Logistik & Supply Chain

Digitale Zwillinge – die Zukunft des Supply-Chain-Risikomanagements

Moderne Technologien und innovative Methoden - wie Digitale Zwillinge - erlauben eine neue Art des Risikomanagements

18.08.2022 - Wir jagen heute häufig der Identifikation möglicher Risikoereignisse hinterher, anstatt unsere Supply Chains mit gezielten Stresstests besser zu verstehen und derart (neu) zu gestalten, dass sie zukünftigen Ereignissen robuster entgegentreten können. Wie wir das erreichen können?

Die Antwort klingt so banal wie einfach – was sie hingegen selten ist: Wir müssen unsere Supply Chains digital abbilden. Ein digitaler Zwilling der Supply Chain ermöglicht zukunftsgerichtete Analysen, unterstützt die Entscheidungsfindung und legt so die Grundlage für eine resiliente Supply-Chain-(Neu)-Gestaltung.

Über die vergangenen Jahrzehnte hinweg hat eine Vielzahl von Ereignissen gezeigt, wie empfindlich weltumspannende Lieferketten gegenüber Veränderungen sind. Supply-Chain-Risiken sind somit kein neues Phänomen. Die Coronapandemie hat jedoch gezeigt, wie wenig uns gegenwärtige Risikomanagementansätze und -analysen bei der Beherrschung oder gar Verringerung von Risiken helfen.

Die mit der Coronapandemie einhergehende Unsicherheit aus weltweit verteilt auftretenden Lockdowns, mit Auswirkungen auf das Nachfrageverhalten wie die Angebotsseite, haben Supply Chains in den vergangenen zwei Jahren wortwörtlich trocken laufen lassen. Seither häufen sich die Meldungen über neue, in ihrer Natur teils sehr unterschiedliche Zwischenfälle, etwa eine Blockade des Suez-Kanals, einen Port Lockdown in Shanghai oder ein Anstieg der Rohstoffpreise. Die jüngsten Ereignisse in der Ukraine zeigen erneut, dass es keine Grenze für Unsicherheit gibt. Dabei können wir das Eintreten solcher Ereignisse häufig kaum beeinflussen, hingegen können wir die Zeit bis zum nächsten Risikoereignis nutzen, um uns bestmöglich aufzustellen.

Immer mehr Firmen erkennen in der proaktiven Analyse ihrer Supply Chains einen großen Hebel sowohl auf der Kosten- als auch auf der Serviceseite. Hier kommen digitale Zwillinge ins Spiel.

Digitaler Zwilling – mehr als eine Datenwolke

Das Verständnis von digitalen Zwillingen ist in etwa so weitläufig wie heutige Supply Chains. Allgemein formuliert ist ein digitaler Zwilling die digitale Repräsentation eines real existierenden Systems – im Supply-Chain-Management also die Supply Chain selbst. Repräsentiert werden sowohl physische als auch nicht-physische Systembausteine, etwa Prozesse. Auch bereits geplante Bereiche können abgebildet werden, z.B. geplante Produktionslinien, anvisierte Lieferanten oder neudefinierte Logistikprozesse.

Demnach ist ein digitaler Zwilling weit mehr als eine Datenwolke. Er verknüpft Informationen und füttert Algorithmen mit Daten, die Prozesse simulieren – seien es physische Abläufe in der Logistik, Planungsprinzipien für die Nachfrageallokation oder für das Bestandsmanagement, oder Entscheidungsprozesse von Planern oder Managern.

Digitaler Zwilling: wesentliche Bausteine für das Supply-Chain-Risikomanagement

Ob digitale Zwillinge wirklich gewinnbringend eingesetzt werden, hängt davon ab, wie gut sie nicht nur die physische Supply Chain, sondern auch deren Funktionen und Planungslogiken spiegeln können: Ist ein digitaler Supply-Chain-Zwilling implementiert und validiert, können Entwicklungen wie veränderte Nachfrageverläufe, verringerte Materialverfügbarkeiten oder erhöhte Materialkosten anhand von Datenmanipulationen an den Zwilling übergeben werden.

Damit lassen sich – ganz risiko­frei – Stresstests der Supply Chain durchführen. Speziell für das Risikomanagement von Supply Chains müssen digitale Zwillinge zusätzlich pro-aktive wie reaktive Gegenmaßnahmen abbilden können; denn wurden erst Risiken identifiziert und beziffert, möchten heutige Entscheider wissen, wie sie diese potenziellen Risiken verringern können.

Blaupause eines digitalen Zwillings für eine risikobewusste Entscheidungsfindung

Für eine zielgerichtete, d.h. vorausschauende, Entscheidungsfindung mit einem digitalen Zwilling sind drei Funktionen wichtig: Netzwerkplanung, Stresstests und Schadensbegrenzung (Grafik).

Grafik Camelot

Netzwerkplanung als störungsfreie Grundlage für die Risikobewertung

Zuerst benötigen wir eine Grundlage des Netzwerkplans, mit dem wir diverse Störungsszenarien vergleichen können. Mit einer digitalen Abbildung des End-to-End-Netzwerks wird simuliert, wie die prognostizierte Nachfrage für die nächsten zwei bis drei Jahre bedient werden kann. Das erlaubt es einzuschätzen, welche entgangenen Umsätze, Margen und Service-Level in einem Szenario ohne jegliche Unterbrechung erreicht werden.

Schon dieser erste Schritt liefert meist wertvolle Erkenntnisse über Lieferkapazitäten und Schwachstellen im Netzwerk. Um ein realistisches Bild zu erhalten, sollte die (strategische und taktische) Netzwerkplanungsfunktion eine optimale Zuteilung der Nachfrage oder Prognose über das End-to-End-Netzwerk ermöglichen und gleichzeitig Res­triktionen zu Produktion, Transport und Bestand berücksichtigen.

Stresstests für Supply Chains bewerten die Auswirkungen von Störungsprofilen

Die Zukunft wird höchstwahrscheinlich weitere neuartige Unterbrechungen bringen. Statt diverse Risikoereignisse ausfindig machen zu wollen, sollte man die Unterbrechungen auf Supply-Chain-Prozesse möglichst genau in Störungsprofilen beschreiben. Ein Life-Science-Unternehmen könnte z.B. eine 100 %ige Kapazitätsreduktion in zwei Wochen für maximal bis zu vier Monaten in jedem Versorgungsknoten des Netzwerkes als maximale Störung festlegen (inkl. interne und externe Produktion, Transportwege und Verteilzentren). Andere Szenarien werden in weiteren Profilen definiert.

Basierend auf diesen Profilen kann der Stresstest die Auswirkungen gestörter Supply-Chain-Prozesse über das End-to-End-Netzwerk hinweg bis hin zu Kunden in allen Regionen aufzeigen. Damit werden auch die Auswirkungen auf Leistungskennzahlen wie (entgangene) Umsätze, Gewinn oder Service-Level und somit das Risikoausmaß deutlich. Um die Realität bestmöglich abzubilden, sollte diese Funktionalität im digitalen Zwilling so gestaltet sein, dass eine möglichst effiziente Reaktion des verbliebenen störungsfreien Netzwerks möglich ist. Wenn z.B. die Produktionslinie A für Fertigerzeugnisse vom Störungsprofil als unterbrochen angesehen wird, könnte eine andere Produktionslinie für Fertigerzeugnisse einen Teil der Produktion übernehmen – sofern dies die Kapazitäten erlauben. Somit sollte ein Stresstest bereits das bestmögliche Ergebnis trotz Störung berücksichtigen.

Optionen zur Schadensbegrenzung für das quantifizierte Risikoausmaß definieren

Mit Wissen um das Risikoausmaß entsteht unmittelbar die Notwendigkeit, Gegenmaßnahmen zu definieren. Das wichtigste Ziel ist es, den besten Mix aus verfügbaren Präventivmaßnahmen zu identifizieren, etwa Dual Sourcing, zusätzlichen Transporten, Ausgleich über zusätzliche Risikobestände und -kapazitäten etc. Diese Funktionalität sollte in einem digitalen Zwilling implementiert sein. Wird eine geeignete Schadensbegrenzung identifiziert, kann das zur Neuparametrisierung des Netzwerks führen. Das Ergebnis kann aber auch anzeigen, dass das Netzwerk gänzlich umgestaltet werden sollte. Dies wird oft aus strategischer Sicht untersucht – und damit nicht zwangsläufig im gleichen digitalen Zwilling.

Da es beim End-to-End-Netzwerk zahlreiche Optionen zur Schadensbegrenzung und nur begrenzte Ressourcen oder Investitionsmöglichkeiten gibt, können Optimierungsmodelle integriert in diese Funktionalität einen wirklichen Mehrwert schaffen, indem sie den Risiko- und gewinnoptimierten Mix verschiedener Maßnahmen zur Schadensbegrenzung ermitteln. Supply-Chain-Manager können Fragen wie diese Schritt für Schritt beantworten und dadurch die beste Risikominderungsstrategie schaffen.

Fazit

Wir wissen, wie komplex heutige Supply Chains sind und wir sehen, wie die vorherrschende Unsicherheit über zukünftige Entwicklungen sie noch komplexer macht. Existierende Risikomanagementansätze helfen nicht durchschlagend bei der Beherrschbarkeit von Komplexität und Unsicherheit. Hier stärken digitale Zwillinge – richtig konfiguriert und mit passenden Daten gefüttert – die Supply-Chain-Resilienz durch proaktive Analysen und Stresstests nachhaltig. Damit werden sie zu einer wichtigen Grundlage für die künftige Supply-Chain-Planung und -Ausführung.

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