NAMUR Technologie-Roadmap „Prozess-Sensoren 2027+“
Mess- und Analysentechnik für mehr Nachhaltigkeit und Wirtschaftlichkeit
Die Technologie-Roadmap „Prozess-Sensoren 2027+“ der NAMUR fasst die gemeinsame Technologie- und Marktsicht von Anwendern, Herstellern und Forschungseinrichtungen im Bereich Prozess-Sensorik in der verfahrenstechnischen Industrie zusammen. Digitalisierung und Nachhaltigkeit sind übergreifende Kernthemen der künftigen Entwicklung.
Sprüche wie „Daten sind das Gold des 21. Jahrhunderts“ oder „Nichts kann geregelt werden, was nicht zuvor gemessen worden ist“ locken bei Automatisierungstechnikern bestenfalls ein müdes Lächeln hervor – für sie sind das Binsenweisheiten. Und sie wissen auch, dass man sich für Verbesserungen eines Regelkreises über dessen Zeitkonstanten und Systemdynamik im Klaren sein muss. Aber das bedeutet keinesfalls, dass es in der Mess- und Regeltechnik keine neuen Herausforderungen gibt. Im Gegenteil: Der Klimawandel und die damit verbundene Verpflichtung zu mehr Kreislaufwirtschaft stellen die Herstellprozesse und Warenströme in der Prozessindustrie vor gewaltige Herausforderungen, und das in einer vergleichsweise sehr kurzen Zeit. Dieser Wandel kann nur mit einem Mehr an Prozess-Sensorik und dem daraus resultierenden Mehr an hochwertiger Information gelingen. Dies hat die NAMUR bewogen, mit der neuen Ausgabe der Technologie-Roadmap „Prozess-Sensoren 2027+“ - wiederum einem Gemeinschaftswerk von Anwendern, Herstellern und Forschungseinrichtungen - aktuelle Anforderungen und erwartete technologische Entwicklungen zusammen zu tragen und aneinander zu spiegeln. Damit soll ein wichtiger Beitrag für die Transformation der Prozessindustrie und damit auch deren gesellschaftlicher Akzeptanz geliefert werden.
Frank Gruembel, Leiter Prozessanalysentechnik, Lanxess und Leiter des AK 3.6, NAMUR
„Die partnerschaftliche Zusammenarbeit führt zur Standardisierung von Digitalisierungsmaßnahmen zum allseitigen Nutzen.“
Nachhaltigkeit und Digitalisierung
Der in der gesamten Industrielandschaft vorherrschende und unaufhaltsame Trend zur Digitalisierung hat auch die Prozess-Sensorik erfasst und führt zu erheblichen Veränderungen. In fünf Thesenclustern (Allgemeine Anforderungen, neue Produktionsprozesse und Applikationsfelder, neue Messstrategien, Nutzung digitaler Daten und Standardisierung) mit insgesamt 19 Thesen fasst die Roadmap die Anforderungen und Entwicklungen der Prozess-Sensorik zusammen. Nachhaltigkeit und Digitalisierung sind übergreifende Kernthemen der künftigen Entwicklung – und erstere ohne die zweite kaum zu erreichen. Darin sind sich die 20 Experten der Prozess-Sensorik, die in sieben digitalen und einem abschließenden Präsenzmeeting die Roadmap erstellt haben, einig. Frank Gruembel, Leiter Prozessanalysentechnik bei Lanxess und Leiter des AK 3.6 „Analysenmesstechnik“ bei der NAMUR resümiert: „Die konstruktive und partnerschaftliche Zusammenarbeit im Team hat zum gegenseitigen Verständnis beigetragen und führt zur Standardisierung von Digitalisierungsmaßnahmen zum beiderseitigen Nutzen. Diese Standardisierung und die gemeinsam abgestimmte Strategie und Zukunftsvision wird auch bei Lanxess dazu führen, Digitalisierungsmaßnahmen in eine heterogene Anlagenstruktur einfach und nachhaltig zu integrieren. Die Hürde zum Einsatz der PAT-Messtechnik, um einen relevanten Beitrag z.B. zum CO2-Fußabdruck leisten zu können, wird damit deutlich gesenkt.“
Vielfältige Anforderungen an Sensorik
Prozess-Sensoren sind ein wesentlicher und kritischer Bestandteil von verfahrenstechnischen Anlagen]. Die Anforderungen an Robustheit, Genauigkeit, Verfügbarkeit und Standzeit der Sensoren sind dementsprechend hoch. Langzeitstabilität und eine hohe Reproduzierbarkeit sind besonders für den Einsatz in Automatisierungskonzepten erforderlich. In sicherheitsgerichteten Anwendungen ist zusätzlich ein hohes Maß an Zustandsüberwachung und Selbstdiagnose erforderlich. Die Verfügbarkeit von Zusatzdaten aus den Messsystemen erweitert den Nutzen in Bezug auf sekundäre Prozessinformationen und Instandhaltung.
Um verbleibende Optimierungspotentiale in Anlagen heben zu können, wird Prozessanalysentechnik verstärkt auch in höheren Regelkonzepten (APC, Advanced Process Control) verwendet. Um z.B. in Reinkolonnen die Grenzkonzentrationen präziser anfahren zu können, müssen diese möglichst genau analysiert werden. So können deren Kapazitäten unter Einhaltung der Qualitätsanforderungen erhöht werden.
Aber auch die zunehmenden Anforderungen an Nachhaltigkeit machen den Einsatz entsprechender Prozess-Sensorik und –Analytik notwendig. So kann eine präzise Endpunktbestimmung und Reaktionsverfolgung große Beiträge zur Ressourcen- und Energieeffizienz liefern, indem Produkt in der erforderlichen Reinheit ohne Rückstände und Nebenprodukte erzeugt werden.
Armin Lambrecht, Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM
„Ambulante Prozess-Sensoren werden vermehrt bei An- und Abfahrprozessen eingesetzt.“
Neue Produktionsprozesse und Applikationsfelder
Eine Reihe von traditionellen Herstellungsverfahren und Stoffklassen in der chemischen und pharmazeutischen Industrie müssen in Anbetracht der wachsenden Anforderung an Nachhaltigkeit und der fortbestehenden Anforderung an Kosteneffizienz substanziell weiterentwickelt, teilweise ersetzt oder von Grund auf neu etabliert werden. Bioprozesse werden neben der Pharmaproduktion auch in Fein- und Großchemie zunehmend neue Anwendungsfelder finden. Eine effiziente Prozessregelung wird dabei durch spezialisierte Sensorik für biologische Zielgrößen erreicht werden. Treiber dieser Entwicklung sind die Umstellung auf nachwachsende Rohstoffe und Kreislaufprozesse, zunehmender Kostendruck durch CO2-Abgaben sowie neuartige Stoffklassen und Produkte aus der Materialforschung oder personalisierte Therapeutika aus der Medizin. In der Folge ist eine weitaus höhere Anzahl von Prozessen und Herstellungsmethoden robust zu beherrschen, bei in vielen Fällen gleichzeitig zunehmender Komplexität. Neue Messanforderungen sind zu erwarten und spezifische Qualitätssicherung wird benötigt werden. Michael Maiwald, Fachbereichsleiter Prozessanalytik bei der Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM) sagt dazu: „Die Überwachung spezifischer Informationen wie z.B. physikalisch-chemische Eigenschaften oder chemische Reaktionen sind eine zwingende Voraussetzung für die "chemische" Prozessführung, insbesondere wenn dabei gefährliche oder kurzlebige Zwischenprodukte gebildet werden. Um einen akzeptablen Weg zur "chemischen" Prozesssteuerung zu finden und damit Sensoren und Aktoren den Anforderungen der digitalen Transformation und den damit verbundenen Aufgaben in Zukunft besser gerecht werden können, müssen sie mit intelligenten Funktionen ausgestattet werden.“
Monika Heisterkamp, Director Marketing, Endress+Hauser Liquid Analysis
„Das volle Potenzial der Digitalisierung wird nur durch gemeinsames Handeln von Herstellern, Anwendern und Akademia ausgeschöpft.“
Nichtinvasiv und ambulant
Die Bedeutung von inline-Messverfahren und nichtinvasiven Messtechniken in der Prozessanalytik wird weiter zunehmen; dabei erfolgen die Messungen direkt im oder am Prozessmedium ohne explizite Probennahme. So können dynamische Prozesse ohne Verzögerung verfolgt und effizient geregelt werden. Fehler durch die Probennahme und Probenaufbereitung werden vermieden.
Michael Maiwald, Fachbereichsleiter Prozessanalytik, Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM)
„Produktionsprozesse können durch ein verbessertes Wissensmanagement flexibler gestaltet werden.“
In vielen Fällen, beispielsweise bei An- und Abfahrprozessen von kontinuierlichen Prozessen, ist eine aufwändige Prozessanalytik nur für einen begrenzten Zeitraum erforderlich. Für die Prozess-Optimierung reicht die „Lernkurve“ aus und das Messgerät kann nach einiger Zeit herausgenommen werden. Für diese „ambulante Sensorik“ ist es wichtig, dass die Schnittstellen in die Leittechnik (Konnektivität) sowie in den Prozess möglichst einfach sind. Dies betont auch Armin Lambrecht vom Fraunhofer-Institut für Physikalische Messtechnik IPM in Freiburg, der die Moderation des Roadmap-Projektteams übernommen hatte: „Digitalisierte vernetze Prozess-Sensoren ermöglichen neue Messstrategien für etablierte und neue Prozesse und Anlagen. Der Trend geht dabei zu nichtinvasiven Prozess-Sensoren, die vermehrt ambulant einsetzbar sind, zum Beispiel beim An- und Abfahren von kontinuierlichen Prozessen.“
Ausblick
Die Roadmap betont die Notwendigkeit der intensiven, aktiven Zusammenarbeit aller Partner. Das bestätigt auch Monika Heisterkamp, Director Marketing bei Endress+Hauser Liquid Analysis: „Das volle Potential der Digitalisierung wird nur durch gemeinsames Handeln von Herstellern, Anwendern und Akademia ausgeschöpft. Die Roadmap schafft eine gemeinsame Sicht auf die Anforderungen an Prozess-Sensoren und ermöglicht eine abgestimmte Vorgehensweise aller zur optimierten Nutzung der generierten Messdaten.“
Wenn die Hersteller die für zukünftige Anforderungen erforderliche Sensorik entwickeln und herzustellen und die Anwender die moderne und smarte Sensorik dann aber auch zur Anwendung bringen, kann die Tür zu einer nachhaltigen und wirtschaftlichen Produktion weiter geöffnet werden. Martin Gerlach, Head of Process Analytical Technologies bei Bayer, betont: „Für uns ergeben sich aus der Roadmap neue Perspektiven für den Einsatz der prozessanalytischen Messtechnik mit weiteren Beiträgen zur Verbesserung der Nachhaltigkeit, Effizienz- und Sicherheit der Anlagen. Persönlich wünsche ich mir, dass der in der Roadmap beschriebene technische Fortschritt inklusive der Digitalisierung möglichst bald Realität wird und Einzug in unsere Produktionsanlagen findet, um die Wettbewerbsfähigkeit der Prozessindustrie und natürlich insbesondere die von Bayer global zu stärken.“
Martin Gerlach, Head of Process Analytical Technologies, Bayer
„Die Roadmap liefert Beiträge zur Verbesserung der Nachhaltigkeit, Effizienz- und Sicherheit der Anlagen.“
Autor:
Volker Oestreich, CHEManager
Über den Dächern von Köln. Die meisten Treffen der Projektgruppe Technologie-Roadmap "Prozess-Sensoren 2027+" fanden digital statt – nur einmal traf man sich persönlich bei Lanxess in Köln. Die Teilnehmer (v.l.n.r.): Frank Frenzel, ABB; Andreas Schmidt, Lanxess; Frank Grümbel, Lanxess; Michael Theuer, BASF; Rainer Ohlenkamp, Covestro; Nils Weber, NAMUR; Ulrich Kaiser; Michael Deilmann, Krohne; Michael Bassler, Fraunhofer IMM; Monika Heisterkamp, Endress+Hauser; Armin Lambrecht, Fraunhofer IPM; Thorsten Pötter, Samson; Wolfgang Ens, Siemens; Ulrich Schünemann, BASF; Martin Gerlach, Bayer; Albert Tulke, Bayer; Eckhard Roos, Festo; Philipp Pyka, Evonik. Nicht auf dem Foto sind Michael Maiwald, Bundesanstalt für Materialforschung und -prüfung (BAM), und Jürgen Großmann, Bilfinger Engineering & Maintenancet. (Bild: Frank Gruembel, Lanxess).