Die Bedeutung des Chemiehandels in Zeiten vulnerabler Wertschöpfungsketten
Beim FECC-Jahreskongress 2024 unter dem Motto „Quo vadis, Europe?“ werden alle relevanten Themen für die gesamte Chemiebranche diskutiert.
Die letzten vier Jahre mit beispiellosen Herausforderungen haben überall ihre Spuren hinterlassen – in der Gesellschaft und in der Industrie. Seit dem Beginn der Pandemie im ersten Quartal 2020 befindet sich die europäische Chemie-Wertschöpfungskette im quasi-ununterbrochenen Ausnahmezustand, oder – präziser gesagt – gefühlt im Dauerstresstest.
Angefangen hat es mit Corona und den damit verbundenen, politisch verordneten Lockdowns sowie Grenzschließungen in Europa, die es in dieser Form noch nie gegeben hat. Als alle dachten, Corona sei nun einigermaßen bewältigt, folgte Russlands Überfall auf die Ukraine, der zugleich auch eine Art Zeitenwende einläutete in dem Sinne, dass man Frieden und eine stabile Weltordnung offensichtlich nicht länger als selbstverständlich annehmen darf. Seitdem nimmt die Kette der Herausforderungen kein Ende. Mittlerweile addieren sich verschiedene Faktoren nicht nur, sondern verstärken sich auch gegenseitig, wenn man z.B. an die politisch motivierten Übergriffe der Huthi-Rebellen im Jemen auf Schiffe im Suez-Kanal denkt. Alle Herausforderungen haben jedoch eins gemeinsam: sie zeigen die Vulnerabilität unserer Wertschöpfungsketten im Zuge oder auch im Nachgang der Globalisierung.
Auch die herkömmlichen Nachfrage- und Angebotsmuster haben sich in den letzten vier Jahren merklich verändert: Alles ist spürbar hektischer geworden, weniger planbar und scheint grundsätzlich irgendwie immer auf tönernen Füßen zu stehen.
Dies alles beeinflusst auch eine Dynamik in den Wettbewerbsfaktoren: Ökonomischer Erfolg definiert sich jetzt in einer anderen Wahrnehmung und Ausübung von Lieferfähigkeit und Liefersicherheit. Supply Chain Excellence und stetige, solide Szenario-Planung sind zu Kernkompetenzen geworden, die zum Erfolg führen und die Marktteilnehmer von anderen differenzieren, wo es früher mehr auf andere Aspekte wie z. B. den Preis ankam. Dies gilt nicht nur für den europäischen Chemiehandel, sondern für die gesamte Chemie-Wertschöpfungskette.
„Wir brauchen eine Rückkehr zu der früher üblichen Technologieoffenheit.“
Angebot und Nachfrage
Was die Nachfrage angeht, so zeigen sich zumindest erste Lichtblicke am Horizont, die jedoch in ihrer Intensität in den einzelnen EU-Mitgliedsstaaten unterschiedlich ausfallen. Leider hinkt Deutschland als größter europäischer Chemiemarkt immer noch der allgemeinen Entwicklung hinterher, nämlich mit den geringsten Wachstumsraten. Die Ampel-Regierung muss da dringend etwas tun, damit Deutschland nicht den Anschluss verliert.
Auf der Angebotsseite gibt es auch etliche Herausforderungen zu bewältigen, insbesondere bei der Commodity-Chemicals-Lieferkette; sie muss sich mit stark steigenden Importen auseinandersetzen, vor allem aus China. Zum Glück ist die Inflation zurückgegangen und damit einhergehend die Zinssätze, wie vor kurzem von der Europäischen Zentralbank (EZB) verkündet. Dies bringt etwas Erleichterung und macht Investitionen zumindest ein wenig attr aktiver, wenn diese denn überhaupt in Europa erfolgen. Und das ist genau der Kern des Problems: dass Europa eben nicht mehr als der attraktive Wirtschafts- und Industriestandort angesehen wird wie in der Vergangenheit. Gleichzeitig sind wirtschaftliche Stärke und Erfolg immer noch ausschlaggebend für den Lebensstandard der eigenen Bevölkerung und für den Einfluss in der Welt. Im Fall von Europa verringert er sich ohnehin durch den demografischen Wandel und das Aufkommen neuer Wirtschaftsmächte in anderen Teilen der Welt, und nun am Ende offensichtlich auch noch zusätzlich durch hausgemachte Probleme.
Zusätzlich haben wir insbesondere im Zuge der russischen Invasion in der Ukraine eine zunehmende Polarisierung in der Welt beobachten müssen, die es – zumindest in dieser deutlichen Wahrnehmbarkeit – früher nicht gab. Diese Entwicklung zeitigt auch Auswirkungen auf den internationalen Handel, der fragmentierter wird und sich mehr und mehr auf eine Art „Freund-Feind-Differenzierung“ ausrichtet, in unseliger Kombination mit zunehmendem Protektionismus.
Herausforderungen und Chancen
In dieser allgemeinen Gemengelage gibt es für den europäischen Chemiehandel naturgemäß ähnliche Herausforderungen wie für alle anderen Marktteilnehmer der Chemiebranche. Zugleich gibt es für ihn aber auch einige gute Chancen, praktisch zu demonstrieren, was ohnehin in der DNA eines jeden Chemiehändlers steckt: das Quasi-Unmögliche möglich zu machen. Dazu gehört z.B., selbst mit extrem kurzen Vorlaufzeiten noch Produkte beschaffen oder liefern zu können und damit sicherzustellen, dass die Lieferfähigkeit bei den Kunden nicht abreißt, neue Märkte zum Zwecke der Diversifizierung zu erschließen, oder aber Services anzubieten, die die Partner auf der Produzentenseite in dieser Form nicht leisten können oder – z. B. aus Kostengründen – in manchen Fällen auch nicht leisten wollen.
Überhaupt wird Serviceleistung bei und von Chemiehändlern groß geschrieben und gerne in Anspruch genommen, wo Produzenten dem steigenden Kostendruck mit Outsourcing von bestimmten Funktionen der Supply Chain oder Kundensegmenten begegnen. Davon profitiert natürlich der europäische Chemiehandel und hat sich auch in schweren Zeiten als verlässlicher Partner erwiesen. Rückblickend verliefen die letzten vier Jahre für unsere Branche also im Großen und Ganzen recht gut.
Aber natürlich stimmt es auch den europäischen Chemiehandel nachdenklich, wenn die gesamte Chemie-Wertschöpfungskette permanent unter Druck ist und die strukturelle Krise, die durch extrem hohe Energiepreise in Europa verursacht wird, nicht durch konjunkturelle Lichtblicke am Horizont aufgefangen werden kann.
„Die Industrie als elementares Rückgrat von Wirtschaft und Gesellschaft braucht pragmatischere Lösungen."
Pragmatischere Lösungen
Und da sind ganz klar die Politiker gefragt. Als europäischer Verband setzen wir große Hoffnungen auf die neue EU-Kommission und das gerade neu gewählte EU-Parlament. Wir können weiterhin nur intensiv an sie appellieren, dass sie die Bedürfnisse der Industrie als elementares Rückgrat von Wirtschaft und Gesellschaft stärker in die politischen Entscheidungsprozesse mit einbezieht und pragmatischere, kosteneffizientere Lösungen findet, wo in den letzten fünf Jahren ein beispielloser Gesetzgebungs-Tsunami mit exzessiver Bürokratie über uns hereingebrochen ist. Neue Gesetze sollen nicht nur gut gemeint, sondern auch gut gemacht sein. Daran müssen sich auch Politiker messen lassen.
Wir brauchen zudem eine Rückkehr zu der früher üblichen Technologieoffenheit und nicht das Vorschreiben bestimmter Verfahren oder Technologien, die nicht immer ausgereift genug sind, um Markterfolg sicherzustellen. Die jüngste Zeit hat dazu einige Belege geliefert und gezeigt, dass man den Märkten nicht etwas aufoktroyieren kann, das die Konsumenten am Ende aus finanziellen, organisatorischen oder anderen Gründen im Alltag gar nicht darstellen können. Auch dies ist ein Grund dafür, dass sich Europas Wettbewerbsfähigkeit verringert hat.
Und damit sind wir beim Thema, was nach den Wahlen zum Europa-Parlament gerade in Brüssel passiert. Derzeit werden die Spitzenpositionen in dem für die EU üblichen Verfahren zwischen den 27 EU-Mitgliedsstaaten ausgehandelt. Es scheint relativ sicher festzustehen, dass Ursula von der Leyen für eine zweite Amtszeit als EU-Kommissionspräsidentin wiedergewählt wird – trotz einiger Widerstände bei einigen europäischen Regierungschefs und im neuen EU-Parlament.
Klar ist, dass das Thema Wettbewerbsfähigkeit mittlerweile in der EU-Agenda wesentlich höher angesiedelt ist als in den letzten Jahren. Allerdings bedeutet dies erfahrungsgemäß nicht unbedingt, dass sich eine höhere Priorität auch automatisch in pragmatischerer Gesetzgebung niederschlägt.
Hier sind wir alle als Vertreter der Chemie-Wertschöpfungskette gefragt. Wir dürfen nicht nachlassen, die Politiker darin zu bestärken, dass die europäische Umweltagenda (der sog. Green Deal) sich nur zum Erfolgsmodell entwickeln wird, wenn sie der Industrie zugutekommt und sie nicht schwächt. Gleichzeitig werden Europa und seine Zukunftsvision auch nur so weiterhin in der Welt ernst genommen werden.
Themen entlang der gesamten Wertschöpfungskette
Alle diese Themen stehen auch auf dem Programm des FECC-Jahreskongresses 2024 unter dem Motto „Quo vadis, Europe?“. Die Veranstaltung bringt einmal im Jahr die gesamte europäische Chemie-Wertschöpfungskette zusammen: von Produzenten über – selbstverständlich – den Chemiehandel, Logistik- und andere Service-Partner bis hin zu den Brand Owners. In knapp drei Tagen werden alle relevanten Themen für die gesamte Chemiebranche mit neuen Fakten angereichert und anschließend von Top-Managern aus verschiedenen Bereichen der Wertschöpfungskette kommentiert und eingeordnet. Themen diesmal sind z. B. Industrieentwicklung allgemein, Geopolitik und Energie-Szenarien und Regulatorik. Außerdem werden Fragen behandelt wie: Was sind Erfolgsfaktoren und wo sind die Chancen für Europa im Vergleich mit anderen Kontinenten? Oder: Was macht Europa stark und was können wir von anderen Kontinenten lernen?
Auch das Thema Innovation wird von allen Seiten beleuchtet: von Konsumententrends 2025+ über Ausblicke zu neuen Chemikalien (gibt es sie und wenn ja, dann wo?), einen Business Case zur praktischen Implementierung einer innovativen Idee bis hin zu den Chemiekunden in Form von namhaften Markenartikelherstellern – was brauchen und erwarten sie von der Chemiebranche? Und natürlich generell: Wie kann die gesamte Lieferkette besser und effektiver bei Themen wie Nachhaltigkeit und Innovation zusammenarbeiten?
Autorin: Dorothee Arns, Director General, European Association of Chemical Distributors (FECC), Brüssel, Belgien
„Ökonomischer Erfolg definiert sich jetzt in einer anderen Wahrnehmung von Lieferfähigkeit und Liefersicherheit.“
Downloads
Kontakt
FECC
Rue du Luxembourg 16B
1000 Brussels, Belgium
Belgien
+32 2 6790263
+32 2 6727355