Energie- und Rohstoffpreise: Wer soll das bezahlen?
Strom, Gas und Erdöl werden stetig teurer, die Gründe dafür sind vielfältig
Die Kosten für Strom, Gas und Erdöl bzw. Naphtha in Deutschland kennen momentan nur eine Richtung, nämlich steil nach oben. Nachhaltige Beschaffung von Energie, Chemikalien und Materialien sowie die Suche nach bezahlbarer grüner Energie wird daher zur strategischen Schlüsselaufgabe in der chemischen Industrie.
Die Gründe für hohe Energiepreise und knappe Rohstoffe sind vielfältig; sie verstärken sich durch hohe Abhängigkeiten und haben ihren Ursprung häufig am anderen Ende der Welt. So hat der Australien-China-Konflikt dazu geführt, dass immer weniger Kohle den Weg zu chinesischen Kohlekraftwerken findet. Das wiederum führte zum Umlenken vieler Flüssiggastransporte aus den USA und dem Mittleren Osten nach China statt nach Europa. Gleichzeitig haben sintflutartige Regenfälle in Indien mehr als 100 Kohlekraftwerke in Mitleidenschaft gezogen und somit den Energiemangel in Asien weiter verschärft.
In Europa, speziell in Deutschland, führen steigende Abgaben auf fossile Energien zu politisch gewollt steigenden Energiepreisen und hohen CO2-Bewertungen im Zertifikatshandel. Der Green Deal der EU-Kommission dürfte diesen Trend noch weiter forcieren. Dadurch kommt in Europa, aus guten Gründen, eine Kompensation der hohen Erdgaspreise durch stärkere Nutzung von Kohle eigentlich nicht in Betracht. Eigentlich – denn im ersten Halbjahr 2021 ist der Anteil der Kohle an der Stromerzeugung in Deutschland wieder spürbar angestiegen.
Der Green Deal der EU-Kommission
dürfte den Trend steigender Energiepreise
noch weiter forcieren.
Zu diesem unerwarteten Revival und zu den steigenden Energiekosten haben auch klimatische Besonderheiten beigetragen, da in Deutschland der Winter etwa einen Monat länger dauerte und zu ungewöhnlich leeren Gasspeichern führte. Erneuerbare Energien konnten dies nicht ausgleichen, da es sowohl an Sonne als auch Wind mangelte. Die russischen Erdgaslieferungen erfolgten übrigens, anders als häufig dargestellt, völlig planmäßig und das seit vielen Jahrzehnten, unabhängig von Krisen, Kriegen oder sonstigen Faktoren. Aber auch nicht mehr als das, denn natürlich nutzt man die Situation, um die verbesserte Erdgas- und später vielleicht auch Wasserstoff-Versorgungssicherheit durch North Stream 2 zu bekräftigen. Auch andere Staaten, wie z. B. die USA, konnten diese Situation nicht mildern, angesichts der America First Policy, die LNG-Exporte in dieser Situation zu bremsen.
Eine klimaneutrale Chemie benötigt ein Vielfaches an erneuerbaren Energien
Also war das jetzt allein ein Zusammentreffen unglücklicher Umstände, das zu den hohen Energie- und Rohstoffkosten geführt hat bzw. wird dies wie ein böser Spuk einfach wieder verschwinden? Nun, vieles spricht dafür, dass es nicht so ist, eher im Gegenteil. Die strukturell höheren Energiekosten, die hohe Volatilität, die globalen Abhängigkeiten und eine insgesamt schlechtere Versorgungssicherheit werden eher noch zunehmen. Schon heute machen Steuern und Abgaben plus EEG-Umlage und Netzentgelte beim Strom bzw. CO2e-Abgaben beim Erdgas mehr als die Hälfte der Kosten aus.
Wenn Deutschland im Jahr 2022 aus der Kernenergie aussteigt, den Kohleausstieg von 2038 auf 2030 vorverlegt und gleichzeitig den Zubau, die Pufferung und Verteilung erneuerbarer Energien nicht drastisch beschleunigt und voranbringt, wird das zwangsläufig zu volatilen, hohen Energiepreisen führen, trotz u. U. verstärkter Stromimporte aus dem EU-Raum. Das ist besonders fatal, weil die Annahme, dass Energieeffizienzmaßnahmen zu einem geringeren Strombedarf führen, schlicht unrealistisch sind. Wenn man allein die chemische Industrie in Deutschland klimaneutral betreiben will, wird man 3,5- bis 4-mal so viel Energie aus erneuerbaren Quellen benötigen wie bisher. Wenn man dann noch in grünen Wasserstoff und synthetische Treib-, Heiz- und Chemierohstoffe investiert, dann kann es auch das 10-fache Volumen an regenerativ erzeugtem Strom im Vergleich zum heutigen Aufkommen sein, welches man benötigt, um das Gleiche wie heute herzustellen. Energie und Chemierohstoffe werden also nicht nur strukturell teurer, sondern wir benötigen vor allem noch viel mehr regenerativen Strom, um die Transformation in eine klimaneutrale Zukunft zu bewältigen.
Energie und Chemierohstoffe werden
nicht nur strukturell teurer,
wir benötigen vor allem
noch viel mehr regenerativen Strom.
Erneuerbare Energien sind zwar deutlich treibhausgasfreundlicher als fossile Energieträger und deswegen zu bevorzugen. Aber sie sind keinesfalls völlig klimaneutral, da z. B. bei der Stromerzeugung aus Wind oder Sonne auch 10-65 g CO2 pro kWh Strom über den Lebenszyklus erzeugt werden – und dies, wie auch der z. T. erhebliche Ressourcenverbrauch, sollte bei einem massiven Ausbau nicht vernachlässigt werden.
In Summe führt das dazu, dass nicht nur Verbraucher und energieintensive Gewerbe, sondern vor allem die chemische Industrie als größter Abnehmer von Erdgas in eine prekäre, zum Teil existenzbedrohliche Situation gerät, wenn wir den Umbau nicht in der richtigen Reihenfolge und mit den richtigen Maßnahmen begleiten. Auch positive Ertragsmeldungen der jüngsten Zeit, dürfen nicht über die hohen mittel- und langfristigen Risiken hoher Energie- und Rohstoffpreise hinwegtäuschen. Zuletzt ist es vielen Chemieunternehmen gelungen, Kostensteigerungen im Markt weiterzugeben, weil aktuell auch in vielen Anwendungsmärkten noch eine außergewöhnliche Knappheitssituation vorherrscht, die Preiserhöhungen akzeptiert – aber dies dürfte nur eine Momentaufnahme sein. Ein zentraler Schlüsselaspekt für europäische Chemiefirmen ist die internationale Wettbewerbsfähigkeit gegenüber Regionen, die weiter konventionell produzieren. Die EU denkt in diesem Zusammenhang an die Einführung von CO2-Zöllen (Contracts for Difference) und Carbon-Border-Adjustment-Mechanismen. Aber das allein reicht nicht: Die großen Unternehmen können über die Eigenversorgung und zukünftigen Investitionen in Offshore-Windparks und andere Energieerzeugungsanlagen ihre Autarkie und Wettbewerbsfähigkeit vermutlich weiter erhalten, aber für die vielen kleinen und mittelständischen Chemieunternehmen kann die Situation existenzbedrohlich werden. Denn ob die vielfach propagierten Importe von grünem Wasserstoff aus sonnen- oder windreichen Regionen tatsächlich eine wirtschaftlich tragbare Energiebasis in Deutschland schaffen, ist noch zu beweisen. Ansonsten sind auch Verlagerungen chemischer Produktion an die Quelle billiger Energie nicht auszuschließen, wie z. B. die Analogie zum Shale-Gas-Effekt in den USA zeigt. Bemerkenswert ist in diesem Kontext, dass Linde zur Sicherstellung der Versorgungssicherheit und Wirtschaftlichkeit ein Revival der Atomenergie fordert, was sich auch auf EU-Ebene anbahnt, obwohl es politisch, vor allem in Deutschland, tabu ist.
Zwar kann es nicht überraschen, dass Peak-Energiepreise – wie im Moment in den USA – temporär auch wieder etwas nachgeben, aber das ändert nichts an den vorab angerissenen strukturellen Effekten und der Notwendigkeit, die Energie- und Rohstoffversorgung für Chemieunternehmen auf eine neue Basis zu stellen.
Hohe Gaspreise gefährden wirtschaftliche Ammoniakproduktion in Europa
Sehr aufrüttelnd waren die jüngsten Pressemitteilungen, dass das weltweit führende Chemieunternehmen BASF ankündigte, die Ammoniakproduktion in Antwerpen und Ludwigshafen wegen hoher Erdgaspreise runterzufahren, da es kommerziell nicht mehr attraktiv sei, diese Anlagen bei diesen Erdgaskosten zu betreiben. Wenn das zur neuen Norm würde, dann bedeutet das, dass es dann auch keine mineralischen Stickstoffdüngemittel mehr aus Europa gibt. Das werden einige im Sinne der Farm-to-Fork-Ideen des Green Deal noch akzeptabel finden, aber ohne Ammoniak werden wir auch keine Polyacrylnitrilfasern und somit auch keine Carbonfasern mehr in Europa herstellen können. Wir werden auch auf anorganische und organische Nitrile, Amide und Amine aus Europa verzichten müssen, die in der Kosmetik, bei Wasch- und Reinigungsmitteln, Farben und Lacken, Klebstoffen, in der Möbelindustrie oder Textilbereich Anwendung finden. Wollen wir darauf verzichten? Wollen wir diese Produkte lediglich importieren und konsumieren? Wem wäre damit geholfen und was würde man dadurch erreichen? Aber vielleicht kommt es doch ganz anders angesichts der Pläne, in Australien, in Namibia, Südafrika, Chile oder in der Sahara produzierten grünen Wasserstoff in Form von verflüssigtem Ammoniak in großen Mengen nach Europa zu importieren.
Was gilt es also zu tun, um die Chemieindustrie nachhaltig zu machen und weiter in Deutschland und Europa zu halten? Nun, zum einen muss man konstatieren, dass Strom immer schon die teuerste und ineffizienteste Energieform für die Chemie war und das Betreiben von eigenen Gas-Wärme-Kopplungskraftwerken, die Strom und Dampf erzeugen, die effektivste Form der Energiebereitstellung war.
Den energetischen Teil kann man in Form von Investitionen in erneuerbare Energieträger noch abfangen. Strom aus erneuerbaren Energien ist nicht nur umwelttechnisch, sondern auch kostenmäßig eine zunehmend gute Wahl. Dies gilt ganz besonders dann, wenn auch der Verbrauch flexibilisiert und dem Strommarkt angepasst werden kann. Die Zusatzerlöse aus dem Regelenergiemarkt können dann zu einer wichtigen Stütze werden. Auch das elektrische Erzeugen von Dampf ist möglich und sinnvoll, wo dieser benötigt wird.
Die organische Chemie braucht eine intelligente Kohlenstoffstrategie
Problematischer wird es bei der organischen Chemie, d. h. überall da, wo Öl, Gas und Kohle nicht nur als Energieträger, sondern als kohlenstoffhaltiger Rohstoff eingesetzt werden. Hier ist eine intelligente Kohlenstoffstrategie notwendig. Es ist zweifelhaft, ob die Verwendung von Kohlendioxid aus der Luft und Wasserstoff aus Wasser am Ende eine sinnvolle Lösung darstellen werden. Energetisch, thermodynamisch und kostenmäßig erscheint das eher eine problematische Route zur Klimaneutralität zu sein. Die Motivation möglichst viel der vorhandenen Flüssigprodukt-Infrastruktur zu nutzen ist natürlich verständlich, aber es erscheint erst einmal unlogisch das stabilste Kohlenstoffmolekül CO2 als Kohlenstoffquelle für die organische Chemie, und damit für die meisten Anwendungsindustrien, nutzen zu wollen. CCS-Verfahren, die Pyrolyse von fossilen Energieträgern wie Erdgas und der konsequente Einsatz von Müll oder biobasierten Rohstoffen, wo es aus Sicht der Prozesseffizienz sinnvoll ist, als auch das mechanische und chemische Recycling erscheinen dagegen pragmatische Wege zu einer Klimaneutralität zu sein, die den europäischen Sonderweg auch international akzeptabel und exportierbar erscheinen lassen.
In allen Fällen wird die Strategie zur optimalen Nutzung und Beschaffung von Energien, Rohstoffen, Chemikalien und Materialien in den Unternehmen zukünftig eine Schlüsselrolle einnehmen. Die besten Energieversorgungs-, Dekarbonisierungs- und Recyclinglösungen als auch neue Synthesewege werden momentan von vielen Unternehmen, Start-ups und akademischen Institutionen gesucht. Und hier gilt es als Unternehmen nicht nur auf die richtigen Pferde zu setzen, sondern die Beschaffung auch nachhaltig, d. h. möglichst klimafreundlich, zirkulär und schadstofffrei, zu bezahlbaren bzw. wettbewerbsfähigen Konditionen intelligent und vor allem langfristig abzusichern.
Autoren:
Wolfgang Falter, Partner, ChemAdvice GmbH, Wiesbaden
Jörg Fabri, Geschäftsführer Energy, Droege Group AG
ZUR PERSON
Wolfgang Falter ist Chemie- und Nachhaltigkeitsexperte, der Unternehmen bei der strategischen Ausrichtung und Transformation unterstützt. Der promovierte Chemiker hat für Roland Berger, AlixPartners und Deloitte deren Aktivitäten in der Chemieindustrie geleitet. Heute ist er Partner bei ChemAdvice, einem Verbund von erfahrenen Chemiemanagern, die sich auf die Beratung, Konzeption und Umsetzung von strategisch-strukturellen Themen rund um Chemikalien und Materialien fokussieren. Falter hält einen Lehrauftrag an der Wirtschaftshochschule Insead.
ZUR PERSON
Jörg Fabri ist ein Energieexperte, der sich auf erneuerbare Energien, Energiespeicherung und Batterietechnologien fokussiert. Der promovierte Chemiker kennt die Energiebranche von innen aus verschiedenen Managementpositionen bei Shell, RWE und E.on. Fabri ist Investment Direktor bei der Droege Gruppe, wo er vor allem in Green Tech und zirkuläre Wirtschaft investiert. Er ist Mitglied der Europäischen Batterieallianz (EBA), ETIP Batteries Europe, des VDI, Institutes for Energy, VAA, der DGMK und anderer Verbände und Institutionen.