Wie KI die Logistik verändert
Digitalisierte Prozesse und KI-basierte Technologien bieten viel Potenzial
Am Fraunhofer-Institut für Materialfluss und Logistik IML wird ganzheitliche Logistikforschung groß geschrieben. Mit diesem Ansatz werden dort auf allen Feldern der inner- und außerbetrieblichen Logistik Lösungen erarbeitet. Das 1981 gegründete Institut zählt zurzeit über 700 Beschäftigte, davon rund 470 wissenschaftliche Mitarbeitende. Zum 1. April 2024 hat Alice Kirchheim den Institutsbereich Materialflusssysteme am Fraunhofer IML sowie den Lehrstuhl Förder- und Lagerwesen an der Technischen Universität Dortmund übernommen. Sie leitet das Institut zusammen mit Uwe Clausen (Bereich Logistik, Verkehr und Umwelt) sowie Michael Henke (Bereich Unternehmenslogistik). Birgit Megges befragte Kirchheim zu ihrer ersten Zeit am Institut, ihren Plänen und Einschätzungen zur fortschreitenden Digitalisierung der Logistik.
CHEManager: Frau Kirchheim, Sie sind seit April Institutsleiterin am Fraunhofer IML in Dortmund. Was reizt Sie an dieser neuen Herausforderung?
Alice Kirchheim: Dortmund ist für mich in Europa einer der wichtigsten Standorte der Logistikforschung. Neben dem Fraunhofer IML ist das auch die TU Dortmund mit mehreren Logistiklehrstühlen und einem weitreichenden Ökosystem. Dazu gehören zum Beispiel der Digital Hub Logistics Dortmund, die Open Logistics Foundation, lokale Start-ups aus dem Fraunhofer IML am Centrum für Entrepreneurship & Transfer und zahlreiche ortsansässige Partner aus der Industrie. Es macht mir große Freude, in diesem diversen Ökosystem an Lösungen für die Logistik der Zukunft zu arbeiten und mich damit sowohl für den akademischen Nachwuchs als auch für den deutschen Wirtschaftsraum einzusetzen.
In den letzten Wochen konnten Sie sich bereits einen ersten Überblick verschaffen. Was haben Sie sich für Ihr erstes Jahr am Institut vorgenommen?
A. Kirchheim: Langsam habe ich mein erstes Ziel erreicht – hier anzukommen. Aber nach wie vor lerne ich täglich neue Menschen, spannende Projekte und innovative Ideen kennen. Mit meinem Team am Fraunhofer IML werde ich die kommenden Monate nutzen, um basierend auf den großen Themen meines Vorgängers Professor Michael ten Hompel wie der Silicon Economy oder dem Digitalen Kontinuum ein gemeinsames Bild von der Logistik der Zukunft zu erschaffen.
Sie haben in verschiedenen Positionen in der Forschung, aber auch in der Praxis Erfahrungen gesammelt. Welchen Eindruck haben Sie erhalten? Wie sind wir in Deutschland im Bereich KI für den Einsatz in der Industrie aufgestellt?
A. Kirchheim: Deutschland hat das Know-how und die Unternehmen, um die Potenziale neuer KI-basierter Technologien und Geschäftsmodelle auszuschöpfen. Hierbei sehe ich einen Fokus auf dem Einsatz im industriellen Umfeld. Deutschland zeichnet sich durch eine große Zahl produzierender Unternehmen aus. Dennoch haben gerade produzierende Unternehmen mit ihren Kompetenzen im Maschinenbau noch ein großes Potenzial für die Digitalisierung und den Einsatz von Methoden der künstlichen Intelligenz in ihren Produkten und für ihre Geschäftsmodelle. Der erfolgreiche Einsatz von KI in der Industrie wird nur gelingen, wenn Forschung, Transfer und Anwendung zusammenarbeiten. Und genau dieses ist auch Kern der DNA des Fraunhofer IML.
Wie können Unternehmen den Wandel zu neuen Technologien erfolgreich mitgestalten?
A. Kirchheim: Ein Beispiel ist für mich der Umgang mit dem Schlagwort „künstliche Intelligenz“. Viele Menschen haben von den Möglichkeiten und Grenzen – insbesondere im Arbeitsumfeld – kein klares Verständnis davon, an welchen Stellen der Einsatz künstlicher Intelligenz den Arbeitsalltag erleichtern kann, an welchen Stellen er aber auch limitiert ist. Wenn wir es schaffen, diese Menschen zu befähigen, dann wird der Wandel zu neuen Technologien erfolgreich sein. Wir aus dem Fraunhofer IML bieten mit unseren am Puls der Zeit ausgebildeten Mitarbeitenden die Zusammenarbeit für einen Transfer des Wissens aus der anwendungsorientierten Forschung in die Unternehmen an. Das ist die Grundlage für einen erfolgreichen Wandel hin zu neuen Technologien und lässt sich auch auf andere Geschäftsfelder übertragen. Außerdem organisieren wir jährlich einen Zukunftskongress Logistik, bringen so Anwendung und Wissenschaft zusammen und bieten damit Unternehmen die Möglichkeit, sich über neue Technologien zu informieren. Dieses Jahr organisieren wir diesen gemeinsam mit dem Lamarr-Institut für Maschinelles Lernen und Künstliche Intelligenz und dem neuen Format „AI24“ am 4. und 5. September in Dortmund.
„Deutschland hat das Know-how und die Unternehmen, um die Potenziale neuer KI-basierter Technologien und Geschäftsmodelle auszuschöpfen.“
Das IML hat zusammen mit Dachser den Deutschen Logistik-Preis 2023 für den digitalen Zwilling @ILO erhalten, eine Innovation in der Stückgutlogistik. Können Sie weitere Anwendungsbeispiele nennen, die bereits in der Praxis eingesetzt oder erprobt werden?
A. Kirchheim: Natürlich sind wir stolz darauf, nach einer mehrjährigen und intensiven Kooperation mit Dachser für diese gemeinsame Arbeit mit dem Deutschen Logistik-Preis ausgezeichnet worden zu sein. Die Begeisterung hat unsere Zusammenarbeit beflügelt. Aber auch in anderen Bereichen stehen bei uns die nächsten Innovationen an der Schwelle zum praktischen Einsatz in Unternehmen. Ein Beispiel ist der viral gegangene ‚Evobot‘, der autonome kollaborative Roboter für unterschiedlichste Hebe- und Transportaufgaben. Mit dem kleinen CO2-Fußabdruck und der Bewegungsflexibilität des Menschen, den breiten Möglichkeiten für die Handhabung und einer sagenhaft hohen Geschwindigkeit sind wir überzeugt, einen nächsten Schritt auf dem Weg zu humanoiden Robotern für den industriellen Einsatz geleistet zu haben.
Welche konkreten Anwendungen von KI in der Logistik sind Ihrer Meinung nach besonders vielversprechend?
A. Kirchheim: In aller Munde ist die generative KI, wie sie bei ChatGPT eingesetzt wird. Eine generative KI berechnet auf Basis individueller menschlicher Eingaben und gesammelten Informationen neue bisher nicht existierende Antworten – nicht nur für Texte, sondern auch für Bilder und Videos. Diese Art der generativen KI wird, angepasst für die Logistik, künftig auch bei der automatischen Prozessdokumentation, der Digitalisierung von Kommunikationsschnittstellen und der Entscheidungsunterstützung durch selbstlernende Algorithmen eingesetzt. Wir haben es uns zum Ziel gesetzt, die notwendige Kompetenz aufzubauen, um gemeinsam mit Unternehmen die Logistik der Zukunft zu gestalten. Ein weiteres großes Thema mit einem breiten Interesse der Industrie sind humanoide Roboter. Dieses Jahr haben einige große Konzerne Partnerschaften mit Unternehmen bekannt gegeben oder beginnen, erste Anwendungsfälle für den Einsatz von humanoiden Robotern zu erproben. Noch stehen wir hier ganz am Anfang, aber wir haben in Deutschland die Chance, vorne mit dabei zu sein. Bereits mein Vorgänger Professor Michael ten Hompel hat allerdings in diesem Zusammenhang auf die Notwendigkeit von Investitionen in die Forschung und Entwicklung hingewiesen. Und ich schließe mich dem an und verweise auch auf aktuelle Studien – zum Beispiel die EY-Analyse zu den F&E-Ausgaben der Top 500 Unternehmen weltweit –, die zeigen: Die innovativsten Unternehmen investierten prozentual mehr in Forschung- und Entwicklung, als ihr Umsatz stieg
Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit innerhalb Ihres Bereichs am Fraunhofer IML?
A. Kirchheim: Mit dem Klimaschutzgesetz hat sich Deutschland auf den Weg zur Treibhausgasneutralität begeben. Wir möchten mit unserem Handeln einen Beitrag auf diesem Weg leisten. Hierzu haben wir unser Technologie- und Leistungsangebot auch auf Themen mit dem Fokus Nachhaltigkeit angepasst. Digitale Technologien bieten die Chance, Produkte und Prozesse effizienter, ressourcenschonender und sozialer zu gestalten. Wir befassen uns mit praktischen Herausforderungen, zum Beispiel damit, wie europäische Vorgaben zur Nachhaltigkeitsberichtserstattung umgesetzt werden können. Hier verbinden wir Methoden der künstlichen Intelligenz, um aus ERP-Systemen relevante Daten zu extrahieren und diese automatisch für das Generieren von Textbausteinen für Nachhaltigkeitsberichte zu nutzen. Darüber hinaus handelt es sich für mich auch um eine Herzensangelegenheit. Wenn jede und jeder von uns als Konsument bei seinen Entscheidungen das Kriterium Nachhaltigkeit berücksichtigt, dann schaffen wir es als Gesellschaft, diese Ziele zu erreichen.
„In den nächsten Jahren wird es in der Logistik weiterhin menschzentrierte Arbeitsplätze geben.“
Wie beurteilen Sie den Fachkräftemangel in der deutschen Logistikbranche? Könnten die neuen Technologien als Problemlöser fungieren?
A. Kirchheim: In den nächsten Jahren wird es in der Logistik weiterhin menschzentrierte Arbeitsplätze geben. Die Fähigkeiten des Menschen, in unstrukturierten Umgebungen sehr variable Tätigkeiten durchzuführen, sind einfach phänomenal. Ein wichtiges Thema wird auch die Unterstützung von Mitarbeitenden sein, zum Beispiel durch Exoskelette. Bei uns am Fraunhofer IML haben wir ein entsprechendes Labor eingerichtet, denn auch das ist eine Möglichkeit, mehr Menschen für körperlich anstrengende Tätigkeiten zu befähigen. Insofern ist das eine neue Technologie, die ein Problemlöser ist. Eine andere Möglichkeit ist die Automatisierung. Ich erwarte in den kommenden Jahren einen weiterhin steigenden Einsatz von heterogenen Flotten von autonomen, mobilen Robotern, die über standardisierte Schnittstellen wie der VDA5050 gesteuert werden. Wie eingangs erwähnt wird aber das langfristige Thema auf jeden Fall die Erprobung humanoider Roboter im industriellen Umfeld sein. Beides zusammen – also Assistenzsysteme wie Exoskelette und Automatisierung durch kollaborative Roboter – wird den Menschen zukünftig in einer anspruchsvolleren, sich verändernden Arbeitswelt entlasten.
Werfen Sie einen kurzen Blick auf die nächsten zehn Jahre: In welchen Bereichen der Logistik und in welchem Maß wird Ihrer Meinung nach die Digitalisierung und der Einsatz von KI die Branche verändern?
A. Kirchheim: Wir befassen uns am Fraunhofer IML mit den Chancen des Einsatzes neuer Technologien für eine lebenswerte Zukunft. Aber wir haben in den letzten Jahren mit der Coronapandemie, dem Krieg in der Ukraine, den zunehmenden Cyberangriffen und politisch motivierter Desinformation erlebt, wie stark sich diese Ereignisse auf die Gesellschaft auswirken können. Alles zusammen ergibt für die Industrie ein hochdynamisches Marktumfeld mit unerwarteten und vor allem disruptiven Veränderungen. Daraus leitet sich die Forderung nach flexiblen, skalierbaren und resilienten Logistiksystemen ab. In meinem Kernthema der Intralogistik befassen wir uns damit, wie wir Logistiksysteme schaffen können, die diesen Anforderungen genügen. Wir fokussieren uns aus technischer Perspektive auf die bereits vielfach benannten autonomen, mobilen Roboter und ihre Weiterentwicklungen wie dem ‚Evobot‘ und künftig auf humanoide Roboter. Für ihren Einsatz brauchen wir aber auch neue prozessuale Konzepte für Logistikprozesse. Mit dem Konzept Greif-and-Drive haben wir für Kommissioniersysteme eine erste Antwort gefunden, die wir bereits auf der Fachmesse Logimat präsentiert haben. Wir arbeiten aber mit hohem Engagement sowohl an der Technik als auch an den Prozessen, um Innovationen zu entwickeln.
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