidungshilfe wichtig; eine ganzheitliche Expertenbeurteilung können aber auch sie keineswegs ersetzen.
Nachhaltige Netzstrukturen: Nehmen wir den Einfluss von Schwankungen bzw. Entwicklungstrends von Wechselkursen. Als Antwort darauf fällt häufig das Stichwort vom „Natural Hedging" - also der Konzentration von Einkauf und Produktion an einem Standort, um dadurch Wechselkursrisiken auf „natürliche Weise" auszuschließen, ohne Nutzung von Finanzinstrumenten. Doch es gibt Unternehmen, die in weit mehr als 100 Ländern aktiv sind. Eine weitverzweigte Lokalisierung ihrer Aktivitäten würde die Komplexitätskosten nach oben treiben bzw. erzielbare Bündelungsvorteile vernichten. Die Kunst liegt vielmehr darin, regionale und globale Wertschöpfungsketten zu definieren und nachhaltig kosteneffizient miteinander zu synchronisieren.
Ein Beispiel: Ist es sinnvoll, eine Körperpflegelotion, die bis zu 90 % aus Wasser besteht, von einem zentralen Produktionsstandort über weite Strecken zu transportieren - in Engpasssituationen sogar mit dem Flugzeug? Alternativ ist eine Produktion direkt im Absatzmarkt denkbar, entweder in Eigen- oder in Auftragsfertigung. Ist dies etwa wegen Risiken von Qualität oder Intellectual Property nicht gewünscht, ist es aus der Sicht einer „Green Supply-Chain" immer noch denkbar, lediglich das Konzentrat „global" zu fertigen und das Wasser „regional" beizumischen und in Flaschen abzufüllen.
Flexibilisierung der Wertschöpfungsnetze
Wichtigstes Kriterium für eine nachhaltige Ausrichtung von Netzstrukturen ist ihre Flexibilität. Eine hohe Skalierbarkeit der Produktion lässt sich z.B. erzielen durch mehrere Ausbaustufen, aber auch durch ein geeignetes Verhältnis von Eigen- und Fremdleistung. Im Idealfall gelingt es dann, ohne Anpassungen der eigenen Kapazitäten auf Schwankungen des Geschäfts zu reagieren. Bei einem 20-%igen Fremdfertigungsanteil und 20-%igen Mengeneinbruch verliert lediglich der Third-Party-Manufacturer sein Geschäft, doch die eigenen Strukturen und Kapazitäten bleiben unverändert und damit rentabel. Ganz ähnlich sind die Mechanismen bezüglich der Eigen- und Fremdmitarbeiterquote: Auch hier gilt es, ein Verhältnis zu definieren, das ausreichend Flexibilität gewährleistet.
Weitere Ansatzpunkte liegen in der Vertragsgestaltung. Ein Beispiel hierfür ist die Vereinbarung von Staffelpreisen mit Dienstleistern und Lieferanten, die Anpassungen der Fixkosten an Volumenschwankungen sicherstellen. Flexibilität bieten auch „kontinentale" Logistik- oder Beschaffungsverträge, die z.B. eine totale Lagerkapazität oder ein Einkaufsvolumen für eine gesamte Region definieren, dabei aber die Aufteilung auf einzelne Länderstandorte weitgehend freistellen. Und nicht zuletzt bieten sich auch bei Arbeitsverträgen und dem Arbeitszeitmodell vielfältige Gestaltungsspielräume für eine hohe Flexibilität in der Wertschöpfung.
Unternehmen, die ihre globale Produktion, Beschaffung und Distribution auf diese Weise ausrichten, sind auch künftig für größere Umbrüche einer globalisierten Weltwirtschaft gerüstet.