Datenbasierte Recherche analysiert 52 Zukunftstechnologien in der Chemie
22.02.2022 - Welches sind die wichtigsten aufkommenden Technologien in der Chemie? Wer entwickelt sie? Und wer kooperiert dabei mit wem?
Welches sind die wichtigsten aufkommenden Technologien in der Chemie? Wer entwickelt sie? Wer kooperiert dabei mit wem? Und welche Geschäftsmodelle ergeben sich daraus? Datenbasierte Recherchen geben Aufschluss.
Eine einfache Web-Suche nach „Chemistry Emerging Technologies” bringt Treffer mit Artikeln, die aufkommende Technologien, meist etwa zehn Stück, kurz beschreiben. Veröffentlicht werden solche Listen z. B. von der American Chemical Society (ACS), der International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC), einschlägigen Journals, dem World Economic Forum oder Strategieberatern. Sie bringen interessanten Stoff für Diskussionen. Allerdings ist es in der Regel nicht einfach oder unmöglich herauszufinden, aus welchem Grund gerade die aufgeführten Technologien beschrieben werden und nicht andere. Grund dafür ist die bestimmte Herangehensweise an die eingangs gestellte Frage. Ein alternative, datenbasierte Methode kann hier Abhilfe schaffen.
Datenbasierte Recherche – die Methode
Hierbei wird zunächst die eingangs gestellte Frage etwas umformuliert: Statt nach den „wichtigsten aufkommenden Technologien“ fragen wir nach den „am stärksten wachsenden aufkommenden Technologien“. Während „wichtig“ sehr schwer zu quantifizieren ist und auch jeweils vom jeweiligen Kontext abhängt – was für das eine Unternehmen oder Produkt wichtig ist, mag für ein anderes keine Rolle spielen – ist Wachstum besser messbar. Relevante F&E-Wachstumssignale sind z. B. steigende Venture-Capital-Investitionen in eine Technologie, mehr Patentanmeldungen, mehr Veröffentlichungen in wissenschaftlichen Journals und Preprints, sowie steigende öffentliche F&E-Investitionen.
Zur Analyse dieser F&E-Wachstumssignale dient hier die Software, die wir bei Mergeflow entwickeln und betreiben. Sie sammelt und analysiert Textinhalte mit F&E-Bezug, inkl. der oben genannten Daten, z. B. zu Venture-Investitionen, Patentanmeldungen, wissenschaftliche Publikationen sowie Projekt-Steckbriefe zu öffentlichen F&E-Programmen. Alle Informationen werden weltweit gesammelt. Für ihre Analyse werden auch Methoden des maschinellen Lernens und des Natural Language Processing (NLP) verwendet. Beispielsweise kann die Software erkennen, ob eine Gruppe von Wörtern eine Person, eine Organisation oder ein Investment bezeichnet, oder mit welchen Themen sich ein Dokument befasst.
52 Emerging Technologies in der Chemie
Auf dieser Weise haben wir 52 aufkommende Emerging Technologies analysiert. Dazu zählen Materialien (z. B. Aerogele, 2D-Materialien, Quantum Dots) und Verfahren (z. B. Pyrolyse, Kunststoffrecycling, Abwasserbehandlung) sowie Themenkomplexe wie grüner Wasserstoff. Die vollständige Liste kann gemeinsam mit weiteren Daten auf der Webseite von Mergeflow heruntergeladen werden.
Die Tabelle zeigt, welche der analysierten Themen in Bezug auf die vier untersuchten F&E-Wachstumssignale derzeit ein besonders starkes Wachstum (gekennzeichnet mit 1) zeigen. Das Wachstum wird dabei wie folgt berechnet:
- Wie viele Veröffentlichungen (bei Patenten und wissenschaftlichen Publikationen) und wie viele Investitionen (Venture Capital und öffentliche Investitionen in USD) gab es für das Thema in den letzten zwölf Monaten und den vier Jahren zuvor insgesamt?
- War die Zahl für die letzten zwölf Monate größer als 20 % der Gesamtsumme? (Eine Gleichverteilung über 5 Jahre würde 20 % pro Jahr ergeben.)
- War die absolute Zahl für „die letzten zwölf Monate“ bei dem Thema größer als jede absolute Zahl aller anderen Jahre davor?
Wenn sowohl Punkt 2 als auch 3 mit „ja“ beantwortet werden, zeigt das Thema ein besonders starkes Wachstum. Zu beachten ist, dass wir hier nur das Wachstum bewerten. Das Volumen eines Themas (Anzahl Publikationen oder Investitionssumme) ist davon unabhängig. So weist bspw. das Thema Antimicrobial Materials absolut gesehen die größten Investitionen und Anzahl Publikationen und Patente auf. Doch nur in den wissenschaftlichen Publikationen zeigt es besonders starkes Wachstum.
Was steckt hinter den Zahlen der Tabelle? Welche Unternehmen sind aktiv, was machen sie? Und wer sind die Forschenden hinter den wissenschaftlichen Publikationen? Im Folgenden haben wir dies exemplarisch für die drei Wachstumsthemen grüner Wasserstoff, Aerogel und Computational Materials Discovery dargestellt, welche Informationen wir mit datenbasierten Recherchen erhalten können.
Grüner Wasserstoff für die Schwerindustrie
Grüner Wasserstoff wird elektrolytisch mit erneuerbarer Energie gewonnen. Es ist das einzige Thema, das bei allen vier Signalen ein besonders starkes Wachstum aufweist.
Gerade in kapitalintensiven Technologiebranchen wie der Chemie stammen erste Investitionen in Unternehmen oft aus öffentlichen F&E-Programmen. Dazu zählt z. B. das Horizon-2020-Programm der EU, sowie das SBIR-Programm (Small Business Innovation Research) der US-Administration. Während im Horizon-2020-Programm oft große Projektkonsortien gefördert werden, unterstützt das SBIR-Programm einzelne, meist kleinere Unternehmen.
Ein Beispiel ist Celadyne, eine Ausgründung aus der University of Texas, Austin. Celadyne entwickelt neuartige Membranen für elektrolytische Wasserstoffgewinnung. Zielmarkt sind vor allem industrielle Anwendungen, z. B. Schwerlasttransport und industrielle Fertigung. In den Jahren 2019 und 2020 erhielt das Unternehmen über das SBIR-Programm Förderung vom US Department of Defense. Celadyne kooperiert u. a. mit dem Argonne National Laboratory und Breakthrough Energy und erhielt im April 2021 Venture Capital von Shell Ventures.
Wasserstoff-Kapsel-System für die emissionsfreie Luftfahrt
Das Unternehmen Universal Hydrogen hat ein Logistik-System für Wasserstoff in der Luftfahrt entwickelt. Der grün produzierte Wasserstoff wird dabei in Kapseln gefüllt. Für den Transport der Kapseln zum und am Flughafen werden Transportwege und -ausrüstung verwendet, die schon für die Gepäckabfertigung vorhanden ist. Außerdem können bereits existierende Flugzeugmuster auf den Wasserstoffantrieb umgerüstet werden. Ziel ist, ab 2025 mit dem Passagierbetrieb im Regionalverkehr mit den weit verbreiteten Flugzeugtypen ATR72 und Dash-8 zu beginnen. Diese Geschwindigkeit in der Entwicklung ist nur realistisch, da bereits existierende Systeme und Flugzeugtypen verwendet werden können.
Insgesamt bekam Universal Hydrogen bisher Venture Capital in Höhe von 85 Mio. USD. Zu den Kapitalgebern zählen Mitsubishi HC Capital, Tencent, Stratos, GE Aviation, Playground Global, Fortescue Future Industries, Coatue, Global Founders Capital, Plug Power, Airbus Ventures, JetBlue Technology Ventures, Toyota AI Ventures, Sojitz Corporation und Future Shape.
Aerogele für die wärmste Jacke der Welt
Aerogele sind Festkörper, die mit unterschiedlichen Eigenschaften hergestellt werden können (z. B. spröde, elastisch, transparent, elektrisch leitfähig). Aufgrund ihrer geringen Wärmeleitfähigkeit eignen sie sich u. a. sehr gut als Isolationsmaterial, eignen sich aber auch als Filter.
Auf der Grundlage eines Aerogels, das von der NASA zur Isolation von Raumfahrzeugen entwickelt wurde, hat das Unternehmen Oros die nach eigener Aussage „wärmste Jacke der Welt“ entwickelt. Das Besondere dabei: Die Jacken sind trotz der enormen Wärmeleistung sehr dünn, leicht und atmungsaktiv. Damit bieten sie hohe Bewegungsfreiheit und geringes Packmaß. Andere Materialien, wie Daunen oder Thinsulate, können diese Kombination von Eigenschaften nicht leisten.
Bisher erhielt Oros 16,5 Mio. USD Venture Capital. Investoren sind u.a. Elizabeth Street Ventures, und Enlightenment Capital. Gegründet wurde das Unternehmen 2015 im Rahmen einer Kickstarter-Crowdfunding-Kampagne. Mittlerweile ist Oros weltweit aktiv, über Internet-basierten Direktvertrieb.
Wer forscht mit wem? – Kollaborationsnetzwerk zu Aerogelen
Ein Analytik-Modul der Mergeflow-Software erkennt Personennamen in Texten. So lassen sich z. B. Co-Autoren-Netzwerke darstellen. Diese sind ein Proxy für Kollaborationsnetzwerke in der Forschung, im Gegensatz zu Zitiernetzwerken, da eine Zitierung in der Regel keine Zusammenarbeit bedeutet. Die Grafik auf dieser Seite zeigt einen Teil des Kollaborationsnetzwerks im Bereich Aerogele. Datengrundlage sind einschlägige Journal- und Preprint-Veröffentlichungen. Je größer ein Knoten in dem Netzwerk, desto mehr Veröffentlichungen hat eine Person; je dicker die Linie zwischen zwei Knoten, desto mehr gemeinsame Veröffentlichungen zweier Personen.
Eine zentrale Rolle in dem Netzwerk spielt Barbara Milow. Barbara Milow leitet die Abteilung Aerogele am Institut für Werkstoff-Forschung des DLR. Ein thematischer Schwerpunkt in der Arbeitsgruppe ist die Entwicklung neuartiger Kathoden für Lithium-Schwefel-Batterien, mittels Kohlenstoff-Aerogelen. Weitere Themen sind Silica- und Duroplast-Aerogele als Dämmmaterialien sowie Biopolymer-Aerogele als (Luft-)Filter.
Computational Materials Discovery: Bioaktive Peptide identifizieren
Bei Computational Materials Discovery werden Methoden wie maschinelles Lernen oder High-Throughput-Screening eingesetzt, um neue Materialien oder Materialeigenschaften zu entdecken. Diese (hauptsächlich) softwarebasierten Methoden haben im Bezug auf Geschwindigkeit, Skalierbarkeit und Kosten große Vorteile.
Das Unternehmen Nuritas entwickelt und betreibt eine Software-Plattform, die bioaktive, natürlich vorkommende Peptide identifiziert. Die Ergebnisse bzw. Vorhersagen der Software-Plattform werden dann im eigenen Labor und in klinischen Studien verifiziert.
Bioaktive Peptide gehören zu den wichtigsten Botenstoffen im menschlichen Körper. Fokus bei Nuritas sind Peptide, die präventiv vor allem gegen chronische Krankheiten eingesetzt werden können.
Im November 2021 erhielt Nuritas 45 Mio. USD Venture-Investments. Die Investoren sind u. a. Cleveland Avenue, Wheatsheaf Group, der European Circular Bioeconomy Fund (ECBF), Vertex Holdings, sowie Nutresa Ventures. Nuritas kooperiert u. a. mit BASF, Johnson & Johnson, sowie Sumitomo Chemical.
Kooperationen zwischen Industrie und Academia
Patente können Hinweise auf Kooperationen liefern, z. B. zwischen Unternehmen und akademischen Forschungseinrichtungen. Um solche Hinweise skalierbarer entdecken zu können, hat die Mergeflow-Software auch einen Algorithmus, der die Namen von Unternehmen und Organisationen erkennt.
Ein Beispiel im Bereich Computational Materials Discovery ist die Kooperation zwischen Samsung, dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) sowie der University of California, Berkeley. Der thematische Fokus der Kooperation liegt auf der Entwicklung neuer Batteriesysteme, und zwar gestützt durch Computational Materials Discovery. Zentrale Person in diesem Kooperationsbeispiel ist Gerbrand Ceder, Professor an der University of California, Berkeley (und ehemals MIT). Neben Kristin Persson ist Gerbrand Ceder auch Initiator des Materials Project, einer Datenbank mit Informationen vor allem zu Energiespeicher relevanten Materialien.
Die Grenzen datenbasierter Recherchen
Wie bei jeder anderen Methode sind auch bei der datenbasierten Recherche einige Einschränkungen zu beachten. Es kann z. B. kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben werden. Die analysierte Liste der 52 Technologien stammt aus den eingangs erwähnten Listen, anderen Studien und Gesprächen sowie teils aus Analysen mit unserer Software selbst, in dem wir nach Themen und Wortgruppen gesucht haben, die in chemischen Patenten, wissenschaftlichen Veröffentlichungen oder Venture-Capital-Investments vermehrt vorkommen.
Auch die Frage der Abgrenzung zu anderen Industrie- und Technologiebranchen ist nicht immer eindeutig zu beantworten. Der Übergang von Chemie zu anderen Technologiebranchen ist oft kontinuierlich. So haben wir bspw. Tissue Engineering oder CRISPR nicht in unserer Analyse betrachtet, auch wenn sicher gute Gründe dafürsprechen würden, diese oder auch andere Themen hier zu berücksichtigen.
Zudem sind die behandelten Themen nicht immer unabhängig voneinander. So sind z. B. grüner Wasserstoff und grüner Ammoniak verwandt. Damit sind auch Analyse-Ergebnisse für diese Themen nicht voneinander unabhängig. Auch hier gilt: das Ziel ist eine erste Annäherung, nicht eine alles erschöpfende Analyse.
Autor: Florian Wolf, Mergeflow AG, München
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STUDIE ZU EMERGING TECHNOLOGIES
Die vollständige Analyse der 52 Emerging Technologies in der Chemie sowie ergänzende Daten zu diesen und den anderen Themen sind online verfügbar.
ZUR PERSON
Florian Wolf ist Gründer und Vorstand des Münchner Software-Unternehmens Mergeflow, das eine Technologie- und Innovations-Analyse-Plattform entwickelt und anbietet. Wolf promovierte in Brain and Cognitive Sciences am Massachusetts Institute of Technology (MIT) in den USA, und war Postdoc in Computer Science und Genetics an der University of Cambridge. Er ist Mitglied des weltweiten Beirats der Zeitschrift MIT Technology Review.
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