Anlagenbau & Prozesstechnik

Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie: Chancen und Hürden

Die digitale Transformation ist in vielen Industriesektoren in vollem Gange

13.12.2023 - Gunther Kegel, Präsident des ZVEI und CEO der Pepperl + Fuchs Gruppe

Der Fortschritt der digitalen Transformation in der Industrie ist weltweit in vollem Gange. Wie sieht es in deutschen Unternehmen mit der Digitalisierung aus? Und sind wir auf dem direkten Weg zur All Electric Society oder müssen wir umdenken? CHEManager sprach zu diesen Themen mit Gunther Kegel, Präsident des Verbands der Elektro- und Digitalindustrie (ZVEI) und CEO der Pepperl + Fuchs Gruppe. Das Gespräch führte Volker Oestreich.

CHEManager: Als ZVEI-Präsident wollen Sie die Elektro- und Digital­industrie in eine Schlüsselposition führen, die technologisch den Takt für eine dekarbonisierte Industriegesellschaft vorgibt. Wie soll das gehen und wieweit sind wir von diesem Ziel noch entfernt?

Gunther Kegel: Deutschland verbraucht heute umgerechnet circa 3.600 TWh Energien. Das Szenario des zweiten Klimaschutzgesetzes sieht in 2045 nur noch 2.000 TWh aus rein erneuerbaren Quellen vor. Dabei soll mehr als die Hälfte dieser Energie aus heimischen Fotovoltaik- und Windkraftanlagen gewonnen werden. Wenn wir einen deutlich reduzierten Energieverbrauch erreichen wollen, ohne dabei Industrie und Wohlstand zu vernichten, sondern weiter Wachstum generieren, heißt das: Wir müssen lernen, Energie deutlich effizienter einzusetzen und aus dem volatilen Angebot erneuerbarer Energien eine attraktive, wettbewerbsfähige Energieversorgung zu machen. Der Schlüssel zur effizienten Nutzung volatiler, erneuerbarer Energien liegt deshalb in den Sektoren Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung.

Elektrifizierung, Automatisierung, Digitalisierung: Wo stehen die deutsche Industrie, die DACH-­Region und Europa derzeit im interna­tionalen Maßstab?

G. Kegel: Für uns ist klar, dass ein Umbau unserer Energieversorgung und der weitgehende Verzicht auf fossile Energieträger möglich ist. Der dazu notwendige Umbau der Energieerzeugung, der Energieverteilung, der Energiespeicherung, die Sicherstellung der Grundlastfähigkeit ist herausfordernd und teuer.
Zumindest für eine Übergangszeit von vielleicht zehn Jahren werden wir höhere Energiekosten akzeptieren und Methoden finden müssen, wie wir unsere Industrie und Märkte vor Wettbewerbern schützen, die ihre Energieversorgung noch weitgehend auf Basis fossiler Träger realisieren. Leider gibt es für die Ersten im Rennen um die Dekarbonisieung keinen „First-Mover-Advantage“. Wer zuerst dekarbonisiert, wird früher als andere mit höheren Kosten konfrontiert. Ein Gleichschritt in der Dekarbonisierung der großen Weltregionen etwa in Form eines „Klimaclubs“ wäre sehr wünschenswert, ist politisch zurzeit aber offensichtlich nicht umsetzbar beziehungsweise gewollt. Es bleibt also lediglich die Hoffnung, dass wir vor allen anderen auch die Technologien für Elektrifizierung, Automatisierung und Digitalisierung entwickeln und diese zu den neuen Exportschlagern werden. Hier sehe ich Deutschland und Europa gut aufgestellt, wenn auch zwischen den Konzepten und Ankündigungen und der Umsetzung noch eine riesige Lücke klafft.

 

Auch unserer Politik stehen zu viele bürokratische und
rechtsstaatliche Hürden im Weg,
um schnell voran zu kommen.



Im Frühjahr 2022 hat der Lenkungskreis der Plattform Industrie 4.0 mit der Initiative „Manufacturing-X“ ein weiteres Kapitel der industriellen Digitalisierung aufgeschlagen. Worum geht es dabei eigentlich genau – oder wurde nur ein neues Schlagwort geschaffen?

G. Kegel: Manufacturing-X soll ein data space, also ein industrieller Datenraum werden, in dem auch mittelständische Unternehmen ihre Daten effizient und sicher austauschen können. Der Austausch dieser in standardisierten, offenen Datenmodellen strukturierten Daten ist die Grundlage moderner, digitaler, datengetriebener Geschäftsmodelle. Heute schauen wir mit Stolz auf die realisierten, digitalen Leuchtturmprojekte und stellen frustriert fest, dass die Skalierung dieser Leuchttürme an den enorm hohen Kosten der Integration proprietärer Daten scheitert. Diese Kosten können durch die in Manufacturing-X zu Grunde gelegten offenen, standardisierten Datenmodelle signifikant reduziert werden. Die Partner digitaler Geschäftsmodelle brauchen so nur einmal ihre proprietären Daten in ein standardisiertes Datenmodell zu übertragen und können dann ohne weiteren Aufwand unterschiedliche digitale Geschäftsmodelle mit unterschiedlichen Partnern aufsetzen. Dabei wollen wir von Catena-X lernen und gleichzeitig die „Policies, Rules und Guidelines“ von Gaia-X verwenden, um dem Manufacturing-X-Datenraum von Anfang an die größtmögliche Vertrauenswürdigkeit zuzuordnen. Diese digitalen Geschäftsmodelle werden wir auch brauchen, wenn wir die Energieeffizienz weiter erhöhen wollen.

Betrachtet man den Fortschritt der digitalen Transformation in der Industrie, kann man feststellen, dass sie hierzulande in vielen Industriesektoren in vollem Gange ist – außer in der Prozessindustrie. Ist die Prozessindustrie das Sorgenkind der Digitalisierung und welche Lösungsansätze bieten Ihr Unternehmen und die Firmen des ZVEI der Prozessindustrie?

G. Kegel: Die Prozessindustrie unterscheidet sich gravierend von der Fertigungsindustrie: Der eigentliche Wertstrom ist nahezu vollständig automatisiert, die abzusichernden Risiken sind immens und die Anlagenlaufzeit ist deutlich länger. Diese Faktoren führen zu einer anderen Bewertung des Nutzens und der notwendigen Investitionen in die Digitalisierung des Shopfloors in der Prozessindustrie. Auch für Digitalisierung gilt: Sie ist kein technologischer Selbstzweck, sondern muss einen Nutzen stiften, der die notwendigen Investitionen möglichst schnell und möglichst deutlich übersteigt. Dabei darf die Digitalisierung die funktionale Sicherheit der Anlage, den Explosionsschutz und die Umweltsicherheit unter keinen Umständen kompromittieren und gleichzeitig muss die gewohnt hohe Anlagenverfügbarkeit weiter gewährleistet bleiben.

 

KI ist für unsere Ingenieure und
Produkt- und Verfahrensentwickler ein
gigantischer neuer Werkzeugkoffer.



Was kann KI, die künstliche Intelligenz, für die Prozessindustrie bewirken bei den „4D“ Digitalisierung, Dekarbonisierung, Demografie und De-Globalisierung? Kann man sich der KI beim industriellen Digitalisierungsprozess heute überhaupt noch entziehen?

G. Kegel: Die Frage ist, warum sollte man sich der KI entziehen wollen? KI ist für unsere Ingenieure und Produkt- und Verfahrensentwickler ein gigantischer neuer Werkzeugkoffer, der leicht anzuwenden und mit überschaubaren Investitionskosten zu haben ist. Da wir im B2B -Bereich arbeiten, sind die europäischen Ängste vor Missbrauch und Unkontrollierbarkeit von KI auch nicht wirklich relevant. KI wird uns helfen, den Betrieb und die Wartung und Instandhaltung von Prozessanlagen deutlich effizienter und damit weniger personalintensiv zu betreiben. Die Anlagenverfügbarkeit kann durch Algorithmen der KI noch einmal erhöht werden. Im Bereich komplexer Prozesse – zum Beispiel der Bioprozess in der Pharmaherstellung – kann KI helfen, die Prozesse zu modellieren und Regelstrategien zu entwickeln. Wenn wir die ersten sind, die KI in industriellen Prozessen erfolgreich nutzen, kann das auch wieder zu einem Innovationsvorsprung auf dem „Shopfloor“ führen.

Das Zukunftsbild der All Electric Society, die ja der ZVEI propagiert, beschreibt eine Welt, in der Energie aus erneuerbaren Ressourcen in ausreichendem Maße und bezahlbar zur Verfügung steht. Ist das nicht eher ein Mythos denn machbare Realität?

G. Kegel: Nein, vor allem dann, wenn man das Zielbild der „All-Electric-Society“ technologieoffen denkt und auch grünen Wasserstoff und zum Beispiel E-fuels in dieses Zielbild mit einflechtet. Perspektivisch werden wir elf Milliarden Menschen auf der Welt nicht durch den Verbrauch nicht-erneuerbarer Rohstoffen zu Bildung, Gesundheit und Wohlstand führen. Das wird nur gelingen, wenn wir die weltweiten Wirtschaftssysteme konsequent in Kreislaufwirtschaften verwandeln. Ein erster wichtiger Schritt ist der Aufbau einer vollständig dekarbonisierten Energieversorgung, die wiederum die vorhandenen Ressourcen mit maximaler Effizienz nutzen. Wir haben den Ausbau der Erneuerbaren und des Stromverteilnetzes bereits deutlich beschleunigt, wenn auch die Ausbaugeschwindigkeit noch immer nicht ausreichend ist. Während wir die überbordende Bürokratie überall zurecht kritisieren, hat sich im Bereich der Erneuerbaren ein deutlicher Abbau an Bürokratie vollzogen.

Bei Ihrer Wiederwahl als Präsident des ZVEI haben Sie gesagt, den Dialog mit Politik und Gesellschaft weiter zu intensivieren. Wie wollen und können Sie in einer immer komplexeren und intensiv vernetzten Welt populistischen Strömungen entgegentreten, die mit scheinbar einfachen Lösungsvorschlägen den Sorgen vieler Menschen begegnen?

G. Kegel: Es sind immer schwer zu vermittelnde, komplizierte und komplexe Herausforderungen. Deren Zielstellung lässt sich aber auch ohne Populismus häufig einfach umreißen. Die Herausforderung ist die Umsetzung: Hier ist es unseriös, wenn man die Umsetzungshemmnisse schlicht ignoriert. Ein Beispiel: Mit Amtsantritt der Ampel war schnell erkennbar, dass Deutschland im Ausbau der Erneuerbaren deutlich zu langsam ist. Der Ausbau von Off-Shore-Wind­anlagen war 2020/2021 nahezu vollständig zum Stillstand gekommen. Die Lösung war schnell skizziert: Vereinfachung der Antragstellung und Genehmigungsverfahren und der Aufbau von zum Beispiel fünf bis sechs Windkraftanlagen pro Tag in Deutschland. Nach zwei Jahren haben wir – trotz erkennbarer Verbesserung – diese Ausbaugeschwindigkeit noch immer nicht erreicht. Auch unserer Politik stehen zu viele bürokratische und rechtsstaatliche Hürden im Weg, um schnell voran zu kommen. Die Arbeit des ZVEI konzentriert sich neben der Beratung in strategischen, inhaltlichen Fragen der Elektro- und Digitaltechnik deshalb vor allem auf die Unterstützung der Politik, die Umsetzungsgeschwindigkeit zu erhöhen und die Bürokratie entschlossen zurückzubauen.

ZUR PERSON
Gunther Kegel begann seine berufliche Laufbahn nach dem Studium der Elek­trotechnik und Promotion an der TU Darmstadt bei Pepperl + Fuchs in Mannheim, Hersteller von Elektronik für die Fabrik- und Prozessautomation, und ist heute Vorstandsvorsitzender der Pepperl + Fuchs Gruppe. Er ist Präsidiumsmitglied des VDE und Mitglied in verschiedenen Aufsichtsratsgremien und Beiräten, Vorsitzender des Ausstellerbeirates der Hannover Messe sowie Mitherausgeber der Zeitschrift ATP. Seit ­Oktober 2020 ist er Präsident des ZVEI.

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