Märkte & Unternehmen

Die Multikrise hat Deutschland ärmer gemacht

Ist das Geschäftsmodell des exportgetriebenen Wachstums überholt?

19.04.2023 - Ein starkes Europa ist eine wichtige geopolitische Rahmenbedingung, damit Deutschland ein florierender Industriestaat bleibt. Wirtschaftsexperte Professor Bert Rürup im Interview mit CHEManager.

Ukraine-Krieg, Energiekrise, Pandemiefolgen, Inflation, Fachkräftemangel und Klimawandel, die Herausforderungen für die deutsche Industrie sind aktuell höher und vielfältiger denn je. Andrea Gruß sprach mit Professor Bert Rürup, Chefökonom des Handelsblatts und Präsident des Handelsblatt Research Institute, über die Auswirkungen geopolitischer Trends und nationaler Standortbedingungen auf die Zukunftsfähigkeit der deutschen Industrie.

CHEManager: Herr Professor Rürup, wie bewerten Sie die wirtschaftliche Lage in Deutschland?

Bert Rürup: Der Großteil der Bevölkerung Deutschlands ist merklich ärmer geworden. Dem Land fehlt das Wachstum der vergangenen drei Jahre. Die wirtschaftliche Gesamtleistung ist nicht größer als zum Jahresende 2019, und der Wohlstand der meisten Menschen ist auf das Niveau des Jahres 2014 zurückgefallen. Betroffen von dieser Entwicklung sind vor allem die Beschäftigten, die Renten- und Sozialhilfeempfänger sowie der Bund, der sich massiv verschuldet hat. Dass dieser massive Wohlstandsverlust schnell aufgeholt werden kann, hoffe ich, habe aber meine Zweifel.

Was macht Sie skeptisch?

B. Rürup: Die deutsche Wirtschaft hat goldene Jahre hinter sich. Anfang der 1990er-Jahre entstand durch den Zusammenbruch des Ostblocks ein riesiger Niedriglohnmarkt vor unserer Haustür. Und ab dem Jahr 2000 kamen Impulse aus China hinzu, da sich das Land modernisierte und alles daransetzte, sich in die internationale Arbeitsteilung zu inte­grieren. In der Folge wuchs der Welthandel doppelt so schnell wie die Weltproduktion. Das war das sprichwörtliche Wasser auf die Mühlen des historisch gewachsenen deutschen Geschäftsmodells des exportgetriebenen Wachstums. Diese Epoche ist vorbei. Seit einigen Jahren wächst der Welthandel schwächer als die Weltproduktion.

Davon werden das verarbeitende Gewerbe und nicht zuletzt auch die exportorientierte chemische Industrie Deutschlands betroffen. Hinzu kommt, dass diese Branche in besonderem Maß auf kostengünstige Energie angewiesen ist, während die Energiepreise wohl noch eine ganze Zeit recht hoch bleiben dürften. Stark export­abhängige Unternehmen werden daher ihre Investitionen nach Maßgabe der Produktionskosten und Absatzmärkte steuern. Daher kann ich Herrn Brudermüller gut verstehen, wenn er die Forderungen der Bundesregierung, Mittel aus China zurückziehen, zurückweist und sagt: BASF hält an den Investitionsprojekten in China fest.

Welche geopolitischen Entwicklungen erwarten Sie in dieser Region? 

B. Rürup: China und Russland bilden einen neuen Block, mit Russland als Juniorpartner und billigem Energie- und Rohstofflieferanten. Das einzig Positive daran: Diese Blockbildung wird verhindern, dass Putin Atomwaffen einsetzt. Denn ein erklärtes Ziel der chinesischen Politik ist, dass das Land spätestens bis 2049 zur größten Ökonomie der Welt geworden ist. Die Regierung wird daher bis auf Weiteres alles verhindern, was zu weltwirtschaftlichen Turbulenzen führen könnte. 

Welche Entwicklung erwartet die deutsche Wirtschaft in den USA?

B. Rürup: Die USA haben sich seit Mitte des vergangenen Jahrzehnts vom multilateren freien Welthandel verabschiedet und setzen nunmehr auf eine national-ökonomische Politik – verbunden mit dem Ziel, den wirtschaftlichen Aufstieg Chinas zu bremsen. Mit dem Inflation Reduction Act kombiniert Präsident Biden Protektionismus mit ökologischen Zielen. Das ist eine Innovation, die mobiles Investitionskapital in die USA ziehen wird. Denn die ausgelobten Subventionen gibt es nur für in den USA produzierende Unternehmen. Das ist für die USA, deren industrielle Basis recht schwach ist, gut und richtig, für Deutschland und sein Geschäftsmodell des exportgetriebenen Industriewachstums aber eine Herausforderung – vorsichtig formuliert. Bereits heute werden mehr „deutsche Autos“ in China produziert als in Deutschland. Und das könnte künftig auch in den USA der Fall werden. 

„Ein starkes Europa ist eine wichtige geopolitische Rahmenbedingung, dass Deutschland ein florierender Industriestaat bleibt.“


Blockbildung zwischen China und Russland, Protektionismus in den USA – welchen Handlungsspielraum haben wir überhaupt noch?

B. Rürup: Die Europäische Union ist immer noch ein ähnlich großer Markt wie China. Die Antwort auf die geopolitischen Herausforderungen kann meines Erachtens nur eine europäische und keine genuin deutsche sein. Und dabei sollte klar sein, dass das Europa, welches diese Antwort geben kann, kein „deutsches Europa“ sein kann. Nur die mit einer Stimme redenden EU-Staaten hätten das Potenzial und Gewicht, einen Counterpart zu den USA und China/Russland zu bilden. Das könnte zumindest wirtschaftlich Stabilität schaffen – dreibeinige ­Tische wackeln nicht! 

Deutschland ist zwar noch die viertgrößte Ökonomie der Welt, aber dennoch zu klein im Vergleich zu den USA und China, als dass die deutsche Stimme allein hinreichend Gewicht hätte. Für mich steht fest, dass ein starkes Europa eine wichtige geopolitische Rahmenbedingung dafür ist, dass Deutschland auch in Zukunft ein florierender Industriestaat bleibt. Dieses Europa muss jedoch mit einer Stimme sprechen, die europäischen Wahlen müssen ernst genommen werden, und die politischen Vertreter müssen eine deutlich höhere Legitimation als gegenwärtig haben.

Wie können wir Europa stärken?

B. Rürup: Zum Beispiel durch einen europäischen Finanzminister, eine Überarbeitung der Verschuldungsobergrenzen der EU, für die es keinerlei analytische Begründung gibt, und – horribile dictu – auch durch Projekte, die über gemeinsame Schulden finanziert werden. 

Das heißt ein Aussetzen der Schuldenbremse?

B. Rürup: Gestatten Sie mir zuvor ein Wort zu den geltenden Verschuldungsgrenzen des Maastrichter Vertrags von 1992. Die dort vereinbarte Obergrenze für den Schuldenstand der Mitgliedsländer – nämlich 60 % im Verhältnis zur jeweiligen wirtschaftlichen Gesamtleistung – entsprach in etwa dem Durchschnitt der Verschuldung der damaligen zwölf Mitgliedsländer der Europäischen Gemeinschaft. Und bei einem unterstellten nominalen Wirtschaftswachstum von 5 % kann der Schuldenstand eines Landes 60 % nicht überschreiten, wenn das Haushaltsdefizit die Höhe von 3 % des Bruttoinlandprodukts nicht übersteigt. Eine überzeugende Begründung für diese Grenzen ist das nicht.

Nun zur deutschen Schuldenbremse, die nicht abgeschafft, wohl aber neugestaltet werden sollte. Schuldenbremsen zielen darauf ab, die Resilienz, die finanzwirtschaftliche Widerstandsfähigkeit, eines Staates zu sichern. Für diese Widerstandsfähigkeit gibt es meines Erachtens nur einen sinnvollen Maßstab: die Zins-Steuer-Quote, also den Anteil der Zinsausgaben am Steueraufkommen. Eine solche gesetzliche Obergrenze könnte zum Beispiel bei 8 % des Steueraufkommens festgelegt werden. Mitte der 1990er-Jahre lag diese Quote in Deutschland bei über 15 %. Heute sind es gut 3 %, die wahrlich keine Gefährdung der Resilienz der öffentlichen Finanzen darstellen. Solch eine neue Schuldenbremse wäre eine klügere Option als die geltende Regel.

Der Verband der Chemischen Industrie fordert einen Neustart in der Industriepolitik. Die Antwort auf den Inflation Reduction Act der USA sollte ein Regulation Reduc­tion Act sein, fordert der Industrieverband. Welche Rolle spielt staatliche Regulierung für das Gelingen der Transformation?

B. Rürup: Ohne Zweifel spielt die staatliche Regulierung eine große Rolle. Doch was konkret verändert werden sollte, das kann ich aus dem Stand nicht sagen. Jedenfalls hat der bestehende gesetzliche Rahmen den Welterfolg von BioNTech nicht verhindert. Ob Innovationen sich durchsetzen, hängt im Wesentlichen von den Personen ab, die sie entwickeln und umsetzen. Ein vielleicht größeres Problem als in der unbestreitbaren Regulierungsdichte in Deutschland sehe ich in den unendlich langen Genehmigungsverfahren. Die sind ein veritabler Hemmschuh. Reformbedarf sehe ich zudem bei der Unternehmensbesteuerung. Deutschland ist mittlerweile das Land mit den zweithöchsten Unternehmenssteuern. Die Abschreibungsbedingungen stammen zum Teil noch aus dem letzten Jahrhundert und sind nicht auf die Digitalisierung ausgerichtet. 

Eine umfassende Unternehmenssteuerreform können wir uns derzeit aus verschiedenen Gründen nicht leisten. Was sich der deutsche Fiskus aber leisten kann und sollte, ist die überfällige Modernisierung der Abschreibungsbedingungen. Denn verbesserte Abschreibungsvorschriften führen für die Unternehmen nicht zu nachhaltigen Steuerersparnissen, sondern zu Steuerstundungen. Auf diese Weise könnte man mit relativ wenig Geld ein beachtliches Investitionsfeuerwerk zünden. Der Preis für den Staat wäre ein kurzfristiger Einnahmeverlust durch temporäre Steuerausfälle. Unternehmen, die nicht selten einen kürzeren Planungshorizont haben als die öffentliche Hand, profitieren von verbesserten Abschreibungsbedingungen und können die gewonnene Liquidität nutzen, zum Beispiel um die Digitalisierung voranzubringen. 

Eine weitere Herausforderung am Standort Deutschland ist der demografische Wandel. Wie wirkt sich dieser auf die Wirtschaft aus?

B. Rürup: Der unmittelbar bevorstehende Alterungsschub wird das Wirtschaftswachstum bremsen. Im Zeitraum von 2025 bis etwa 2040 werden um die 4 Millionen Menschen mehr aus dem Erwerbsleben aussteigen als nachrücken. Um diese Lücke zu schließen, müssten neben 4 Millionen qualifizierten Arbeitnehmern etwa 3 Millionen Familienangehörige mit Wohnraum versorgt und gesellschaftlich integriert werden. Dass dies wirklich gelingt, sehe ich eher skeptisch. Meines Erachtens befinden wir uns am Beginn einer demografischen Knautschzone, die mit einem merklichen Rückgang des Trendwachstums verbunden sein wird. Wo der Bundeskanzler seine Erwartung eines neuen Wirtschaftswunders hernimmt, ist mir ein Rätsel. 

Erwarten Sie eine Lohn-Preis-Spirale aufgrund des Fachkräftemangels und der hohen Inflationsraten?

B. Rürup: Die Inflation dürfte uns wohl etwas länger als erwartet begleiten. Ich glaube nicht, dass wir noch 2024 wieder eine Zwei vor dem Komma der Inflationsrate sehen werden. Dennoch rechne ich nicht mit einer Lohn-Preis-Spirale. Natürlich werden die Löhne steigen, vor allem in Branchen, in denen Arbeitskräftemangel herrscht. Das hat aber nichts mit einer Lohn-Preis-Spirale zu tun, sondern ist ein Zeichen von Knappheit, die in einer Marktwirtschaft bekanntlich zu steigenden Preisen führen muss. Zudem sind die Unternehmensgewinne in der letzten Zeit kräftig gestiegen. Offensichtlich laufen die Preissetzungen vieler Unternehmen den Lohnkosten­erhöhungen voraus. Fakt ist, aus der ehedem importierten Inflation ist eine hausgemachte geworden.

Die Gewerkschaften haben insofern Glück, als dass die ersten Tarifrunden im öffentlichen Dienst, bei der Bahn und der Post stattfinden, also in Branchen, die nicht im internationalen Wettbewerb stehen. Da es hier kein wirkliches Arbeitsplatzrisiko gibt, sind die Forderungen entsprechend hoch. Bei den Industriegewerkschaften gehe ich davon aus, dass die Forderungen moderater ausfallen. Je größer eine Industriegewerkschaft und je mehr die Unternehmen dieser Branchen im internationalen Wettbewerb stehen, desto mehr setzen die Gewerkschaften – seit vielen Jahren – das Beschäftigungsziel vor das Einkommensziel.

Ich erwarte bis zum Ende dieses Jahres für die Gesamtwirtschaft einen moderaten Reallohnzuwachs, der aber die teils deutlichen Reallohneinbußen der letzten Zeit nicht wettmachen wird. Die Mehrzahl der Beschäftigten wird daher Ende dieses Jahres nach wie vor durchweg ärmer sein als Ende des Jahres 2019.

Werden wir den Wohlstandsverlust wieder aufholen?

B. Rürup: Die Multikrise hat Deutschland ärmer gemacht. Und wir müssen uns für eine Reihe von Jahren darauf einstellen, dass die deutsche Wirtschaft langsamer als in der Vergangenheit wächst und die Bürger anderer Staaten schneller wohlhabender werden. Das bedeutet keinen Niedergang Deutschlands. Das deutsche Geschäftsmodell wird sich ein Stück weit verändern, aber die Anpassungen dürften wie in der Vergangenheit von der Symbiose zwischen Politik, Unternehmen und Gewerkschaften getragen sein. Diese Kooperationsfähigkeit und -bereitschaft wird auch in Zukunft ein Wettbewerbsvorteil für den „Standort D“ sein.

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