Anlagenbau & Prozesstechnik

Mehr Evolution als Disruption

Warum die verfahrenstechnischen Industrien auf absehbare Zeit nicht ins Metaversum wechseln werden

13.07.2022 - Seit mehr als einem Jahrzehnt macht das Wort von der Industrie 4.0 die Runde. Der Gedanke, mit Hilfe intelligenter, digital vernetzte Systeme ganze Wertschöpfungsketten zu optimieren, elektrisiert die verfahrenstechnischen Industrien – die Unternehmen der chemischen und pharmazeutischen Industrie ebenso wie die Anbieter von Automatisierungstechnik.

Die einzige Konstante in der Geschichte der chemischen wie auch der pharmazeutischen Industrie ist der Wandel. Seit ihren Anfängen vor über 150 Jahren zeichnen sich diese Branchen durch ein enormes Innovationstempo aus. Produkte und Prozesse sind ständig verbessert worden, immer wieder haben neue Geschäftsmodelle und Technologien Eingang gefunden. Insbesondere die chemische Industrie benötigt in Europa ein besonderes Maß an Veränderungsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit, um im globalen Wettbewerb erfolgreich zu bestehen und den Wohlstand unserer Gesellschaft zu sichern.

Kein Wunder also, dass auf der digitalen Transformation große Hoffnungen ruhen. Seit mehr als einem Jahrzehnt macht das Wort von der Industrie 4.0 die Runde. Der Gedanke, mit Hilfe intelligenter, digital vernetzte Systeme ganze Wertschöpfungsketten zu optimieren, elektrisiert die verfahrenstechnischen Industrien – die Unternehmen der chemischen und pharmazeutischen Industrie ebenso wie die Anbieter von Automatisierungstechnik. 30 Jahre CHEManager sind somit ein guter Anlass, einmal einen Schritt zurückzutreten und mit etwas Abstand auf den Megatrend der Digitalisierung zu schauen. Lassen Sie mich einen Ausblick wagen… nicht unbedingt auf die nächsten 30 Jahre, aber vielleicht bis zum Ende der Dekade.

Tiefgreifende Digitalisierung

Meine These, die ich gerne mit Ihnen diskutieren möchte: Der Trend zur Digitalisierung wird unsere Branche tiefgreifender verändern, als wir es erwartet haben. Aber es wird viel länger dauern als ursprünglich gedacht. Wir werden keine disruptive Welle sehen, die die alte Welt hinwegspült, sondern eine evolutionäre Bewegung, die viele Bereiche erfasst und umwälzt. Dennoch wird auch in 30 Jahren der Kern unseres Geschäfts – sowohl bei den Pharma- und Chemieunternehmen als auch in der Prozessautomatisierung – noch von physischen Produkten dominiert sein.

Digitalisierung ist ein Megatrend, der alle Bereiche unseres Lebens durchdringt. Wir streamen Musik und Videos, Online-Shopping verdrängt den Einzelhandel, und selbst das Geld wird mit Blockchain-Technologie virtuell. Im ersten Hype um die digitale Transformation wurden diese Konzepte auf die Prozessindustrie projiziert. Aber diese Erwartungen und Hoffnungen können sich nicht erfüllen: Am Ende geht es um chemische, physikalische und biologische Prozesse, die den Naturgesetzen unterliegen und in Echtzeit in unserer physischen Welt ablaufen. Die Prozessindustrie wird sich nicht im Metaversum auflösen.

Dennoch bin ich überzeugt, dass die Digitalisierung auch unsere Branche verändern wird, tiefgreifender sogar als erwartet. Einkauf und Engineering nutzen längst die Möglichkeiten, die Vernetzung und Integration von Systemen bieten.

Die digitale Verknüpfung von Wertschö­pfungsketten setzt hier bereits gute Potenziale frei. Digitale Zwillinge aller Assets einer Anlage, schnelle Kommunikation, Cloud-Technologie, Apps und künstliche Intelligenz werden helfen, Betrieb und Instandhaltung von Anlagen effizienter zu gestalten. Deshalb wird so viel digitalisiert werden, wie möglich – aber nur dort, wo dies entsprechenden Nutzen schafft. Analoge Manometer werden in Zukunft weiter ihren Platz haben, wo ein vor Ort ablesbarer Wert seinen Zweck erfüllt. Das Ergebnis der digitalen Transformation wird folglich von Situation, Applikation und Industrie abhängig sein. Es wird nicht die digitalisierte verfahrenstechnische Anlage schlechthin geben: Die Lösungen, die wir finden, werden im Klärwerk anders aussehen als in der Pharmaproduktion.

Segmentierter Markt und offene Architekturen

Der Prozess der Digitalisierung wird sich noch über viele Jahre hinziehen. Wir haben das Tempo, das unser gemeinsames Ökosystem zulässt, überschätzt. Das liegt z. B. an den langen Lebenszyklen der Prozessanlagen, die sich in Jahrzehnten bemessen, und auch an jenen der Assets, die nicht selten 15 Jahre und mehr betragen. Hinzu kommen die hohen Anforderungen an die Sicherheit, auch an die Cybersicherheit. Nicht ohne Grund wird an der bewährten Automatisierungspyramide festgehalten, auf die bspw. auch die wegweisende NAMUR Open Architecture aufsetzt. Schon viele Konzepte sind gescheitert, weil sie mit Unsicherheit behaftet waren. Oder auch, weil sie ein Zuviel an Komplexität mit sich brachten. Denn es braucht für alle neuen Lösungen die Menschen, die sie beherrschen – allein dies ist in Zeiten des Arbeitskräftemangels schon ein nicht zu unterschätzendes Hindernis.

Schließlich dürfen wir nicht außer Acht lassen, dass der Markt für Prozessautomatisierung stark segmentiert ist. Allein die Achema zählt 2.500 Aussteller. Dieses hohe Maß an Wettbewerb ist gut für die Kunden und gut für die Innovation. Auf der anderen Seite bedeutet dies aber auch, dass hunderte, ja tausende Anbieter eigene Ansätze und Lösungen zur Digitalisierung entwickeln. Doch in verfahrenstechnischen Anlagen geht es bekanntlich darum, eine Vielzahl einzelner Elemente zu einem funktionierenden System zusammenzufügen; einem System, das sich sicher, zuverlässig und wirtschaftlich betreiben lässt. Standardisierung ist deshalb der Schlüssel zur Digitalisierung schlechthin. Hier haben wir, gerade global betrachtet, noch einen weiten Weg vor uns.

Megatrends und Konsequenzen für die Prozessautomation

Die nächsten Jahre, daran habe ich keine Zweifel, werden spannend und herausfordernd werden. Klima- und Umweltschutz sind eine Generationenaufgabe. Ihre Bewältigung wird gewaltige Investitionen in den verfahrenstechnischen Industrien erfordern und große Innovationen anstoßen. Dekarbonisierung und Energiewende werden meiner Einschätzung nach zu mehr Umwälzung in den verfahrenstechnischen Industrien führen als die digitale Transformation. Und unsere von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit geprägte „VUCA-Welt“ wird sicherlich noch so manche Überraschung für uns bereithalten.

 

„Es braucht für alle neuen Lösungen Menschen, die sie beherrschen.“

Was folgt daraus für Endress+Hauser als einer der führenden Anbieter von Prozess- und Analysemess­technik und Partner der verfahrenstechnischen Industrien? Was können unsere Kundinnen und Kunden in Zukunft von uns erwarten?
Wir werden uns weiter auf das fokussieren, was wir am besten können: Prozessmesstechnik, die auf die spezifischen Anforderungen verschiedener Branchen zugeschnitten ist und unseren Kundinnen und Kunden hilft, ihre Prozesse und damit ihre Produkte zu verbessern.

Viel Potenzial sehen wir in der Prozessanalysetechnik, nicht zuletzt für die Chemie- und Pharmaindustrie. Wir wollen Labortechnologien wie die Spektroskopie fit machen für den Prozess und unsere Kundinnen und Kunden mit der Messung stofflicher Eigenschaften von der Produkt- und Prozessentwicklung bis in die Produktion begleiten.

Innovative Sensorik wird ermöglichen, die menschlichen Sinne auf verfahrenstechnischen Anlagen zu ergänzen und ersetzen – und damit helfen, den Mangel an Fachkräften zu mildern.

Den Einsatz digitaler Technologien werden wir überall dort forcieren, wo sie den Anwenderinnen und Anwendern nützt: in unserer Messtechnik (etwa für höhere Leistungsfähigkeit, einfachere Bedienung oder vorausschauende Wartung), in der Zusammenarbeit mit unseren Kundinnen und Kunden (um Engineering oder Beschaffung zu erleichtern) sowie in unseren internen Prozessen (um die Qualität unserer Produkte sicherzustellen oder Lieferketten verlässlicher zu machen).

Die Bedeutung der Software wird weiter wachsen – sei es als Embedded Software direkt im Produkt oder als Lösung, die – auch mit Hilfe künstlicher Intelligenz – aus den Signalen der Sensoren Information und Wissen generiert. Wir werden selbst derartige Lösungen entwickeln und Sensorsignale für solche Anwendungen bereitstellen.

Unsere digitalen Lösungen werden dort ansetzen, wo wir für unsere Kundinnen und Kunden in den verfahrenstechnischen Industrien zusätzlichen Nutzen schaffen können. Diese Lösungen werden skalierbar sein, sich durch hohe Flexibilität auszeichnen, offene Standards nutzen und einheitliche Schnittstellen bieten.

Um neue Anwendungs- und Einsatzfelder zu erkunden und zu erschließen, werden wir weiterhin eng mit unseren Kundinnen und Kunden zusammenarbeiten. Wir setzen dazu gezielt agile Methoden ein, nutzen die Kreativität und Flexibilität von Start-ups, erweitern unsere Kompetenzen durch Akquisitionen sowie die Kooperation mit Hochschulen und Forschungseinrichtungen.

Wir engagieren uns auch künftig in Allianzen, Partnerschaften, Organisationen und Verbänden, um offene Standards und einheitliche Schnittstellen zu entwickeln und in der Prozessautomatisierung zu etablieren.

Endress+Hauser bleibt also Endress+Hauser. Wir werden weiter fest in der physischen Welt verwurzelt sein – und uns zugleich die digitale Welt erschließen. Mit intelligenten Sensoren und softwarebasierten Lösungen werden wir unsere Kundinnen und Kunden auf ihrem Weg durch die digitale Transformation begleiten. Wir werden sie dabei unterstützen, ihre Prozesse und Produkte zu verbessern und neue Geschäftsmodelle und Technologien einzusetzen – als verlässlicher Partner, der die Entwicklung der verfahrenstechnischen Industrien seit bald 70 Jahren gemeinsam mit den Anwenderinnen und Anwendern gestaltet und vorantreibt.

Autor:

„Am Ende geht es um chemische, physikalische und biologische Prozesse, die den Naturgesetzen unterliegen und die in Echtzeit in unserer physischen Welt ablaufen.“

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