Arzneimittelengpässe – der Preis entscheidet
Generikaproduktion in Europa lohnt sich nicht
Als es zum Jahresausklang 2022 wieder wochenlang zu Problemen bei der Versorgung mit wichtigen Arzneimitteln kommt, rufen Vertreter aus Industrie, Verbänden und Gesundheitspolitik erneut nach einer Rückverlagerung der Wirkstoffproduktion nach Deutschland und Europa. Doch in der Praxis ist das gar nicht so einfach. Eine entscheidende Rolle spielen dabei die niedrigen Preise für Generika. Sie machen eine Fertigung bei uns vor Ort unrentabel.
November 2012: Die Deutsche Krankenhausgesellschaft äußert sich alarmiert über die Versorgungssituation mit wichtigen Arzneimitteln in Kliniken. 2013: Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) veröffentlicht erstmals in einer Liste Lieferengpässe bei Arzneimitteln. April 2020: Die European University Hospital Alliance, ein Zusammenschluss von neun Universitätskliniken Europas, warnt, dass die Vorräte an wichtigen Anästhetika und Medikamenten für Intensivstationen bald nicht mehr ausreichen könnten. Juni 2020: Dass BfArM teilt mit, dass über 400 versorgungsrelevante, verschreibungspflichtige Medikamente von einem Lieferengpass betroffen sind.
Die Auflistung zeigt: Das Phänomen von Liefer- oder gar Versorgungsengpässen bei Arzneimitteln ist nicht neu, regelmäßig beherrscht es die Schlagzeilen – zuletzt Ende 2022. Mediziner und Apotheker berichten von knappen oder nicht verfügbaren Arzneimitteln. Das hessische Pharmaunternehmen Infectopharm schreibt in einem offenen Brief an Gesundheitsminister Karl Lauterbach, dass im Winter 2022/2023 Antibiotika für Kinder knapp werden könnten. Es drohten „erhebliche Versorgungsengpässe“ bei Penicillin und Amoxicillin-Säften. Der Apothekerverband Nordrhein warnt, dass weit über 1.000 Produkte nicht lieferbar seien, darunter wichtige Antibiotika. Das BfArM listet rund 300 Meldungen über Lieferengpässe auf. Knapp seien u. a. Fiebersäfte für Kinder sowie Hustenmittel, Blutdrucksenker, Brustkrebsmedikamente oder Magensäureblocker.
Engpässe um das Zwanzigfache zugenommen
Lieferengpässe mit Arzneimitteln kommen nicht nur regelmäßig hoch, sie werden sogar häufiger. Bereits 2020 stellte die EU-Kommission fest, dass sich Lieferengpässe in der EU zwischen 2000 und 2018 verzwanzigfacht hätten. Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) spricht in dem Zusammenhang von einer „großen Herausforderung“, die in absehbarer Zeit kaum lösbar sei.
Bei der Ursachenforschung zeigt sich: Unterschiedliche Faktoren können Medikamentenengpässe hervorrufen. Dazu zählen Probleme bei der Herstellung oder Parallelimporte, bei denen Preisunterschiede von Medikamenten in EU-Ländern ausgenutzt werden. Aber auch Quotenvorgaben, eine steigende Nachfrage aufgrund von Epidemien, Naturkatastrophen oder Protektionismus in den Produktionsländern können einen Medikamentenmangel verursachen.
Und doch gibt es einen wesentlichen Hebel, der insbesondere bei Generika, also patentfreien Nachahmerprodukten, immer wieder Engpässe hervorruft: „Die Ursache liegt in den Preisen für Arzneimittel. Die sind vielfach so gering, dass die Hersteller draufzahlten, wenn sie in Deutschland oder Europa produzieren würden“, sagt Morris Hosseini, Partner bei Roland Berger, im Gespräch mit CHEManager.
Tatsächlich werden die Preise von Generika in Deutschland bewusst niedrig gehalten. Preisdrückend wirkt bspw. die Nachfragemacht von Einkaufsgemeinschaften der Krankenhäuser. Wirksame Preisbildungsmechanismen sind außerdem die Ausschreibungen der Gesetzlichen Krankenversicherung, sog. Tender. Durch das vorgeschriebene Vergaberecht sind die Kassen gezwungen, Medikamente und Wirkstoffe dort einzukaufen, wo sie am billigsten sind.
„Das System ist sehr fragil. Die Abhängigkeit von Asien ist enorm.“
- Peter Stenico, Deutschlandchef von Sandoz
Eine wirtschaftliche Herstellung generischer Arzneimittel, darunter der so wichtigen Antibiotika, ist nach Auffassung von Branchenkennern damit nur durch Kosteneinsparungen in der Produktion möglich. Tatsächlich begründet die pharmazeutische Industrie die Verlagerung ihrer Wirkstoffproduktion zu Drittfirmen im Ausland mit dem zunehmendem Kostendruck.
„Es gibt in Teilen der Wertschöpfungskette eine extreme Verengung, vor allem auf die Produktionsstandorte China und Indien“, stellt Roland Berger-Mann Hosseini fest. Die Verlagerung der Wirkstoffproduktion hat dabei in den vergangenen Jahrzehnten stark an Fahrt aufgenommen. Während um 1980 noch etwa 80 % der aktiven pharmazeutischen Wirkstoffe (Active Pharmaceutical Ingredients; APIs) in der EU hergestellt wurden, ist diese Zahl nach Angaben der EU-Kommission seitdem auf unter 20 % gesunken. Andreas Burkhardt, General Manager von Teva in Deutschland und Österreich: „Es ist bei einigen Medikamenten nicht mehr wirtschaftlich, sie überhaupt noch zu produzieren. Also konzentriert es sich immer mehr auf weniger Hersteller.“
Mit potenziell schwerwiegenden Folgen: Kommt es in China oder Indien zu Produktions- und Lieferengpässen aufgrund von Fertigungsproblemen, Verunreinigungen oder Produktionsstopps, fehlen hierzulande dringend benötige Wirkstoffe. Peter Stenico, Deutschlandchef von Sandoz, sieht in diesen Verhältnissen eine große Gefahr: „Das System ist sehr fragil. Die Abhängigkeit von Asien ist enorm.“
Ruf nach mehr Unabhängigkeit von China
„Die aktuellen Lieferengpässe zeigen, was passiert, wenn die Politik die Kostenschraube überdreht.“
- Han Steutel, Präsident des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA)
Bemerkenswert ist, dass die Ursachen und die daraus resultierenden Probleme seit Jahren bekannt sind, ohne dass sich daran grundlegend etwas geändert hätte. Zumal die Politik seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine auch China gegenüber mit zunehmender Distanz begegnet. Unüberhörbar ist mittlerweile der Ruf nach mehr Vorsicht und Unabhängigkeit gegenüber dem autokratisch geführten Staat. „Über das Thema reden wir seit Jahren“, sagt Roland Berger-Mann Hosseini. Und Han Steutel, Präsident des Verbands forschender Arzneimittelhersteller (VfA), stellt fest: „Die aktuellen Lieferengpässe zeigen, was passiert, wenn die Politik die Kostenschraube überdreht.“
Klar ist allerdings auch: eine Lösung ist nicht einfach. Neben den vielfältigen Ursachen von Lieferproblemen spielt auch eine Rolle, dass unserem Gesundheitssystem ein komplexes Stakeholder-Geflecht zugrunde liegt. Da sind die Krankenkassen, deren Aufgabe es ist, eine bezahlbare Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Die Pharmahersteller wiederum sind ihren Aktionären verpflichtet und streben nach wirtschaftlicher Profitabilität. Die Krankenhäuser haben ihrerseits eine adäquate Versorgung der Patienten zum Ziel.
Entscheidend wäre aus Sicht von Roland-Berger-Manager Hosseini, bei der Preisgestaltung von Generika anzusetzen – also höhere Preise durchzusetzen: „Wenn man das nicht anpackt, wird sich an der Problematik auch nichts ändern.“ Ähnlich sieht das Teva-Manager Burkhardt, der im Sommer 2022 feststellte: „An das eigentliche Problem trauen sich die politischen Entscheider bislang nicht ran, obwohl die Einschläge näherkommen.“
Mehr Transparenz, Frühwarnsysteme und „Nearsourcing“
Stattdessen werden immer wieder alternative Vorschläge auf den Tisch gebracht. Dazu zählt die Forderung an die Hersteller nach mehr Transparenz in ihren Lieferketten. Das, so Hosseini, würde die Kosten wegen des damit verbundenen höheren Aufwandes allerdings eher weiter nach oben treiben. Auch ein Frühwarnsystem wird immer wieder ins Gespräch gebracht. Dieses könne Unregelmäßigkeiten im Transport vorhersagen. Zudem gibt es den Vorschlag, die Hersteller zu verpflichten, bestimmte Liefermengen sicherzustellen. Langfristig sollten die Arzneimittelhersteller zudem prüfen, ob „Nearsourcing“, also eine Produktion nahe zum Absatzmarkt in EU- oder EU-nahen Ländern mit geringeren Lohnkosten möglich ist. Entsprechende Überlegungen stellten bereits die EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides und der frühere deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn an.
Studie: Wirkstoffproduktion in Europa intensivieren
Doch ist es wirtschaftlich überhaupt möglich, Generika in Deutschland oder Europa zu wettbewerbsfähigen Konditionen herzustellen? Dieser Frage ging Roland Berger nach, als die Beratung Ende 2018 für den Verband Pro Generika am Beispiel Antibiotika untersuchte, ob und wie die Wirkstoffproduktion in Europa intensiviert werden könnte.
Konkret wurden verschiedene Produktionsszenarien für Cephalosporin-intermediates, einer Gruppe von Antibiotika, analysiert. Dabei zeigte sich, dass eine lokale Antibiotikawirkstoffproduktion in Deutschland für den deutschen oder europäischen Markt bereits nach Abzug der Herstellungskosten negativ wäre. Die Hauptgründe seien hohe Betriebs- und Investitionskosten.
Eine Rückverlagerung von Teilen der Antibiotikaproduktion wäre somit nur mit Hilfe einer gemeinsamen Initiative aller Stakeholdergruppen wie Industrie, stationäre und ambulante Versorger, Politik und Krankenkassen möglich. So müssten zum Ausgleich der finanziellen Verluste einer Produktion für Deutschland 55 Mio. EUR vom System getragen werden. Konkret wurden dabei drei Optionen erarbeitet:
- Langfristige Subventionen für den Aufbau pharmazeutischer Produktionsstandorte in Deutschland oder Europa.
- Direkte Eingriffe in die Preisgestaltung, bspw. Tender mit bestimmten hinterlegten Kriterien. Lokale Wertschöpfung bei uns könnte damit positiv gewertet werden.
- Vergütung nicht nur des Arzneimittels, sondern auch der Sicherstellung einer lokalen Produktion. Unternehmen erhielten also finanzielle Unterstützung dafür, dass sie Produktionsanlagen hierzulande vorhalten.
Lauterbach kündigt Gesetz an
Immerhin, Ende November 2022 stellt Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach angesichts der anhaltenden Arzneimittelengpässe Dringlichkeit fest: „Das Problem ist gravierend und hat sich zugespitzt. Das kann nicht weiter akzeptiert werden.“ Zugleich kündigt er ein neues Gesetz an, dass Lieferengpässe lösen soll. Wie dieses aussehen soll, ist bislang allerdings unklar.
Autor: Thorsten Schüller, CHEManager