MTP – Aufwand reduzieren, Flexibilität erhöhen
Die Zukunft der Produktion in der Prozessindustrie liegt in der Modularität und Offenheit
Der zunehmende internationale Wettbewerbsdruck auf die produzierenden Betriebe in der Feinchemie, der Spezialchemie oder der Pharmaindustrie verlangt eine kürzere Time to Market für neue Produkte und Flexibilität in der Produktion. Dazu muss die gesamte Lieferkette optimal ausgerichtet sein. Das verlangt eine durchgängige Digitalisierung. Bei den Konzepten zur Umsetzung spielen NOA, MTP und APL eine wichtige Rolle. Dies wurde auch wieder auf der Sonderschau „Process Industry: Future Production is Modular & Open“ auf der Hannover Messe 2022 deutlich gemacht.
Schwerpunkte der Ausstellung – die auch auf der Achema im August 2022 fortgeführt wird – sind die Kerntechnologie der modularen Automation mit dem Module Type Package (MTP), das den einzelnen Modulen eine digitale Beschreibung gibt, und die NAMUR Open Architecture (NOA), die einen sicheren zweiten Kanal für Vitaldaten unter anderem für Monitoring und Optimierung von Prozessanlagen ermöglicht, ohne den eigentlichen Prozess zu stören. Quasi als verbindendes Element steht mit Ethernet APL (Advanced Physical Layer) eine standardisierte, offene Kommunikationstechnologie zur Verfügung
Modulare Produktion
Aber wo liegt der Nutzen dieser neuen Technologien? Durch Modularisierung einer Produktionsanlage wird der Einsatz von standardisierten Anlagenteilen möglich. Die modulare Produktion mit MTP ist ein wichtiger Bestandteil der Digitalisierung der Prozessindustrie, die von den Anlagenbetreibern immer stärker vorangetrieben wird. Wichtige KPIs von Prozessanlagen lassen sich damit wesentlich verbessern. Im Durchschnitt können die Zeit bis zum Markteintritt halbiert, der Engineering-Aufwand um 70 % reduziert, die Flexibilität um 80 % erhöht werden. Felix Seibl, Fachbereichsgeschäftsführer Messtechnik + Prozessautomatisierung im ZVEI (Verband der Elektro- und Digitalindustrie) äußert sich dazu: „Durch die modulare Produktion können Prozessanlagen schnell erstellt und umgerüstet werden. Damit ermöglicht sie den Unternehmen, flexibel auf neue Marktanforderungen zu reagieren und den Engineering-Aufwand erheblich zu reduzieren.“
Auch NOA ist Kernelement der Digitalisierung der Prozessindustrie. „Gestrandete“ Vitaldaten sind nur mit enormem Engineering-Aufwand zu erreichen und bleiben bisher in 80 % der Anlagen ungenutzt. NOA verringert diesen Aufwand und macht den Anwendern mehr nutzbare Daten zugänglich. Die Nachfrage nach Messdaten steigt also, weil der Nutzen der Daten größer wird: Eine Win-win-Situation für Anwender und Hersteller von Prozessautomatisierung. Nils Weber, Geschäftsführer der NAMUR, fasst zusammen: „NOA ist das Konzept für die Digitalisierung im Feld. Es ermöglicht, zusätzliche Daten über den kompletten Automatisierungs-Layer sicher verfügbar zu machen. Zusätzliche Daten sind zwingend erforderlich, wenn man Konzepte wie zum Beispiel vorbeugende Instandhaltung effizient umsetzen will.“
Harmonisierte Kommunikation
Durch Modularisierung einer Produktionsanlage wird der Einsatz von standardisierten Anlagenteilen möglich, mit denen die Flexibilität erhöht wird und Änderungen an Produktionsanlagen leichter durchführbar sind. Dies hat auch Konsequenzen für die Automatisierungstechnik: Für Automatisierungsanwendungen, die bisher lokal gewirkt haben, wird eine zunehmende Vernetzung gefordert über verschiedene Module, verschiedenen Produktionsanlagen innerhalb eines Standorts und über Standorte hinweg, sogar über die Grenzen von produzierenden Unternehmen. Dies hat zur Folge, dass Automatisierungssysteme, die nach unterschiedlichen Standards implementiert wurden, miteinander kommunizieren müssen, um Daten bzw. Informationen auszutauschen. Dies kann nur durch Harmonisierung der in verschiedenen Industriebranchen und Regionen geschaffenen Standards effizient erfolgen. Die Entstehung von solchen harmonisierten Standards erfordert Kooperationen von den verantwortlichen Organisationen. Hierbei hat sich Profibus & Profinet International (PI) in den beiden letzten Dekaden hervorgetan – mit ein Grund dafür, warum NAMUR und ZVEI, die MTP ins Leben gerufen haben, nun für die Fortentwicklung, Qualitätssicherung und internationale Verbreitung von MTP mit PI einen starken Partner ins Boot geholt haben.
Karsten Schneider, Vorstandsvorsitzender von Profibus und Profinet International (PI), äußert sich dazu: „PI wird ihre Erfahrung bei Training und Zertifizierung einbringen und damit Angebote für MTP entwickeln. Dadurch werden sowohl Hersteller von MTP-Lösungen als auch Anwender schneller an die Technologie herangeführt. Ein ausgearbeitetes Zertifizierungskonzept ist die Grundlage für hersteller-übergreifende Interoperabilität. In beiden Feldern verfügt PI über langjähriges Know-How. Mit den weltweit 53 Competence-Centern, 31 Trainings-Centern und 9 Test-Labs ist PI bestens für MTP aufgestellt. Wir sehen MTP als ideale Ergänzung zu unserer Technologie, denn PI befindet sich in einer Transformation von einer Feldbus-Organisation zu einem echten Enabler für Industrie 4.0 in der Produktion.“
Offene Integration
Für PI ist die Kooperation mit anderen Organisationen und Verbänden keine neue Aufgabe. Bereits seit 10 Jahren demonstriert sie mit FDI (Field Device Integration, eine Integrationstechnologie für Daten aus Feldgeräten), dass über die Zusammenarbeit schneller erfolgreiche Technologien in den Markt gebracht werden können. Das jüngste Beispiel hierzu ist Ethernet-APL, das ebenso aus Anforderungen der NAMUR geboren wurde.
Ein weiterer Begriff war auf der Sonderschau zur zukünftigen Produktion der Prozessindustrie fast überall präsent: die Verwaltungsschale (AAS, Asset Administration Shell), Basis zur Erstellung von digitalen Zwillingen. In der Industrie 4.0-Welt erhält jeder Gegenstand eine Verwaltungsschale, in der sämtliche Informationen und Funktionalitäten des Assets (vom Gerät über ein Modul bis zur Anlage) beschrieben sind. Teilmodelle mit standardisierten Inhalten sind neben der Struktur einer Verwaltungsschale Voraussetzung, die Unternehmen erfüllen müssen, um ein interoperables übergreifendes System in ihrer Produktion sowie auch in anderen Bereichen zu schaffen. Die zukünftigen Vorteile gehen hin bis zur Resilienz von Lieferketten, die durch die schnelle Digitalisierung der Verwaltungsschale samt der Funktionalität der digitalen Zwillinge erreicht werden kann.
Gemeinsame Organisation
Organisiert wurde die Sonderschau auf der Hannover Messe von NAMUR, PI, ProcessNet, VDMA und ZVEI. Unternehmen wie ABB, Copa-Data, Emerson, Endress+Hauser, Hima, Krohne, Pepperl+Fuchs, Phoenix Contact, Schneider Electric, Semodia, Siemens, Wago und Yokogawa unterstützen den Messeauftritt. Die Academia war durch TU Dresden, Helmut-Schmidt-Universität Hamburg, TU Ingolstadt, Fraunhofer IFF vertreten. Eine Vielzahl von Anwendern wie BASF, Bayer, Bilfinger, CHT, Covestro, Evonik, Heubach, Lanxess und Merck aus der chemisch-pharmazeutischen Industrie beteiligen sich in Kooperation mit Modulbauern an der Sonderschau und stellten Exponate und Demonstratoren zur Verfügung, die das Thema greifbar machten. Wir dürfen gespannt sein auf die Weiterführung der Ausstellung auf dem Achema-Kongress “Modular Production – a paradigm shift for the process industry“.
Autor: Volker Oestreich, CHEManager