Anlagenbau & Prozesstechnik

Die Nachhaltigkeitsprinzipien sind der Kompass

Der Beitrag der Chemie zu mehr Nachhaltigkeit – Interview mit Andreas Förster, Geschäftsführer der Dechema

02.10.2022 - Die Chemie kann einen entscheidenden Beitrag zur mehr Nachhaltigkeit und Ressourceneinsparung leisten. Im Interview mit CITplus erläutert Dr. Andreas Förster, Geschäftsführer der Dechema, welche Maßnahmen vonseiten der Industrie und der Gesellschaft möglich und notwendig sind. Dabei ist der Weg das Ziel, immer besser zu werden und die Nachhaltigkeitsprinzipien als Kompass einzusetzen

CITplus: Herr Förster, wir widmen uns heute dem Thema Nachhaltigkeit. Was bedeutet Nachhaltigkeit in der Chemie für Sie und lässt sich das genauer definieren?

Andreas Förster: Eine exakte Definition von Nachhaltigkeit in der Chemie ist aus meiner Sicht gar nicht möglich, weil die Chemie, ihre Produkte und ihre Anwendung so viele unterschiedliche Facetten haben. Nachhaltigkeit in der Chemie, so sehe ich es zumindest auch für die Dechema, ist eher ein Leitbild, um die Methoden der Chemie mit diesen Nachhaltigkeitsprinzipien in Einklang zu bringen. Aber es gibt natürlich wesentliche Merkmale für nachhaltige Chemie, wie die zwölf Prinzipien von Anastas und Warner. Doch bei nachhaltiger Chemie geht es auch um Transparenz, um ethische und soziale Verantwortung, es geht um den Systemgedanken. Nachhaltigkeit ist ja kein absoluter Wert, sondern ist immer vergleichend. Wir müssen auch über die chemischen Grenzen hinausschauen. So gibt es vielleicht auch Funktionalitäten, die wir eben nicht nur mit chemischen Methoden erreichen können. Und wenn diese Alternativen nachhaltiger sind als das, was wir mit der Chemie erreichen können, sollten wir uns auch diese anschauen. Chemie muss und kann nicht immer der Löser für alles sein.

Wenn Sie sich die globale Vernetzung anschauen, welche Aktivitäten für mehr Nachhaltigkeit in der Chemie bestehen und welche Meilensteine haben wir schon erreicht? Wie gut ist das Netzwerk oder wo kann da noch weiter ausgebaut werden?

A. Förster: In Deutschland ist die Denkweise der Nachhaltigkeit in der Chemie in die Entscheidungsfindung der Industrie eingeflossen und auch in die Lehre an den Hochschulen. Einige Chemiefirmen wollen bereits deutlich vor dem Jahr 2050 Treibhausgas-neutral werden – und damit deutlich vor den von der EU-Kommission gesetzten Zielen. Global gibt es natürlich deutliche Unterschiede. In Schwellenländern gilt es zunächst, ganz grundlegende Prinzipien anzusetzen wie das Sound Management of Chemicals. Wir sind beispielsweise Partner im Projekt ISC3 (International Sustainable Chemistry Collaborative Center), in dem es unter anderem um nachhaltige Innovationen und Unterstützung von Start-ups in Schwellen- und Entwicklungsländer geht.

Wenn Sie mit Blick auf die chemische Industrie die Anstrengungen zum Klimaschutz betrachten? Ist die chemische Industrie zu träge, um die bereits erreichten Forschungsergebnisse in die Praxis umzusetzen? Braucht es eher mehr oder weniger Regulierung? Woran hapert es, denn wir diskutieren die Themen schon mindestens zehn Jahre?

A. Förster: Die chemische Industrie ist nicht träge. Ich glaube, die chemische Industrie ist zum Teil sogar Vorreiter. Es gibt dazu prominente Beispiele auch hier aus Deutschland: Covestro zum Beispiel will bis 2030 mit ihren Scope 1 und Scope 2 Emissionen klimaneutral werden. Das Thema Regulierung kommt über die CSS, also Chemical Strategy for Sustainability seitens der Kommission wieder sehr stark in die Diskussion. Natürlich kann Regulierung auch ein Treiber von Innovation sein. Regulierung muss aber immer mit Augenmaß betrieben werden, damit sie die Vielfalt der Produkte und den Zweck nicht konterkariert. Es sollte möglich sein, in Europa nachhaltig zu produzieren und nicht Produkte aufgrund des Verbots von einzelnen Materialien aus dem Markt zu nehmen. Hinsichtlich des Tempos der Transformation ist zu beachten: Die Innovationszyklen in der chemischen Industrie sind sehr lang. Die Investitionen sind immens und wenn wir jetzt etwas anstoßen, dann wird es mindestens zehn Jahre dauern, bevor man die ersten Erfolge sehen kann. Das ist ein kontinuierlicher Prozess, in dem die Nachhaltigkeit stetig gesteigert wird.

2019 wurde die Roadmap Chemie 2050 ­veröffentlicht. Sind die darin formulierten, vordringlichsten Maßnahmen angesichts der stark steigenden Strompreise überhaupt noch realistisch?

A. Förster: Das ist zurzeit ein großes Problem. Doch durch den Ausbau der erneuerbaren Energien in Deutschland, in der EU und an anderen Spots weltweit wird der Strompreis wieder sinken. Nichtsdestotrotz sind das ambitionierte Ziele, nicht nur hinsichtlich des Preises, sondern auch des Stromvolumens. Allein für die chemische Industrie brauchen wir annähernd so viel Strom, wie derzeit insgesamt in Deutschland zur Verfügung steht. Eng verknüpft damit ist das Thema Wasserstoffwirtschaft und Zirkularität. Wir brauchen zunächst einmal die Produktion des Wasserstoffs mit Strom aus erneuerbaren Quellen – wir brauchen die Gigawatt-Elek­trolyse vor Ort. Dennoch werden wir nicht den gesamten Wasserstoff hier in Deutschland generieren können und auch weiterhin ein Importland bleiben. Als Dechema sind wir an großen Forschungsprojekten wie dem H2-Giga-Projekt und an den Kopernikus-Projekten beteiligt, aber auch zum Beispiel in TransHyDE, wo es um den Wasserstofftransport geht. Es tut sich sehr viel. Allerdings wird es noch eine Zeit lang brauchen, bevor die Ergebnisse über den Pilot- und Demonstrationsmaßstab tatsächlich in der Praxis umgesetzt werden können.

In der Roadmap wird ein Investitionsvolumen von 38 Milliarden Euro veranschlagt, um Scope 3 zu erreichen. Sind das Ziel und der Zeithorizont angesichts der steigenden Stromkosten und der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise in Gefahr?

A. Förster: Das Ziel darf sich nicht noch weiter nach hinten verschieben. Wir sind darauf angewiesen, dass wir mit den Maßnahmen, die jetzt nicht nur in der chemischen Industrie, sondern auch in anderen Industrien anstehen, Klimaneutralität erreichen. Ansonsten sind die Auswirkungen so dramatisch, dass die Kosten, die Sie zitiert haben, um ein Vielfaches steigen werden. Die Maßnahmen sind aus meiner Sicht alternativlos. Es gibt jedoch neben der Klimaneutralität noch einen weiteren Grund dafür: Was wir jetzt mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine erleben, führt uns vor Augen, wie abhängig wir von Importen, vor allem von Gasimporten, sind. Daher müssen wir unbedingt auf die Wasserstoffwirtschaft, das heißt auf erneuerbare Energien umsteigen. Zwar werden wir in Deutschland nicht den gesamten Bedarf selbst produzieren können, jedoch mit Staaten, denen wir vertrauen, eine Wasserstoffwirtschaft aufbauen müssen, um langfristig unabhängig von fossilen Importen zu werden.

 

Ein Teil der Entwicklung zur Klimaneutralität ist die Kreislaufwirtschaft für Polymerwerkstoffe. Welchen Beitrag kann die chemische Industrie dafür leisten? Und welche Aktivitäten unterstützt die Dechema hier?

A. Förster: Zum einen geht es darum, die Sortier- und Recyclingverfahren weiterzuentwickeln. Beim mechanischen Recycling ist man in der Praxis bereits sehr weit gekommen. Beim chemischen Recycling erwarten wir weitere Fortschritte unter anderem in der Katalysatorentwicklung. Die Dechema ist beispielsweise zusammen mit Covestro und anderen Partnern im Projekt Circular Foam aktiv, in dem es um die Wiederverwertung von Polyurethanschäumen geht. Ein anderes Beispiel ist das enzymatische Recycling. Das ist ein vielversprechender Ansatz, jedoch noch sehr am Anfang der Entwicklung. Ein zweiter große Aspekt für die Kreislaufführung von Polymeren ist, deren chemische Strukturen so zu gestalten, dass die Produkte nur aus diesem einen Monomaterial bestehen. So kann das Recycling vereinfacht werden. In diesem Zusammenhang ist auch die Weiterentwicklung von Additiven gefordert.

Wie schätzen Sie biobasierte Kunststoffe in diesem Zusammenhang ein?

A. Förster: Es ist wichtig, dass keine Anbauflächen genutzt werden, die für die Lebensmittelversorgung notwendig sind. Biobasierte Kunststoffe können einen Beitrag zur Nachhaltigkeit leisten. Doch auf lange Sicht sind Kunststoffe, die auf biologischen Quellen basieren, nicht der größte Hebel, um Klimaneutralität zu erreichen.

Es gibt auch weitere Industrien, in denen die chemische Entwicklung als Enabler fungiert – zum Beispiel in der Mobilität, bei Brennstoffzellen und in der Batterietechnologie. Wie schätzen Sie die Entwicklungsarbeit der chemischen Forschungslandschaft dazu ein und wie kann die Kreislaufführung der Rohstoffe gelingen?

A. Förster: Bei der Batterieproduktion geht es vor allem darum, den verlorenen Boden gegenüber den asiatischen Konkurrenten wieder wettzumachen. Wenn es um Forschung und Entwicklung von Post-Lithium-Batterien geht, sehe ich uns in Deutschland relativ gut aufgestellt. Ähnliches, vielleicht mit leichten Abstrichen, sehe ich auch für das Thema Batterierecycling. Wir müssen jedoch bei der Umsetzung dranbleiben, die Entwicklung in die Praxis bringen und die Produktion hier dann auch halten. Das wird meiner Meinung nach essenziell sein. In der Brennstoffzellenforschung ist Deutschland sehr aktiv und auch Unternehmen wie Daimler arbeiten an Brennstoffzellen-betriebenen Lkw. Und hier in Frankfurt wird es bis Ende dieses Jahres die weltweit größte Flotte im Schienenverkehr geben – mit 27 Zügen, die mit Wasserstoff fahren. Der Wasserstoff wird dabei im Industriepark Höchst produziert.

Bei batteriebetriebenen Fahrzeugen ist Tesla ein führender Produzent. Um die Produktionsstätte in Brandenburg ist eine große Diskussion hinsichtlich des Wasserbedarfs entstanden. Wasser ist inzwischen auch in Europa ein wertvoller Rohstoff. Welche Rolle spielt Wasser in der Entwicklung einer klimaneutralen Kreislaufwirtschaft?

A. Förster: Der Punkt ist essenziell. Auch für die Wasserstoffproduktion wird Wasser benötigt. Und dort, wo normalerweise viel Sonnenenergie zu generieren ist, ist in der Regel wenig Wasser verfügbar. Wir haben Projekte zusammen mit der GIZ (Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit), in denen wir genau diese Thematik untersuchen. Beispielsweise in afrikanischen Ländern, wo eine Wasserstoffproduktion aufgebaut werden soll. Die zentrale Frage ist, wie kann dort eine vernünftige Wasserversorgung der Anlagen erfolgen, ohne dass die Wasserversorgung der Bevölkerung beeinträchtigt wird? Meerwasser ist nur bedingt eine Alternative, weil die Entsalzung energieintensiv ist.

Ich sehe aber auch das Thema Wassersparen und Wasserrecycling als sehr wichtig an. Die Dechema hat dazu erst vor wenigen Monaten ein Papier veröffentlicht: Industrie Wasser 4.0. Darin geht es um die Digitalisierung der Wassertechnologie. Wie kann die Produktion mit dem Wassermanagement in einer Anlage so vernetzt werden, dass die Effizienz des Wassereinsatzes maximiert wird, so dass möglichst wenig Abwasser erzeugt und dieses gegebenenfalls im Kreislauf geführt werden kann? Das Thema wird eine zunehmend wichtige Rolle spielen und ist auch auf unserer Agenda sehr weit oben.

Rückblick auf die Achema 2022: Welches Resümee können Sie ziehen, wenn Sie die auf der Achema präsentierten Lösungen und diskutierten Entwicklungsergebnisse zusammenfassen? Haben Sie den Eindruck, dass die Coronakrise und der Angriffskrieg gegen die Ukraine die Prozesse für mehr Nachhaltigkeit eher beschleunigen? Oder bremsen die steigenden Energiekosten, die unzuverlässigen Lieferketten und andere Faktoren die ­Entwicklung eher?

A. Förster: Erst einmal ist es mir wichtig zu betonen, dass die Achema trotz der schwierigen Umstände erfolgreich verlaufen ist. In vielen Hallen waren die Stände gut besucht und es herrschte reges Treiben auf dem Messegelände.
Auf der diesjährigen Achema waren Technologien zur Effizienzsteigerung und zur Herstellung, zum Transport und zur Umwandlung und Speicherung von regenerativen Energieträgern sehr präsent. Daran sieht man, dass die Achema als Plattform für den Austausch zur Transformation der Prozessindustrie gesehen und genutzt wird. Im Kongressprogramm zum Beispiel stießen vor allem die Wasserstoffthemen sowie Vorträge zu Nachhaltigkeit, Kreislaufwirtschaft und Digitalisierung auf besonders großes Interesse. Der russische Angriffskrieg und der damit verbundene Anstieg der Energiekosten führen in unserer Branche natürlich zu großer Unsicherheit. Dadurch werden Investitionen in neue Technologien schwieriger. Gleichzeitig führt der Mangel an Gas kurzfristig zu einem erhöhten Einsatz von Kohle und Erdöl und damit zu höheren CO2-Emissionen. Langfristig kommt aber den regenerativen Energieträgern und CO2-freien chemischen Rohstoffen eine große Bedeutung zu. Einerseits und vordringlich wegen der Notwendigkeit zur CO2-Reduktion aber auch wegen der Diversifizierung unserer Energie- und Rohstoffversorgung.

Das Interview führte Etwina Gandert, Chefredakteurin CITplus.

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