Chemieanlagenbau sieht Chancen in der industriellen und digitalen Transformation
Neue Märkte im Blick
Der Auftragseingang im VDMA-Chemieanlagenbau – dieser Bericht versteht darunter Anlagen zur Herstellung von organischen und anorganischen Chemikalien sowie Luftzerlegungsanlagen und Anlagen zur Erzeugung von Industriegasen – hatte 2021 aufgrund von pandemiebedingten Nachholeffekten und einer Reihe von Groß- und Megaprojekten mit 7,3 Mrd. EUR ein Allzeithoch erreicht. 2022 sind die Bestellungen auf 2,5 Mrd. EUR und damit auf das durchschnittliche Niveau der Jahre 2015 bis 2020 gesunken. Die Bestellungen aus dem Ausland beliefen sich auf 2,3 Mrd. EUR (2021: 7,1 Mrd. EUR), im Inland wurden Aufträge in Höhe von 235 Mio. EUR (2021: 159 Mio. EUR) verbucht.
Die Rückgänge im Auftragseingang sind im Wesentlichen auf das Wegbrechen des in den vergangenen Jahren für den Chemieanlagenbau besonders wichtigen russischen Marktes zurückzuführen. Viele der dortigen Projekte mussten 2022 infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine und der westlichen Wirtschafts- und Finanzsanktionen gestoppt bzw. storniert werden.
Marktchancen im Ausland
Im Gegenzug ergeben sich durch die nun dringend erforderliche Neuausrichtung der Energieversorgung in Europa jedoch auch Marktchancen, durch die an anderer Stelle ausbleibende Aufträge teilweise kompensiert werden können. Eine verstärkte Projekttätigkeit war in den vergangenen Monaten etwa in Deutschland und Großbritannien festzustellen. Eine wichtige Rolle spielten hierbei der Bau von LNG-Terminals sowie die Planung und Errichtung von Elektrolyseuren zur Herstellung von grünem Wasserstoff. Darüber hinaus wird ein deutlicher Anstieg des Bedarfs an Spezialgasen für die Produktion von Mikrochips im Zuge des beabsichtigten Ausbaus der Halbleiterindustrien in Asien und in Europa erwartet. Der kürzlich von der EU verabschiedete European Chips Act benennt hierfür ein Investitionsvolumen von 43 Mrd. EUR bis 2030. Die Anbieter von Anlagen zur Gaserzeugung und zur Luftzerlegung könnten von diesen Plänen in starkem Maße profitieren.
„Dem Chemieanlagenbau kommt bei der Umsetzung der Klimatransformation eine Schlüsselrolle zu.“
Im Zuge der öffentlichen Debatte um den Inflation Reduction Act (IRA) der USA werden häufig Befürchtungen einer signifikanten Verlagerung von Industriewertschöpfung und Arbeitsplätzen in die USA geäußert. Der VDMA-Chemieanlagenbau teilt diese pessimistische Sichtweise nicht und betont vielmehr die mit den Plänen der US-Regierung verbundenen Marktchancen für deutsche und europäische Unternehmen mit Projektgeschäft. Die Investitionsanreize in Form von Steuergutschriften begünstigen Vorhaben im Bereich der erneuerbaren Energien und wirken sich vornehmlich auf Sektoren aus, die Teil dieser Wertschöpfungsketten sind, doch auch andere Branchen könnten indirekt profitieren. Der Chemieanlagenbau erwartet in den kommenden Jahren in den USA eine Vielzahl von durch den IRA stimulierten Großprojekten, etwa im Bereich der Wasserstoffelektrolyse, sowie den Bau von Anlagen zur Herstellung von blauem und grünem Ammoniak. Ammoniak eignet sich gut für den globalen Transport per Schiff; er kann aber auch per Pipeline verteilt werden und dabei helfen, die steigende Nachfrage von US-Unternehmen nach Lösungen zur Dekarbonisierung industrieller Prozesse zu decken.
Deutschland wird auch nach dem Ende des fossilen Zeitalters auf Energieimporte im großen Stil angewiesen sein. Regenerativ erzeugter Strom, synthetische Kraftstoffe sowie grüner und blauer Ammoniak, Methanol und Wasserstoff spielen hierbei eine wichtige Rolle. Partnerschaften mit Ländern, die günstige Voraussetzung für die wirtschaftliche Erzeugung nachhaltiger Energieträger haben, stehen daher zunehmend im Fokus der Energiepolitik. Die Bundesregierung setzt in der Nationalen Wasserstoffstrategie gezielt auf Kooperationen – u. a. mit sonnenreichen Ländern in Afrika sowie im Mittleren Osten. Auch rohstoffreiche Staaten wie Australien und Kanada könnten im Zuge der strategischen Neuausrichtung der europäischen Energiepolitik wieder stärker in den Fokus des VDMA-Chemieanlagenbaus rücken.
Die hier beschriebenen Marktverschiebungen spiegelten sich bereits 2022 in den Auftragszahlen der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau (AGAB) wider. Während die Bestellungen des Chemieanlagenbaus in Osteuropa (inkl. Russland) um mehr als 90 % zurückgingen, gab es in Europa, Nordamerika, dem Mittleren Osten und Ostasien zum Teil deutliche Zuwächse. Besonders bemerkenswert war das Wachstum im vergangenen Jahr in den USA (plus 220 %), im Mittleren Osten (plus 160 %) und in China (plus 95 %). Im Zuge dieses Aufschwungs wurden Großaufträge aus Katar für den Bau einer Megaanlage zur Produktion von grünem Ammoniak sowie aus den USA für die Lieferung einer World-Scale-Anlage von blauem Ammoniak gemeldet.
„Der Chemieanlagenbau erwartet in den kommenden Jahren in den USA eine Vielzahl von Großprojekten.“
Digitalisierung verbessert Workflows
Während der Pandemie hat die Digitalisierung von Arbeitsabläufen im Chemieanlagenbau schlagartig an Bedeutung gewonnen. Corona hat wesentlich dazu beigetragen, bereits vorhandene, aber selten genutzte Formen der virtuellen Zusammenarbeit als neuen globalen Standard zu etablieren und Prozesse damit grundlegend zu vereinfachen. Beispiele hierfür sind etwa die wachsenden Möglichkeiten des virtuellen Anlagenbetriebs (Remote Operation), der vorausschauenden Wartung (Predictive Maintenance) und der virtuellen Inbetriebnahme (Remote Commissioning) sowie von 3D-Rundgängen (VR Tours) in Chemieanlagen. All diese Maßnahmen werden auch in einer Post-Covid-Welt wichtige Ansatzpunkte für die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit im Chemieanlagenbau sein. Darüber hinaus wurden während der Pandemie auch neue Produkte wie etwa der digitale Zwilling (Digital Twin) und Algorithmen, die auf Basis künstlicher Intelligenz die Produktivität von Anlagen kontinuierlich optimieren, weiterentwickelt und zur Marktreife gebracht.
Chemieanlagenbau ermöglicht Dekarbonisierung
Der Chemieanlagenbau ist ein unverzichtbarer Partner bei der globalen Nachhaltigkeitswende. Das Portfolio der Unternehmen umfasst effiziente Verfahren und innovative Anlagen und kombiniert diese Lösungen mit der Fähigkeit, Technologien vom Labormaßstab schrittweise in ein industrielles Format zu skalieren. Damit werden die Voraussetzungen geschaffen, die am Markt benötigten enormen Mengen an grünen Chemikalien, Treibstoffen und anderen Energieträgern kostengünstig zu produzieren, zu transportieren und den Endkunden zur Verfügung zu stellen. Zu den Angeboten der Branche zählen bspw. Wasserelektrolyseanlagen, elektrisch beheizte Steamcracker-Öfen, Raffinerien für synthetische Kraftstoffe, Großanlagen zur Herstellung von blauem und grünem Ammoniak sowie Verfahren zur Abscheidung, Nutzung und Sequestrierung von Kohlendioxid (CCUS). Mit Hilfe dieser Technologien können ganze Industriezweige sowie Teile des Transport- und Energiesektors schrittweise dekarbonisiert werden.
Jedoch erweist sich die Verfügbarkeit von erneuerbarem Strom in großen Mengen und zu wirtschaftlichen Kosten als kritischer Erfolgsfaktor auf dem Weg zur Treibhausgasneutralität. Darüber hinaus fehlen derzeit noch große Referenzenanlagen zur Herstellung von grünem Wasserstoff: Anlagengrößen bis 25 MW sind marktüblich und Kapazitäten von 100 bis 200 MW befinden sich im Bau. Die für die angestrebten Klimaziele notwendigen Großanlagen im Gigawattbereich gibt es aber noch nicht (vgl. Beitrag auf Seite 17). Die kommerziellen Risiken, die beim Bau solcher Prototypen eingegangen werden müssen, stellen eine hohe Hürde für die Projektrealisierung dar. Um die gewünschte Entwicklung zu einer Wasserstoffwirtschaft zu beschleunigen, könnten staatliche Garantien und eine (zeitlich begrenzte) Anschubfinanzierung nützliche Hilfen für den Anlagenbau sein.
„Deutschland wird auch nach dem Ende des fossilen Zeitalters auf Energieimporte im großen Stil angewiesen sein.“
Insofern ist es unabdingbar, Zwischenschritte einzuplanen. Bis genügend Wind- und Solarstrom zu wettbewerbsfähigen Preisen zur Verfügung steht und die Herausforderungen beim Bau von Großelektrolyseuren gelöst sind, werden CCUS und blauer Wasserstoff/Ammoniak wichtige Brückentechnologien sein. Schließlich kann der Übergang von einer Wirtschaftsform, die überwiegend auf der Nutzung fossiler Energien basiert (grau) zu einem ausschließlich auf der Nutzung regenerativer Energien beruhenden Modell (grün) nur über einen Mix aus grünen und aus fossilen Energieträgern mit integrierter CO2-Speicherung und -Nutzung (blau) gelingen.
Wachstumsperspektiven dank neuer Märkte und industrieller Transformation
Trotz eines herausfordernden Marktumfelds blickt der VDMA-Chemieanlagenbau mit Optimismus in die Zukunft. Schließlich kann die Branche bei einem der wichtigsten Themen der Zeit – dem Klimawandel – mit umfassender Technologiekompetenz punkten und den Kunden innovative Lösungen für eine höhere Energie- und Ressourceneffizienz ihrer Anlagen bieten. Der Investitionsbedarf in Klimaschutzprojekte und den nachhaltigen Umbau von Großanlagen ist enorm: Experten sprechen von mehr als 4,5 Bio. USD allein bis 2030. Ein erheblicher Teil dieser Summe wird in Anlagen zur Produktion von nachhaltigen Energieträgern und -speichern, von grünen Chemikalien sowie in Technologien zur Abscheidung und Speicherung von Kohlendioxid fließen.
Mit dem größten Investitionsprogramm, das die Welt je in so kurzer Zeit zu realisieren hatte, bieten sich den Chemieanlagenbauunternehmen hervorragende Perspektiven am Weltmarkt. Begünstigend kommt hinzu, dass einige Unternehmen wieder mehr Verhandlungsmacht besitzen und somit in der Lage sind, besonders unvorteilhafte Bedingungen in ihren Verträgen auszuschließen. In ersten Ansätzen sind damit im Chemieanlagenbau Tendenzen eines Verkäufermarkts zu erkennen – eine Situation, wie sie es zuletzt im Boom der Jahre 2006 bis 2008 gab.
Fachkräftemangel bremst Wachstum
Das Wachstum im Chemieanlagenbau wird derzeit vor allem von der fehlenden weltweiten Verfügbarkeit von qualifiziertem Fachpersonal gebremst. Viele Projekte können nur durch eine intelligente internationale Arbeitsteilung und die Nutzung von infolge des Ukrainekrieges freigewordenen inländischen Ressourcen planmäßig abgewickelt werden. Perspektivisch ist am Arbeitsmarkt für Ingenieure und gewerbliche Fachkräfte keine Entspannung in Sicht, vielmehr ist angesichts der Verrentung der Babyboomer-Generation – also der geburtenstarken Jahrgänge der 1950er- und 1960er-Jahre – mit einer weiteren Verknappung zu rechnen. Um die im Zuge der Nachhaltigkeitswende zu erwartende Projektflut im Chemieanlagenbau überhaupt bewältigen zu können, rücken daher technische Lösungen stärken in den Fokus: Der Einsatz von künstlicher Intelligenz und virtuellen Realitäten, die Digitalisierung von Arbeitsprozessen sowie die Teilautomatisierung von Abläufen auf Baustellen schaffen Möglichkeiten, Arbeitskräfte vor allem in den Bereichen Anlagenplanung, Bau und Montage sowie im Service und im Anlagenbetrieb zu unterstützen und in Teilen zu ersetzen. Darüber hinaus könnten die Potenziale von älteren Arbeitnehmern, Frauen, Geflüchteten und Menschen mit Behinderung durch die Bildung von diversen Teams noch besser als bislang zur Geltung kommen.
Fazit
Die Perspektiven der Branche sind vielversprechend. Schließlich kommt dem VDMA-Chemieanlagenbau bei der Umsetzung der Klimatransformation eine Schlüsselrolle zu, was auf mittlere und lange Sicht Wachstumsperspektiven verheißt und für volle Auftragsbücher und auskömmliche Margen sorgen sollte. Dabei lautet das gemeinsame Ziel aller Unternehmen: Net Zero!
Jürgen Nowicki, Vorsitzender des Vorstands der VDMA Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau (AGAB) und CEO von Linde Engineering
Downloads
Kontakt
VDMA Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau (AGAB)
Lyoner Str. 18
60528 Frankfurt
Deutschland
+49 69 66 03 0