Innovationsschub für den Klimaschutz
Prozessindustrie als Treiber der CO2-neutralen Transformation des Chemie- und Energiesektors
Diese Themen werden daher auch im Fokus der Achema, der Weltleitmesse der Prozessindustrie, stehen, die von der Dechema organisiert wird. In der vorletzten Augustwoche wird das Messegelände in Frankfurt wieder zum Nabel der Chemiewelt. Der Dechema-Sitz grenzt direkt daran an. Als kompetentes Netzwerk für die Chemietechnik und Biotechnologie in Deutschland vertritt die Fachgesellschaft diese Gebiete in Wissenschaft, Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Michael Reubold befragte Dechema-Geschäftsführer Andreas Förster zu den Chancen, Herausforderungen und Hürden dieser mehrschichtigen Transformation für die Chemiebranche sowie zur Rolle, welche die Prozesstechnik dabei spielt.
CHEManager: Herr Förster, die Chemie wird mitunter als „die Mutter aller Industrien“ bezeichnet. Wenn das zutrifft, wäre dann die Prozesstechnik der Vater aller Industrien?
Andreas Förster: Ich verstehe Prozessindustrie als einen Überbegriff für eine Branche, die neben der Chemie auch Unternehmen der Petrochemie, Gasverarbeitung, Pharmazie, Lebensmittel-, Zucker-, Zellstoff-, Papier-, Glas-, Stahl- und Zementherstellung umfasst. Um aber bei Ihrer Frage zu bleiben, die ja von einem traditionellen Familienbild ausgeht, sehe ich die Chemie heute nicht in einer festen und unverrückbaren Beziehung zu einer anderen Industrie. Vielmehr ergeben sich im Sinne einer flexiblen und offenen Beziehung zunehmend Verbindungen und Synergien zu und mit anderen Branchen, wie insbesondere der Energiewirtschaft, der Stahlindustrie und auch der Zementherstellung.
Neben diesen neuen Beziehungen zwischen den Sektoren verändern sich auch ganze Wertschöpfungsketten. Selten standen im Vorfeld einer Achema die Zeichen für die Prozessindustrie so deutlich auf Wandel.
A. Förster: Ja, die Veränderungen in unserer Industrie sind massiv. Neben den kurzfristigen Herausforderungen, die aus der Coronapandemie und dem brutalen Angriff Russlands auf die Ukraine resultieren, steht vor allem die Transformation zu einer klimaneutralen chemischen Industrie im Fokus. Wissenschaft und Industrie unserer Branche haben sich dieser Herausforderung gleichermaßen intensiv angenommen und arbeiten Hand in Hand, um mit den Mitteln der Chemie, der Biotechnologie und der chemischen Verfahrenstechnik Lösungen zu erarbeiten. Das beginnt bei der Nutzung von Strom aus erneuerbaren Quellen zur Herstellung von Wasserstoff. Außerdem muss Kohlenstoff im Kreislauf geführt werden. Dieses kann etwa über die Nutzung von CO2 in Power-to-X-Prozessen – kurz P2X – oder auch durch chemisches Recycling erfolgen. Ich sehe, dass diese immensen Herausforderungen zu einer Intensivierung von Forschung und Innovation führen – und auch führen müssen, da wir sonst diese Aufgaben nicht meistern werden.
Die Chemieindustrie entstand bereits im vorletzten Jahrhundert mit den ersten großtechnischen Prozessen. Manche dieser Verfahren werden – natürlich in weiterentwickelter Form – noch heute verwendet. Wie schwer ist es, eine so alte bzw. reife Industrie zu erneuern?
A. Förster: Veränderung, stetige Weiterentwicklung und Optimierung der Verfahren sind seit ihrem Entstehen kontinuierliche Begleiter und Treiber für die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen chemischen Industrie gewesen. Der Wandel der Rohstoffbasis von der kohlebasierten Chemie zur Nutzung von Erdöl und Gas hat die chemische Industrie in Deutschland geprägt. Die Weiterentwicklung zur Klimaneutralität ist natürlich eine große Herausforderung, aber auch hier werden bereits jetzt die Weichen gestellt. Klar ist aber auch, dass Forschung und Entwicklung allein nicht ausreichen. Es sind massive Investitionen in neue Anlagen notwendig.
Europa will bis 2050 klimaneutral werden, die chemische Industrie arbeitet bereits an Technologien, um dieses Ziel zu erreichen. Was sind aus technischer Sicht die vorrangigen Themengebiete, auf denen Innovation für die klimaneutrale Produktion benötigt werden?
A. Förster: In Deutschland wollen wir gemäß Klimaschutzgesetz bereits bis 2045 klimaneutral werden. Wenn wir das schaffen wollen, ist eine effiziente großskalige Wasserstoffsynthese eine zwingende Voraussetzung. Hieran wird bereits intensiv geforscht und auch die Serienfertigung von Elektrolyseuren im Gigawatt-Maßstab wird vorangetrieben. Die Speicherung und der Transport von Wasserstoff sind weitere wichtige Themen. Hier wird über den Ausbau einer Wasserstoffinfrastruktur auf europäischer Ebene und eine Speicherung in einem Wasserstoffnetz nachgedacht. Eine Alternative bietet die Umsetzung von Wasserstoff mit CO2 zu P2X-Produkten, die als Energiespeicher, für die Mobilität oder als Grundstoff für die Prozessindustrie genutzt werden können. Hierfür werden große Mengen CO2 benötigt. Deshalb müssen wir an Technologien zum Recycling von Kohlenstoffquellen wie Polymeren weiter intensiv forschen. Neben dem mechanischen Recycling sind vor allem Technologien des chemischen Recyclings wie die Pyrolyse von großer Bedeutung. Zusätzlich werden aber auch weitere Kohlenstoffquellen benötigt; das können Punktquellen bzw. Direct Air Capture sein.
Ein weiteres wichtiges und aktuell vorangeriebenes Thema ist die Wärmebereitstellung über Power-to-Heat. Innovationsbedarf besteht hier vornehmlich im Hochtemperaturbereich, zum Beispiel bei dem e-Cracker, dessen Realisierung die BASF verfolgt.
„Die immensen Herausforderungen führen zu einer Intensivierung von Forschung und Innovation."
Welche Rahmenbedingungen oder Instrumente sind notwendig, damit die im globalen Wettbewerb stehende Chemieindustrie keinen Standortnachteile auf dem durch den EU Green Deal vorgegebenen Weg in die Klimaneutralität und die Kreislaufwirtschaft erleidet?
A. Förster: Damit die Unternehmen die notwendigen Investitionsentscheidungen treffen können, sind stabile und verlässliche regulatorische Rahmenbedingungen wesentlich. Ein entscheidender Punkt für die industrielle Transformation wird das regulative Umfeld für die Erzeugung von grünem Wasserstoff sein. Die Wasserstoff-Community sieht den derzeitigen Entwurf des delegierten Rechtsakts der EU-Kommission sehr kritisch. Danach dürften Elektrolyseure Wasserstoff nach 2026 nur mit Strom aus neu zu bauenden und ungeförderten Windkraft- und Solaranlagen produzieren, und auch nur mit einer strengen zeitlichen Korrelation zur Bereitstellung von Strom aus diesen Anlagen, also nahezu zeitgleich.
Ein anderer kritischer Punkt ist die sehr unterschiedliche Bepreisung von CO2 in verschiedenen Weltregionen. Ein Vorschlag der EU-Kommission dazu ist der Carbon Border Adjustment Mechanism. Mit diesem sollen energieintensive Industriezweige wie die Chemie vor Carbon Leakage und damit der Verlagerung von Produktionskapazitäten in andere Weltregionen geschützt werden, indem Importprodukte dem gleichen CO2-Preis unterliegen wie Produkte in der EU.
Zudem ist es für die Chemieindustrie in Deutschland wichtig, dass – analog zur EU – Produkte chemischer Recyclingverfahren als Recycling im abfallrechtlichen Sinn betrachtet und auf alle relevanten Recyclingquoten angerechnet werden können. Im Koalitionsvertrag der aktuellen deutschen Bundesregierung ist dies im Kapitel „Kreislaufwirtschaft“ erfreulicherweise als Ziel angekündigt.
Und zu guter Letzt ist eine beschleunigte Entwicklung der Infrastrukturen für erneuerbare Energien und Rohstoffe essenziell.
Das Zauberwort für das Gelingen der Energiewende heißt Sektorkopplung. Es muss also über Branchengrenzen hinweg zusammengearbeitet werden. Wird die Energieversorgung chemischer werden?
A. Förster: Die direkte Nutzung von Strom sowohl für den Mobilitätssektor als auch für die Wärmeversorgung wird weiter an Bedeutung gewinnen, da hierbei die wenigsten Verluste auftreten. Mittelfristig wird aber der bisherige Energiespeicher Erdgas durch Wasserstoff ersetzt werden, bzw. durch leicht verflüssigbare Wasserstoffträger wie zum Beispiel Ammoniak. Zu deren Herstellung sind natürlich chemische Prozesse notwendig.
Auch für die biobasierte Chemie werden neue Prozesstechnologien benötigt. Welche Fortschritte gibt es hier?
A. Förster: Die chemische Industrie unternimmt große Anstrengungen, um die Abhängigkeit von fossilen Rohstoffen zu reduzieren. So wurden bei der Entwicklung von kommerziell attraktiven Technologien zur Herstellung biobasierter Chemikalien als Drop-in- oder Spezial- und Plattformchemikalien sowie von biobasierten Kunststoffen in den letzten Jahren große Fortschritte erzielt. Als Beispiele seien hier die Entwicklung von Prozesstechnologien zur Herstellung von biobasiertem Hexamethylendiamin als Ausgangsstoff für zum Beispiel Polyamide, die Inbetriebnahme einer Anlage zur Produktion biobasierter Rhamnolipide oder die Entwicklung einer Technologie zur Herstellung von Methylmethacrylat-Monomeren aus pflanzlichen Rohstoffen genannt.
Neben den großen Unternehmen arbeiten inzwischen auch zahlreiche Start-ups erfolgreich an neuen Technologien, zum Beispiel zur Herstellung kompostierbarer Verpackungen.
Auch die Dechema ist daran beteiligt, gemeinsam mit Partnern aus Wissenschaft und Industrie entsprechende Technologien zu entwickeln.
Es ist davon auszugehen, dass sich der Verbrauch von Biomasse für die Herstellung von Chemikalien in den nächsten Jahrzehnten erhöhen wird – und damit auch die Erschließung weiterer Rohstoffquellen und Entwicklung entsprechender Technologien. Neben Zuckern, Ölen und Fasern aus landwirtschaftlichen Strömen oder Restströmen werden in näherer Zukunft wahrscheinlich auch vermehrt Rohstoffe aus dem Meer an Bedeutung gewinnen.
Auch biogene Abfälle stellen eine wertvolle Ressource zur Herstellung von biobasierten Chemikalien und Polymeren dar. Dies belegen zahlreiche erfolgreiche F&E-Projekte, in deren Rahmen bereits vielversprechende Technologien entwickelt wurden. Damit diese aber kommerziell erfolgreich werden können, müssen hier insbesondere auch regulatorische Bestimmungen angepasst werden. Biobasierte Rohstoffe sind ein weiterer Baustein zur Erreichung einer Kohlenstoffneutralität. Hier werden wir also auch Zukunft spannende Entwicklungen beobachten können.
„In Zukunft werden auch vermehrt Rohstoffe aus dem Meer an Bedeutung gewinnen.“
Der Verbrauch fossiler Rohstoffe und damit klimaschädliche Emissionen können auch durch eine konsequente Kreislaufwirtschaft verringert werden. Wo liegen hierbei die größten Herausforderungen? Und welche vielversprechenden Lösungen gibt es bereits?
A. Förster: Wenn wir das Ziel der Klimaneutralität erreichen wollen, müssen wir auch an Technologien zum Recycling von Kohlenstoffquellen wie Polymeren weiter intensiv forschen. Als Ergänzung zum mechanischen Recycling sind hier vor allem Technologien des chemischen Recyclings zur Rückgewinnung der molekularen Bausteine der Polymere von großer Bedeutung, um Abfallströme, welche bisher überwiegend thermisch verwertet werden, stofflich im Kreis zu führen. Bei den bereits etablierten Pyrolysetechnologien kann der Einsatz geeigneter Katalysatoren dabei unterstützen, den hohen thermischen Energiebedarf weiter zu senken. Es gibt bereits sehr gute Ansätze.
Für den Klimaschutz sind aber auch Anstrengungen zum Recycling von Metallen wie Lithium oder Kobalt von großer Bedeutung, da diese für die Herstellung von Lithium-Ionen-Batterien benötigt werden, welche wiederum eine wichtige Rolle bei der Energie- und Mobilitätswende spielen. Gleichzeitig benötigt das Recycling vieler Metalle deutlich weniger Energie als die Gewinnung aus primären Erzen und trägt somit zur Schonung der Ressourcen und des Klimas bei. Kupfer, das für die Energiewende ebenfalls eine wichtige Rolle spielt, ist dafür ein gutes Beispiel. Für die Produktion von Kupfer aus Sekundärquellen wird nur 20 % der Energie benötigt, die für die Gewinnung von Primärkupfer aus Erz und Konzentraten gebraucht wird.
Der Bedarf an Rohstoffen ist aber in vielen Fällen nicht allein über das Recycling zu decken; zum Teil limitiert auch die für das Recycling notwendige und verfügbare Energie eine ökologisch sinnvolle Kreislaufführung. Deshalb bedarf es darüber hinaus weiterer Anstrengungen zur Kreislaufführung, welche früher im Material- und Produktlebenszyklus ansetzen. Produkte und Materialien müssen länger im Wirtschaftskreislauf gehalten werden, bevor sie einem Recycling zugeführt werden. Dem Produktdesign kommt hier eine wichtige Rolle zu. Darüber hinaus kann der Produktlebenszyklus durch vorausschauende Instandhaltung oder Reparatur, Wiederverwertung und Aufbereitung verlängert werden.
Welche Rolle wird die Digitalisierung bei all diesen Themen – insbesondere in den Produktionsprozessen – spielen?
A. Förster: Ein vermehrter Einsatz von Sensorik in der Produktion, die Generierung und intelligente Auswertung der Daten ermöglichen eine bessere Überwachung und Steuerung der Prozesse, aber auch eine optimierte Instandhaltung, da durch eine bessere Fehlererkennung schadhafte Komponenten gezielter identifiziert und rechtzeitiger ausgetauscht werden können, bevor es zu größeren Schäden oder Ausfällen ganzer Anlagen kommt.
Energiewende, Klimaneutralität, Kreislaufwirtschaft, Rohstoffwandel: all diese Themen sind nicht neu – auch nicht für die Achema. Wie zuversichtlich sind Sie, dass sie jetzt konsequent vorangetrieben werden?
A. Förster: Sehr. Ich glaube, dass die Wissenschaft klar gemacht hat, dass wir ohne die konsequente Umsetzung von Maßnahmen zur Erreichung der Klimaneutralität auf eine mehr als ungewisse Zukunft zusteuern. Bereits jetzt wird klar, dass wir die gesteckten Ziele zur CO2-Reduktion kaum noch erreichen können. Deshalb wird die Politik in Deutschland die Förderung einer klimaneutralen Wirtschaft mit aller Konsequenz umsetzen und auch die chemische Industrie wird ihren Beitrag zur Erreichung dieser Ziele leisten. Die russische Invasion in der Ukraine und die damit verbundene Reduktion bzw. der befürchtete Stopp der russischen Gaslieferungen führt zu einer kurzfristigen Steigerung der Nutzung von Erdöl und auch Kohle. Umso mehr müssen aber die Anstrengungen vorangetrieben werden, von diesen fossilen Energieträgern mittelfristig unabhängig zu werden.
Denken Sie, dass deutsche Unternehmen bei diesen Themen Technologieführer und ihre Innovationen ein Exportschlager werden können?
A. Förster: Deutsche Unternehmen gehören bei der technologischen Entwicklung von Elektrolyseverfahren, P2X-Prozessen und auch bei Technologien zum Recycling von Polymeren weltweit zu den Technologieführern. Wenn es uns gelingt, diese Technologieführerschaft zu verteidigen, die Prozesse und Anlagen schnell zu skalieren und in den Markt zu bringen, werden unsere Unternehmen auch in Zukunft weiter eine herausragende Position im internationalen Wettbewerb behalten können.
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An welchen Projekten zur Realisierung einer Wasserstoff- und Kreislaufwirtschaft die Dechema beteiligt ist und welche Fortschritte es bei diesen und anderen Projekten gibt, lesen Sie im vollständigen Interview mit Andreas Förster auf www.chemanager.com/tags/dechema.