Europas Chemieproduzenten und -distributoren gehen gemeinsam künftige Herausforderungen an
Das, was auf die europäische Chemieindustrie zukommt, ist nichts für schwache Nerven
Zunächst einmal herzlichen Glückwunsch, liebes CHEManager-Team, zu 30 Jahren erfolgreicher und qualitativ hochwertigster journalistischer Arbeit, mit der Sie die Chemie- und Pharmaindustrie in den letzten drei Jahrzehnten in ebenso angenehmer wie stets lesenswerter Weise begleitet haben! Sie und Ihr Journal sind heute nicht mehr aus der Medienlandschaft unserer Branchen wegzudenken. Im Namen des europäischen Chemiehandelsverbandes FECC in Brüssel gratuliere ich Ihnen ganz herzlich zu dieser Erfolgsgeschichte und wünsche Ihnen für die nächsten Dekaden weiterhin viel Erfolg. Persönlich ist es mir eine große Ehre und besondere Freude, einen Artikel zu Ihrer Jubiläumsausgabe beitragen zu dürfen!
Wenn man die letzten drei Jahrzehnte der europäischen Chemieindustrie Revue passieren lässt, dann wird einem eines ganz schnell klar: es ist immer spannend geblieben, zu keinem Zeitpunkt ist jemals Langeweile aufgekommen. Während sich die europäische Chemieindustrie ihren unverwechselbaren Charakter im Kern bewahrt hat, haben sich Rahmenbedingungen um sie herum stetig, fundamental und nachhaltig verändert, zuletzt sogar in rasant zunehmendem Tempo. Das Geschäft, ohnehin hochgradig zyklisch, war noch nie etwas für schwache Nerven, aber in jüngster Zeit häufen sich die Krisen derart – ja, verstärken sich sogar gegenseitig noch –, dass man kaum noch nachkommt.
Dabei belegen die Markt- und Geschäftskennzahlen der letzten 30 Jahre sehr deutlich, dass diese Industrie sehr erfolgreich ist – ja, geradezu boomt: Im genannten Zeitraum hat sich der globale Chemiemarkt fast verdreifacht, legte laut CEFIC allein im Zeitraum 2003 bis 2020 von 1,3 Bio. EUR Marktvolumen auf knapp 3,5 Bio. EUR zu. Und der Trend scheint relativ ungebrochen: Unter der Annahme einer durchschnittlichen globalen Wachstumsrate von 3-4 % p.a. ist bis 2030 eine weitere Quasi-Verdoppelung des Marktvolumens zu erwarten, maßgeblich getragen von Bevölkerungs- und Wohlstandswachstum und damit einhergehendem erhöhtem Produktkonsum in Schwellen- und Entwicklungsländern.
Ohne Chemie geht es nicht
Bis 2050 werden ca. 10 Milliarden Menschen auf der Erde leben. Für sie alle muss die Weltgemeinschaft die Versorgung mit Trinkwasser, Nahrungsmitteln und Strom sicherstellen sowie für Unterkünfte und Mobilität sorgen – eine sehr große Herausforderung, die ohne Chemie kaum lösbar ist. Denn 95 % aller Produkte basieren auf Chemie – eine Tatsache, die außerhalb der Chemieindustrie immer noch weitgehend unbekannt ist.
Ohne Chemie gäbe es keine Smartphones, keine Kabel für die Stromgewinnung, -Versorgung und Weiterleitung, keine Windmühlen oder Solar-Paneele für erneuerbare Energien, kein Isoliermaterial für Wohnungen und Häuser, weder Batterien noch Motoren geschweige denn Benzin für moderne Fortbewegungsmittel, keinen Dünger für den Getreideanbau, mal ganz abgesehen von den Arzneimitteln, ohne die die gesundheitliche Versorgung aller Menschen, medizinischer Fortschritt und eine höhere Lebenserwartung ebenfalls nicht möglich wären.
Wie maßgeblich die Chemie- und Pharmaindustrie zur Lösung gesellschaftlicher Probleme beitragen, wurde zuletzt in der Coronapandemie für die breitere Öffentlichkeit deutlich, als die gesamte Chemie- und Pharmawertschöpfungskette europaweit erfolgreich mit den EU-Gesetzgebern zusammenarbeitete, um die exponentiell ansteigenden Virusinfektionen in Europa durch die schnelle, flexible Produktion von Desinfektionsmitteln, medizinischen Produkten und Vorprodukten für medizinische Schutzausrüstungen in technisch machbaren Höchstmengen einzudämmen.
„Wir tragen die EU-Ziele uneingeschränkt mit
und nehmen unsere Verantwortung
für Mensch und Umwelt sehr ernst.“
In diesem Zusammenhang sollte auch betont werden, dass es den beteiligten Chemiefirmen dabei nicht vorrangig um geschäftliche Interessen ging, sondern vielmehr um ihren eigenen gesamtgesellschaftlichen Beitrag: Allein die Mitglieder unseres Verbands – des europäischen Chemiehandelsverbands FECC – haben enorme Mengen der dringend benötigten Produkte wiederholt gratis und ohne Rücksicht auf eigene Kosten an Krankenhäuser, Alten- und Pflegeheime, Kindergärten, Schulen, Jugendtreffs etc. gespendet. Ähnlich hat es die ganze Branche gehandhabt – eine anschauliche Demonstration, dass die Chemieindustrie systemrelevant für Europa ist, essenziell wichtige Bausteine für alle nachfolgenden Industrien und die Gesellschaft bereitstellt und insgesamt ein Teil der Lösung ist, nicht des Problems.
Standortnachteile in Europa
Dabei lässt sich trotz des nominell weiterhin kontinuierlichen Wachstums der Chemieindustrie in Europa nicht verhehlen, dass die Branche proportional gesehen in den letzten zwei Jahrzehnten auf dem internationalen Parkett an Boden verloren hat: Lag ihr Weltmarktanteil vor ca. 25 Jahren noch bei mehr als 30 %, so ist dieser auf mittlerweile ca. 12 % zurückgegangen; eine weitere Konsolidierung ist quasi vorprogrammiert. Ausgelöst bzw. begünstigt wurde diese Entwicklung durch die zunehmende „Chemie-Autarkie“ Asiens, durch die die substanziellen Exportmengen der 1990er Jahre ex Europa zunehmend von heimischer Produktion abgelöst wurden, ebenso wie ein zunehmender Sättigungsgrad europäischer Märkte, auch infolge des demografischen Wandels.
Hinzu kamen noch einige politisch motivierte Faktoren, die sich nachteilig auf die europäische Teilhabe am globalen Marktwachstum auswirkten: Europa als relativ rohstoffarmer Kontinent ist im Allgemeinen auf Energie- und Rohstoffimporte aus anderen Ländern bzw. Kontinenten angewiesen, die energieintensive Chemieindustrie insbesondere auf kosteneffiziente Energie. Und gerade der letztgenannte Aspekt hat sich in den letzten 10 bis 15 Jahren zunehmend zur Achillesferse für die Branche entwickelt. Schon vor der russischen Invasion in der Ukraine gehörten die europäischen Energiepreise zu den höchsten weltweit. Selbst bei den noch relativ moderaten Marktpreisen vor 2022 zahlten europäische Chemikalienproduzenten und -händler im Schnitt mindestens doppelt so hohe Preise wie ihre Konkurrenten in den USA und Asien.
In den Spitzenzeiten hoher Ölpreise 2013/2014 kostete es gar drei- bis viermal so viel, als Petrochemikalienhersteller eine Tonne Ethlyen in Europa herzustellen wie für die amerikanischen Wettbewerber – ein Wettbewerbsnachteil gleich auf der Rohstoff-/Vorprodukte-Stufe, den nachfolgende Wertschöpfungsstufen kaum noch kompensieren konnten. Dank Shale-Gas-Effekten kamen US-Produzenten in dieser Zeit in den Genuss kosteneffizienter Energie, was der ganzen Chemiebranche in den USA bis heute eine Art zweiten Frühling bescherte, während in Europa insbesondere die Subventionen für erneuerbare Energieträger als indirekte Kostenelemente zu Buche schlugen und in der Spitze in manchen EU-Ländern fast 60 % des gesamtes Energiepreises ausmachten.
Allerdings konnte man in dieser Zeit in Europa zumindest noch davon ausgehen, seinen Energiebedarf decken zu können. Zwar sind seither die erneuerbaren Energien wesentlich marktfähiger geworden, aber die Energiepreise enthalten noch immer einen (viel zu) hohen Anteil an Steuern und Abgaben, der sie zu Lasten der Verbraucher signifikant verteuert und Europa im internationalen Wettbewerb auf die hinteren Ränge verweist. Die Folgen des Ukraine-Krieges lassen die Energie- und Rohstoffpreise zusätzlich in ungeahnte Höhen schießen, befördern die Inflation und stellen mittlerweile sogar die Sicherheit der Energie- und Rohstoffversorgung in Europa zusehends in Frage.
Autorin: Dorothee Arns, Director General, European Association of
Chemical Distributors (FECC)
Downloads
Kontakt
FECC
Rue du Luxembourg 16B
1000 Brussels, Belgium
Belgien
+32 2 6790263
+32 2 6727355