Mehr Tempo möglich: Standortleiter fordert schnellere Genehmigungen
Interview mit Bernd Vendt, Chemiepark Marl, über Zukunftskonzepte deutscher Chemiestandorte
Angesichts hoher Energiepreise, einem Mangel an Fachkräften und hoher Umweltauflagen scheint die Attraktivität des Wirtschaftsstandorts Deutschland international deutlich nachzulassen. Der Chemiepark Marl, einer der größten Chemiestandorte in Deutschland und gleichzeitig der größte Produktionsstandort von Evonik, stellt sich angesichts der Herausforderungen zukunftssicher auf. Der Produktionsschwerpunkt im 1938 gegründeten Standort ist heute die Herstellung von Basis-, Fein- und Spezialchemikalien. Die rund 100 Produktionsanlagen von Evonik und den weiteren Standortunternehmen stehen in einem engen stofflichen und energetischen Verbund. Der Energiebedarf des Chemieparks wird durch die Erzeugung von Strom und Dampf in umweltfreundlicher Kraft-Wärme-Kopplung gedeckt. Dafür werden zwei eigene Gas- und ein Kohlekraftwerk betrieben. Welche strukturellen und organisatorischen Veränderungen sind notwendig, um den künftigen Anforderungen gerecht zu werden? Oliver Pruys sprach mit dem Standortleiter des Chemieparks Marl, Bernd Vendt, über Zukunftskonzepte deutscher Chemiestandorte in Zeiten der Transformation.
CHEManager: Herr Vendt, wie lässt sich die Wettbewerbsfähigkeit des Chemiestandorts Deutschland erhalten? Was tut der Chemiepark Marl dafür?
Bernd Vendt: Seit einigen Jahren steht die chemische Industrie vor vielen Herausforderungen: Die Coronapandemie mit weltweit gestörten Lieferketten, der Krieg in der Ukraine, der die deutsche Erdgas- und Energieversorgung auf den Kopf gestellt hat, und nun die weltweite Nachfrageschwäche. Um die Versorgungssicherheit und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten, haben wir im Chemiepark reagiert und unser Kohlekraftwerk mit Beginn des Ukraine-Kriegs weiter betrieben. Mit dem Ausstieg aus der Steinkohle sollte es abgeschaltet werden. Damit hätten wir 1 Mio. t CO2 eingespart. Ein wichtiger Beitrag zu den Klimaschutzzielen von Evonik. Der Weiterbetrieb des Kohlekraftwerks war aber nicht einfach: Mitarbeiter, Kohle, Instandhaltung und nicht zuletzt Genehmigungen fehlten. Dafür mussten wir mehr als 10 Mio. EUR investieren. Gleichzeitig setzen wir auf unsere ressourcenschonenden Gaskraftwerke, die wir auch mit LPG und mit Restgasen aus der Chemieproduktion betreiben können.
Ob Investitionen in neue Gaskraftwerke oder in Anlagen für die Chemieproduktion – ein ganz eigenes Thema, dabei sind Umweltauflagen und Genehmigungen bislang sehr schwierig…
B. Vendt: Umweltauflagen und Genehmigungsverfahren sind in der Tat ein ganz eigener Punkt. Hier lässt sich klar feststellen, dass wir deutlich zu langsame Prozesse haben – in der Genehmigung und in der Förderung von Maßnahmen. Diesen Punkt haben wir auch beim Besuch von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im Juli angesprochen. Es darf nicht sein, dass wir bei europäischen Fördergenehmigungen Jahre lang darauf warten müssen, einen positiven Bescheid für Projekte zu bekommen. Das fängt vor den Toren des Chemieparks an: Wenn für den Ersatz einer Autobahnbrücke alle Umweltgutachten erneuert werden müssen. Hier brauchen wir sinnvolle und effiziente Lösungen. Seit Jahren mahnt die Wirtschaft mehr Tempo an. Dass dies möglich ist, zeigen die kurzfristig errichteten LNG-Terminals unter anderem in Wilhelmshaven und Lubmin.
Vor diesem Hintergrund: Wie wollen Sie es künftig schaffen, Investoren an ihren Standort zu locken?
B. Vendt: Der Chemiepark Marl ist durch die zentrale Lage im nördlichen Ruhrgebiet bestens vernetzt. Auf 600 ha arbeiten 18 internationale Unternehmen in einem effizienten Verbund. Wir sind der größte Standort von Evonik und stellen als Standortbetreiber gleichzeitig eine seit Jahrzehnten bewährte weitreichende Infrastruktur zur Verfügung. Neben einer hervorragenden Energie- und Hilfsmittelversorgung und der Verbundwirtschaft der einzelnen Chemieproduzenten hat der Chemiepark eine exzellente Anbindung an die öffentlichen Stromnetze und eine trimodale Verkehrsanbindung – Wasser, Schiene und Straße sowie Pipelines. Darüber verlassen jedes Jahr etwa 4 Mio. t Produkte den Standort. Damit ermöglichen wir den Unternehmen eine gute Grundlage, sich voll auf ihr Kerngeschäft zu konzentrieren. In den vergangenen Jahren wurden rund 1,5 Mrd. EUR in den Chemiepark Marl investiert. Produktionsanlagen für Polyamid12 von Evonik, für Cumol von Ineos und in die Infrastruktur, die Erneuerung des Kraftwerksparks. Auch aktuell haben wir einige interessante Ansiedlungsprojekte.
„In den vergangenen Jahren wurden rund 1,5 Mrd. EUR in den Chemiepark Marl investiert."
Welche Rolle könnten der Ausbau und die Verbesserung der Infrastruktur dabei spielen, die Wettbewerbsfähigkeit zu stärken?
B. Vendt: Wir brauchen mehr Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur. Die Wege über Wasser, Schiene und Straße funktionieren nur noch eingeschränkt gut. Besonders bei den Wasserwegen ist der Sanierungsbedarf hoch. Ein Viertel der in Marl verarbeiteten Rohstoffe wird zuvor über den Rhein transportiert. Das entspricht pro Jahr den Ladungen von rund 2.000 Binnenschiffen. Ein Ausweichen auf Schiene und Straße ist weitgehend unmöglich. Die Schleusen an vielen wichtigen Knotenpunkten deutscher Kanäle sind stark veraltet, die Brücken sind für moderne Schiffe deutlich zu niedrig. Die baulichen Mängel der Schleusen im Wesel-Datteln-Kanal sind inzwischen sprichwörtlich. Es kommt immer wieder zu Verspätungen. Wenn die Schiffe vor einer defekten Schleuse warten, muss im Werk umgeplant werden. Ähnlich sieht es bei der Bahn aus. Auch hier ist die Infrastruktur marode, werden ganze Strecken für Bauarbeiten gesperrt. So läuft viel über die Straße, obwohl das die umweltunfreundlichste – und bei dem hohen Verkehrsaufkommen – die unpünktlichste Möglichkeit ist.
Produkte, Anlagen, Infrastruktur: Gibt es auch übergeordnete Konzepte für den Standort in Zeiten der Transformation?
B. Vendt: Die Kernthemen der grünen Transformation sind Strom und Wasserstoff. Das sind wesentliche Voraussetzungen zum Gelingen der Transformation. Strom, in ausreichendem Maße und zu weltwirtschaftlich konkurrenzfähigen Konditionen, wird eminent wichtig.
„Es darf nicht sein, dass wir Jahre auf Genehmigungen warten müssen."
Gibt es beim Thema Wasserstoff Hemmnisse, und wenn ja, welche?
B. Vendt: Wasserstoff, insbesondere der grüne Wasserstoff, hat großes Zukunftspotenzial. Der Chemiepark Marl mit seinen rund 100 Produktionsanlagen ist ein großer Wasserstoffverbraucher und -produzent zugleich. Wir springen hier auf keinen Zug auf, sondern sind schon lange im Thema. Wasserstoff begleitet uns in der Produktion seit mehr als 70 Jahren. Wir verarbeiten rund 25.000 m³ pro Stunde – derzeit konventionell hergestellt auf Basis von Erdgas.
Der Chemiepark Marl ist übrigens ein wichtiger Standort im Projekt „Get H2 Nukleus“, der Schaffung einer bundesweiten Wasserstoffinfrastruktur über Pipelines, die die Umsetzung der Energiewende möglich machen soll. Hinter der Initiative stehen Unternehmen, Kommunen und Institutionen, die sich aktiv für die Schaffung eines wettbewerbsorientierten Wasserstoffmarkts einsetzen. Mit der bestehenden Wasserstoffinfrastruktur und der Expertise beim Bau und beim Betrieb von Pipelines ist Evonik einer der Gründungspartner.
In Marl beschäftigen wir uns für die Langfristplanungen auch damit, die Rohstoffbasis für die Chemie von Erdöl unabhängig zu machen. Beispielhaft ist hier „Rheticus“ zu nennen – ein vom Bundesministerium für Bildung und Forschung – BMBF – gefördertes Projekt, mit dem Ziel, aus Kohlendioxid und Wasserstoff Basischemikalien herzustellen. Die notwendige Energie liefert Strom aus erneuerbaren Quellen. Wir haben dazu eine Versuchsanlage im Chemiepark installiert, um mit künstlicher Fotosynthese zum Gelingen der Energiewende beizutragen.
Wenn die Produktion umgestellt wird, bedeutet das strukturelle und organisatorische Veränderungen. Was ist notwendig, um den Anforderungen der Industrie 4.0 gerecht zu werden?
B. Vendt: Es ist wesentlich, dass wir vernetzt sind und Synergien nutzen, um den Anforderungen gerecht zu bleiben. Dazu bleibt es für uns wichtig, Rohstoffe via Pipeline vom BP-Raffineriestandort in Gelsenkirchen-Scholven zu beziehen. So können wir Versorgungssicherheit garantieren. Digitalisierung gehört natürlich auch zu diesem Thema. Deshalb fangen wir schon in der Ausbildung an, digital zu arbeiten, um das Know-how in die Produktionsabläufe transportieren zu können. Jeder Auszubildende bekommt ein Tablet und hat Zugriff auf eine Mediathek mit Lerninhalten, abrufbar zu jeder Zeit, an jedem Ort. Ein weiteres Beispiel ist digitales Schweißen. Hier gibt es direktes Feedback, eine sofortige Analyse über die Qualität einer Schweißnaht. Diese „innere Haltung“ möchten wir dauerhaft etablieren – dass Prozesse möglichst flächendeckend digital umgesetzt werden können, im Kleinen und im Großen.
Wo liegen die Schwerpunkte der Investitionen an Ihrem Standort?
B. Vendt: Wir investieren sukzessive in unsere Chemieproduktion. Bisher sind rund 1,5 Mrd. EUR in neue Produktionsanlagen geflossen. Beispielhaft zu nennen ist hier die Erweiterung der Produktion des Hochleistungskunststoffes Polyamid 12. Hier widmen wir uns – neben Anwendungen für den Automobilbau und bei Industrierohren – dem 3D-Druck, einem Thema mit Zukunftspotenzial.
Die Erneuerung und Ergänzung der Kraftwerkslandschaft ist ein weiterer Meilenstein für den Chemiepark. Ohne zukunftssichere Energieversorgung können wir den Standort nicht betreiben und können die Unternehmen nicht produzieren. Wir sparen mit den Gas- und Dampfturbinenkraftwerken 1 Mio. t CO2 ein. Das ist ein wichtiger Schritt in Richtung Klimaneutralität und hin zu regenerativer Energie. Wir sind außerdem dabei, uns um eine stärkere Wärmeintegration und die Einbindung von Elektrifizierung in die Wärmeversorgung via Wärmepumpen zu kümmern.
Ist das Betreiberkonzept der Chemieparks noch zeitgemäß? Bleibt der Fokus auf Produzenten der chemischen und pharmazeutischen Industrie oder sollten die Standorte ihre Tore auch noch mehr branchennahen Unternehmen öffnen?
B. Vendt: Das Betreiberkonzept ist definitiv zeitgemäß. Die Infrastruktur, die Chemieparks zur Verfügung stellen, wäre für den einzelnen Betreiber zu aufwändig und zu teuer, um sie selbst aufzubauen. Ob sich Chemieparks weiter öffnen sollten, auch für branchennahe Unternehmen, lässt sich pauschal nicht beantworten. Mit Interzero hat der Chemiepark Marl 2017 ein Unternehmen für Kunststoffsortierung angesiedelt. Aus dem gelben Sack können Kunststoffe in dieser modernen Anlage über 60 % sortenrein getrennt werden. Auch das chemische Recycling, eine innovative Technologie, hat zwar noch Verbesserungspotenzial, liefert aber schon erste Resultate. Evonik hat bereits Produkte aus recycelten Rohstoffen im Portfolio und entwickelt eigene Technologien. Der Energieeinsatz ist hoch, doch zahlreiche Studien zeigen: Verglichen mit der Müllverbrennung ist es die ökologisch sinnvollere Option.