Gefahr versus Risiko
Das Dilemma in der Risikokommunikation
Eine zuverlässige und verständliche Risikokommunikation ist beim Umgang mit Chemikalien unerlässlich. Doch gerade in der Risikokommunikation beobachten wir seit vielen Jahren, dass insbesondere die Begriffe Gefahr und Risiko oft synonym verwendet werden. Mit enormen Auswirkungen, vor allem, was die gesellschaftliche Akzeptanz so mancher Chemikalien betrifft.
Bekannte Beispiele solcher gesellschaftspolitischen Debatten sind Glyphosat und Titandioxid. Man kann sich diesem Phänomen in der Risikokommunikation auch von einer anderen Seite aus nähern. Beispiel Koffein: Dieser Stoff ist harmonisiert eingestuft als akut toxisch Kategorie 4 bei oraler Aufnahme, es geht also eine Gefahr von diesem Stoff aus. Doch bevor Sie nun zu dem Schluss kommen, in Zukunft auf den Genuss von Kaffee zu verzichten, kommt der Begriff Risiko ins Spiel. Denn eine differenzierte Betrachtung von Gefahr und Risiko ist an dieser Stelle essenziell. Eine Vergiftung durch Koffein, allein durch den Genuss von Kaffee, ist geradezu unmöglich, da hierzu der Konsum von ca. 118 Tassen Filterkaffee nötig wäre. Der Begriff Risiko berücksichtigt sowohl die stoffinhärenten gefährlichen Eigenschaften als auch die Exposition gegenüber einem Stoff.
Grundlagen für die Bewertung
Die Gefahr, die von einem Stoff ausgeht, ist eine stoffinhärente Eigenschaft desselben. Sie beschreibt das Potenzial, die Gesundheit zu schädigen. Das Risiko beschreibt die Wahrscheinlichkeit, ob oder in welchem Maße die Gesundheit geschädigt wird. Hierzu werden neben den stoffinhärenten Eigenschaften auch externe Faktoren wie z.B. die Expositionsmenge und -dauer sowie die Expositionshäufigkeit oder die Expositionsroute (oral, inhalativ oder dermal) betrachtet. Toxikologisch gesehen, ist das Risiko ein Produkt aus Gefahr und Exposition.
Das ‚Prinzip der Risikobewertung‘ findet sich anschaulich im Zoo. Der Löwe als eines der gefährlichsten Landraubtiere der Welt ist von sich aus gefährlich. Eine Begegnung in freier Wildbahn birgt ein hohes Risiko, zu Schaden zu kommen. Eine Begegnung im Zoo hingegen, bei der das Tier in einem Gehege eingefriedet ist, also keine Exposition zu erwarten ist, birgt ein geringes Risiko, zu Schaden zu kommen. In beiden Szenarien bleibt die Gefahr dieselbe, jedoch führt die Betrachtung der jeweils vorliegenden Expositionsmöglichkeiten zu einem entscheidend unterschiedlichen Risiko. Frei nach dem Grundsatz von Paracelsus ‚die Dosis macht das Gift‘, können fast alle Stoffe unter bestimmten (Expositions-) Bedingungen die Gesundheit schädigen und so ein hohes Risiko bergen, wie anhand des obigen Kaffee-Beispiels deutlich wird.
Dabei handelt es sich um ein hypothetisches Beispiel: sollten Sie jemals auf die Idee kommen, 118 Tassen Filterkaffee zu trinken, würden Sie tatsächlich zuerst an einer Wasservergiftung sterben, bevor die Auswirkungen des Koffeins zum Tragen kommen könnten. Der Vollständigkeit halber ist zu erwähnen, dass die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) bereits im Jahr 2015 eine Risikobewertung für den Konsum koffeinhaltiger Lebensmittel durchgeführt hat. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass eine Aufnahmemenge von 400 mg Koffein über den Tag verteilt kein gesundheitliches Risiko für einen gesunden Erwachsenen darstellt (für Schwangere 200 mg Koffein/Tag).
Das Konzept der Risikobewertung ist eine wichtige Grundlage der regulatorischen Toxikologie und findet in den verschiedensten Regularien Anwendung. Sowohl in der Risikobewertung von Chemikalien unter REACh als auch von Bioziden und Pflanzenschutzmitteln sowie Lebensmittelzusatzstoffen, Kosmetikprodukten und vielen Weiteren. Daher ist auch das Verständnis des Begriffs ‚Risikobewertung‘ in der Gesellschaft so wichtig und erfordert eine sorgfältige Risikokommunikation. Sowohl Industrie, Verbände, Politik, Behörden als auch Medien etc. sollten hier mit gutem Beispiel vorangehen. Insbesondere wenn es Unterschiede in einem Bewertungsansatz gibt oder die Risikobewertung mit diversen Unsicherheiten behaftet ist, sollten diese benannt werden.
Der Fall Glyphosat
Die wissenschaftliche und gesellschaftspolitische Debatte begann im Jahr 2015 mit der Einstufung von Glyphosat als wahrscheinlich krebserregend durch die Internationale Krebsforschungsagentur (IARC), welche zur Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehört. Andere Institute und Behörden kamen zu dem Schluss, dass Glyphosat nicht krebserregend sei. Hierzu gehören u.a. die europäische Chemikalienagentur (ECHA), die EFSA, die US-amerikanische Umweltbehörde (EPA) und auch das deutsche Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR). Mit ein Grund dieser voneinander abweichenden Ergebnisse sind Unterschiede der Bewertungsansätze der verschiedenen Institutionen. So bewertet die IARC die Gefahr, ob ein Agens krebserregend ist und somit generell eine Gefahr darstellen könnte – nicht aber das Risiko an Krebs erkranken zu können, das mit der Exposition dieses Agens verbunden ist. Weiterhin unterscheidet sich das methodische Vorgehen der Bewertung durch die IARC von dem anderer Institutionen. Die IARC legt ihren Einschätzungen öffentlich verfügbare Daten zugrunde, wohingegen z.B. der ECHA auch geschützte Daten für ihre Bewertung durch den jeweiligen Registranten bzw. Antragsteller zur Verfügung gestellt werden. Die Debatte ging medial und gesellschaftlich sogar so weit, dass auch der Konsum von Bier, welches Rückstände des Pflanzenschutzmittels enthält, heiß diskutiert wurde. Das BfR gab 2018 folgende Stellungnahme dazu ab: „Um gesundheitlich bedenkliche Mengen von Glyphosat aufzunehmen, müsste ein Erwachsener an einem Tag rund 1.000 L Bier trinken.“ Dieser Fall zeigte eindrucksvoll, dass die Kommunikation sowohl von Gefahr und Risiko als auch von den Methoden und Zielen, welche der Bewertung zugrunde liegen, äußerst wichtig ist und stets hinterfragt werden sollte.
„Eine differenzierte Betrachtung von Gefahr und Risiko ist essenziell.“
Der Fall Titandioxid
Ein anders gelagerter Fall ist die Diskussion um die Einstufung von pulverförmigem Titandioxid als wahrscheinlich krebserregend bei Inhalation. Der Vorschlag der französischen Agentur für Lebensmittelsicherheit, Umwelt und Arbeitsschutz (ANSES) aus dem Jahr 2015 führte zu einem heißen Diskurs in Industrie, Wissenschaft und Gesellschaft. Denn Titandioxid (TiO2) ist allgegenwärtig, z. B. in Farben, Lacken, Papier und Kunstoffen sowie in Lebensmitteln, Medizin und Kosmetikprodukten. 2017 kam die ECHA zu dem gleichen Ergebnis und im Oktober 2019 beschloss die EU-Kommission die harmonisierte Einstufung und Kennzeichnung von pulverförmigem TiO2 (mit mind. 1 % der Partikel mit aerodynamischem Durchmesser ≤ 10 µm) als vermutlich krebserregend beim Einatmen. Diese harmonisierte Legal-Einstufung gemäß CLP-Verordnung hatte gravierende Folgen, wie z.B. das Ergreifen von Maßnahmen zur Risikominderung – und zwar nicht nur im Chemikalienrecht, sondern in nahezu allen Rechtsnormen.
Die Einstufung wurde kürzlich durch das Gericht der Europäischen Union (EuG) mit dem Verweis, dass eine Einstufung, welche eine krebserregende Gefahr indiziert, auf stoffinhärenten Eigenschaften beruhen muss, für nichtig erklärt. Die ECHA hat die Gefahr von TiO2 jedoch nicht als eine intrinsische Eigenschaft im klassischen Sinn interpretiert. Stattdessen wurde die Gefahr, welche von bestimmten Titandioxidpartikeln in einer bestimmten Form, Größe und Menge ausgeht und nur bei einer Lungenüberlastung auftritt, auf den Stoff an sich übertragen. Gegen das Urteil des EuG wurde bereits Einspruch vor dem europäischen Gerichtshof (EuGH) eingelegt und somit wird die Diskussion um Gefahr und Risiko von TiO2 fortgeführt werden.
Das Dilemma zwischen Gefahr und Risiko
Umso wichtiger ist es also, dass alle Beteiligten ein sicheres Verständnis von Gefahr und Risiko haben und die Begriffe auch in der Öffentlichkeit differenziert verwendet werden. Denn das Dilemma zwischen Gefahr und Risiko wird sich nicht in Luft auflösen. Aber mit wissenschaftlicher Präzision und auch Medienkompetenz kann zumindest ein zielführender Diskurs in Industrie, Wissenschaft und Gesellschaft entstehen. Der Schlüssel hierzu ist eine zuverlässige und verständliche Risikokommunikation. Zuletzt sollten wir uns vor Augen führen, dass das Leben an sich riskant ist. So sollten wir uns nicht die Frage stellen ‚Wie sicher ist sicher genug?‘, sondern ‚Wie unsicher ist sicher genug?‘.
Autorin: Carina Schröder, Projektmanagerin im Bereich REACh/Toxikologie, UMCO GmbH, Hamburg
„Die Gefahr, die von einem Stoff ausgeht, ist eine stoffinhärente Eigenschaft desselben. Sie beschreibt das Potenzial, die Gesundheit zu schädigen. Das Risiko beschreibt die Wahrscheinlichkeit, ob oder in welchem Maße die Gesundheit geschädigt wird.“
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Zur Person
Carina Schröder beschäftigt sich seit 2016 mit der regulatorischen Toxikologie, insbesondere im Bereich der REACh-Verordnung. Im Zuge der Erstellung von Registrierungsdossiers befasst sich die studierte Biochemikerin schwerpunktmäßig mit der toxikologischen Beurteilung von chemischen Stoffen. Seit 2021 verhilft sie ihren Kunden bei UMCO zu pragmatischen Ansätzen bei federführenden Registrierungen und ist ebenso als Referentin in der hauseigenen Akademie anzutreffen.
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