Chemie & Life Sciences

Versteckte Märkte suchen und erschließen

Chemie-Cluster Bayern verknüpft Lösungsangebote der Chemie mit Industriebedarfen

12.12.2013 -

Das Chemie-Cluster Bayern wurde im Jahr 2007 gegründet und hat sich rasant von einem regionalen Netzwerk zur Kontaktanbahnung zu einer professionellen Projektentwicklungsorganisation mit internationaler und interdisziplinärer Handlungsfähigkeit entwickelt. Mit der „Agenda 2013-2017- Versteckte Märkte erschließen" hat sich das Cluster Ziele gesetzt, die erstmalig in Umsatzzahlen ausgedrückt werden sollen: 1 Mrd. € Mehrumsatz für die Cluster-Mitglieder in fünf Jahren. Untermauert wird dieses Potential von einer Studie der Unternehmensberatung Dr. Wieselhuber & Partner zu Wachstumspotentialen der Chemie, deren Ergebnisse hier zu lesen sind. Dr. Birgit Megges befragte Daniel A. Gottschald, Geschäftsführer des Chemie-Clusters, zur geplanten Umsetzung der Agenda.

CHEManager: Herr Gottschald, Sie haben bei der Studie über die „Versteckten Märkte" mit Dr. Wieselhuber & Partner zusammengearbeitet. Welche Erkenntnisse aus der Studie waren für das Cluster am wichtigsten?

D. A. Gottschald: Der Studie entnehme ich drei Kernbotschaften, die sich alle mit unseren Erfahrungen der letzten Jahre decken. Erstens: Es gibt bedeutende „versteckte Märkte" für die bestehende chemische Produktpalette. Zweitens: Diese Märkte lassen Wachstumspotential für große wie für kleine Chemieunternehmen zu; und drittens: Der Umgang mit diesem Wachstumspotential ist auch unter vergleichbaren Unternehmen extrem unterschiedlich. Während manche Unternehmen präzise Prozesse zur Erschließung neuer Anwendungspotentiale implementiert haben, unterschätzen andere die eigenen Ressourcen, mit bestehenden Produkten in neue Märkte zu wachsen. Mit dem „Wertschöpfungs-Pakt Chemie" haben wir deshalb ein Instrument geschaffen, um das eigene Marktpotential in neuen industriellen Anwendungen mit minimalem Ressourceneinsatz „auszuprobieren".

Sie haben mit der Cluster-Initiative „Chemie trifft..." bereits in den letzten Jahren Entwicklungsbedarfe industrieller Endanwender abgefragt. Entspringt die Agenda dem Ansatz dieser Initiative?

D. A. Gottschald: Die Initiative „Chemie trifft..." entstand aus der eher zufälligen Entdeckung, dass gerade industrielle Systemintegrierer, die wenig mit Chemieunternehmen zu tun haben - wie zum Beispiel ein Flugzeugbauer -, in vielen Fällen chemischen Innovationen zum Durchbruch verhelfen können. Die dafür nötige „Aktivierungsenergie" war relativ simpel zu erzeugen: Wir haben solche Unternehmen einfach nach ihren chemischen „Wunschlisten" gefragt. In erstaunlich vielen Fällen stellte sich dann heraus, dass scheinbar weit entfernte Lösungen mit verfügbarem Know-how unserer Mitglieder kurzfristig realisiert werden konnten. In der Praxis geht einer solchen Form der Beantwortung von Innovationsbedarfen ein wenigstens sechs- bis neunmonatiger Prozess voraus, der den Abschluss von Geheimhaltungsabkommen, zahlreiche Arbeitstreffen und viel Überzeugungsarbeit, übrigens auf beiden Seiten, beinhaltet. Dieses Modell von „Chemie trifft..." bleibt ein wesentliches Element unserer Agenda. Jedoch soll es zielgerichtet auf solche Märkte angewendet werden, auf denen wir uns das größte kurzfristige Wachstumspotential versprechen. Bis 2017 möchten wir so einen Mehrumsatz unserer Mitglieder von wenigstens 1 Mrd. € erzeugen.

Wie ist die Vision, 1 Mrd. € Mehrumsatz in fünf Jahren zu erzeugen, zu verstehen? Wie werden Sie die tatsächliche Umsatzsteigerung messen?

D. A. Gottschald: Zur Teilnahme am Wertschöpfungs-Pakt Chemie müssen unsere Mitglieder keine Gebühren oder Erfolgsprovisionen zahlen: Die einzige Verpflichtung besteht im Abschluss eines gegenseitigen Geheimhaltungsabkommens, denn die Diskussion industrieller Anforderungen umfasst häufig hoch sensible Themen der Produktentwicklung. Mit diesem Geheimhaltungsabkommen verpflichten sich die Teilnehmer auch, uns über Umsätze, die aus der Beantwortung eines „Challenge Statements" resultieren, jährlich zu informieren. Wir nutzen diese Daten ausschließlich kumulativ zum Erfolgscontrolling der eigenen Arbeit: Der „Wertschöpfungs-Pakt Chemie" wäre keine sinnvolle Initiative, wenn er nicht kurz- bis mittelfristig zur Erschließung neuer Marktanteile dienen würde. Aus diesem Grund lautet unsere Marschroute auch: „Nicht die Probleme von morgen lösen, sondern die von heute".

Kommen wir noch einmal zurück auf die Umsetzung der Strategie: Welche weiteren Mittel wollen Sie nutzen?

D. A. Gottschald: Oft werden wir von potentiellen Industriekunden gefragt: „Was hat die Chemieindustrie denn anzubieten?" Diese Frage lässt sich nicht in chemischen Produktgruppen beantworten. Deshalb richten wir gerade anwendungsorientierte „Branchendateien" ein, in denen die Eigenschaften chemischer Produkte den Komponenten etwa eines Marineschiffs zugeordnet werden. Die Gliederung dieser Dateien wird in Zusammenarbeit mit den industriellen Anwendern erstellt. Außerdem bereiten wir einen „Markt-Check" vor, in dem vor allem mittelständische Chemieunternehmen das industrielle Anwendungspotential einer Neuentwicklung durch Eingabe in ein Online-Tool leicht überprüfen können. Der Wertschöpfungs-Pakt Chemie wird außerdem durch zahlreiche PR-Maßnahmen und Workshops potentiellen Partnern vorgestellt. Wichtig ist uns dabei, gezielt über den Tellerrand traditioneller Wertschöpfungsketten hinauszuschauen.

In welchen Marktsegmenten steckt das größte Potential für Ihre Mitgliedsfirmen?

D. A. Gottschald: Zur Beantwortung dieser Frage haben wir in den letzten Monaten eine sehr intensive Analyse der Umsatz- und Kundenstrukturen unserer Mitglieder durchgeführt. Kriterien waren dabei natürlich offensichtliche Transferpotentiale in andere industrielle Anwendungen, aber auch die Offenheit der Märkte, die Relevanz chemischer Produkte als sog. „Bottle-Neck-Lösungen" und die Wirtschaftlichkeit eventuell nötiger Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen. Im Ergebnis konzentrieren wir uns für die nächsten vier Jahre auf „versteckte Märkte" in drei Hauptsegmenten: In den Bereichen Luftfahrt und Schiffbau besteht erhebliches Marktpotential für chemische Lösungen, die bereits in automobilen Wertschöpfungsketten entwickelt wurden. In den Bereichen der Rohstoffgewinnung und -verarbeitung werden enorme Chancen für innovative chemische Entwicklungen in neuen Technologien wie etwa der Öl- und Gasförderung geboten. Zuletzt sehen wir für den Bereich von Hochleistungsmaterialien sehr gute Chancen auf dem Markt für Sport- und Freizeitartikel.

Welche chemischen Angebote können Ihre Cluster-Mitglieder machen?

D. A. Gottschald: Die Lösungsangebote umfassen eine beachtliche Bandbreite neuer Materialien, Verbundwerkstoffe, Schmier- und Klebstoffe wie auch Beschichtungen und Entwicklungen der Prozesstechnologie. Mit offensichtlichen Lösungen müssen wir uns nicht beschäftigen, ebenso wenig mit abstrakten Zukunftsvisionen. Zur Identifikation verfügbarer Angebote der Chemie werden wir Industriebedarfe in spezifische Anforderungsprofile, sog. „Challenge Statements", übersetzen. Darunter sind natürlich manche Herausforderungen, für die in der Tat keine umsetzbare Lösung existiert. In vielen Fällen lässt sich aber zumindest in einer Testanwendung überprüfen, ob nicht ein chemisches Produkt aus einem ganz anderen Bereich - zum Beispiel der Bauchemie - die gewünschte Funktionalität bieten kann.

Zu Ihren Mitgliedern zählen auch etliche Universitäten und Forschungsinstitute. Wie werden diese in die Projektarbeit eingebunden? Wird es auch dort messbare Ziele geben?

D. A. Gottschald: Auch Universitäten und Forschungseinrichtungen befinden sich in einem internationalen Wettbewerb zur Erschließung neuer Marktanteile. Solche Marktanteile mögen sich für Universitäten anders definieren, auch ihr Kundenbegriff mag ein anderer sein - dennoch richtet sich der Wertschöpfungs-Pakt ausdrücklich auch an akademische Einrichtungen. Wir möchten die Chemie insgesamt als Serviceanbieter für andere Industriebereiche positionieren: Manche industriellen Herausforderungen können dabei nur durch Auftragsforschung oder akademische Kooperationen bewältigt werden. Hier haben sich Unternehmen und Universitäten - insbesondere aber auch Fraunhofer-Institute - bei unseren Markterschließungs-Workshops stets als hervorragendes Team bewiesen.

Wie wollen Sie dafür Sorge tragen, dass der Wertschöpfungspakt Chemie auch außereuropäische Früchte trägt?

D. A. Gottschald: Selbstverständlich erschließen wir im Rahmen unserer Agenda nicht regionale, sondern globale Märkte. In den ausgewählten Zielbranchen arbeiten wir mit den Unternehmen zusammen, die spannende Technologiebedarfe und die höchste Bereitschaft zur Zusammenarbeit erkennen lassen - unabhängig davon, ob sie in Oberbayern oder Australien sitzen. Ein starkes Netzwerk von weltweit über 40 Partnerinstitutionen, wie Kammern, Cluster und Industrienetzwerke, hilft uns bei der Ansprache geeigneter Industriepartner. In vielen Fällen ist eine solche Form der Innovationskultur - aus deutscher Perspektive „leider" - bei Unternehmen in den USA stärker ausgeprägt, so dass auch viele unserer Aktivitäten außerhalb Europas stattfinden. Im Bereich „Chemie trifft... Bergbau" arbeiten wir natürlich mit Unternehmen in Lateinamerika, insbesondere in Mexiko und Chile, zusammen; in der Luftfahrtbranche ist uns Boeing ein ebenso wichtiger Partner wie die europäische Luftfahrtindustrie mit ihren starken bayerischen Zuliefererunternehmen.

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