Noch eine Menge Potenzial
Herausgeber Carsten Suntrop über sein Buch „Digitale Chemieindustrie“
Das Buch ist gespickt mit vielen Erfahrungen und Learnings der Autoren und ihren Teams. Deren Sichtweisen sind sicherlich völlig unterschiedlich; so hat jeder Leser die Möglichkeit, seine eigenen Erfahrungen mit den Beiträgen im Buch abzugleichen und seine eigenen Digitalisierungskenntnisse individuell zu erweitern. Zu den adressierten Lesern gehören Geschäftsführer oder Geschäftsverantwortliche aus Chemieunternehmen, Unternehmensentwickler und Leiter der digitalen Initiativen und Programme, Unternehmensberater sowie Lehrende und Studierende, denen das spezifische Thema Digitalisierung in Verbindung mit der chemischen Industrie wichtig ist. Der Herausgeber Carsten Suntrop erläutert die Motivation hinter dem Buch.
Herr Professor Suntrop, welchen Zweck hat das Buch „Digitale Chemieindustrie“? Gibt es nicht bereits Bücher zu dem Thema?
Carsten Suntrop: In der chemischen Industrie ist das Thema Digitalisierung neben Nachhaltigkeit, zirkulärer Wirtschaft und starkem internationalen Wettbewerb um Marktanteile eines der Topthemen, mit denen sich die Organisationen beschäftigen bzw. meines Erachtens beschäftigen sollten. Es gibt viele großartige Bücher zur Digitalisierung, doch die Frage „Was heißt das für unsere Branche Chemie?“ wird nirgendwo beantwortet. Wenn sich so viele Führungskräfte und Mitarbeiter in der chemischen Industrie mit solch einem Thema beschäftigen, dann ist es auch wert, das bestehende Wissen zu diesem Thema zusammenzubringen und diesen „Digitals“ zur Verfügung zu stellen. Das passiert mit diesem Buch, jedenfalls für die Erkenntnisse, die wir bis jetzt gewinnen konnten – morgen werden neue Erkenntnisse hinzukommen.
Ist es denn möglich, alle Meinungen und Erkenntnisse zur Digitalisierung der chemischen Industrie unter einen Hut zu bringen?
C. Suntrop: Das kann dieses Buch auf keinen Fall leisten und soll es ja auch nicht. Ich bin sehr dankbar, dass sich so viele Autoren bereit erklärt haben, dieses Wissen zur Digitalisierung der chemischen Industrie zusammenzuführen. Für einen Autor allein wären diese Breite und Tiefe von Themen und Sichtweisen niemals möglich gewesen.
Der Verband der Chemischen Industrie hat einen tollen Gesamtüberblick zum Thema verfasst. Die Großchemie hat sich mit BASF, Covestro, Evonik und Wacker beteiligt und ihre innovativen und technologisch weit entwickelten Digitalisierungsprojekte zusammengefasst. Die mittelständische chemische Industrie, die eigentlich eher schwer für solche Buchprojekte zu gewinnen ist, hat sich mit Mapei, KWST und R. Kraemer beteiligt. Wir konnten 5-HT, den Digital Hub des BMWi, und die RWTH Aachen für eine Zusammenarbeit gewinnen. Als Lösungspartner ist SAP dabei. Die Perspektive der Chemiedienstleister an großen Chemiestandorten vermitteln Yncoris und Tectrion. Und als Managementberater für die chemische Industrie ist natürlich unser Netzwerk zu anderen Beratungshäusern, welche auch die Digitalisierung in der chemischen Industrie vorantreiben, sehr ausgeprägt. Hier werden spannende Perspektiven von BCNP Consultants, der Boston Consulting Group (BCG) und Ernst & Young (EY) dargestellt.
Die Befähigung zur Umsetzung im Rahmen von Transformationsprozessen und agilem Projektmanagement wurden sehr innovativ von umlaut (part of Accenture) und Contract ausgeführt, hier mit der Möglichkeit, die Beiträge zu dem Thema als Podcast zu hören. Als CMC2 haben natürlich auch wir unsere Beiträge geleistet. Die große Beteiligung an diesem Buch zeigt, wie wichtig allen das Thema ist.
Welche Kernaussagen, was die digitale Reife der Chemiebranche angeht, ziehen Sie aus den Beiträgen?
C. Suntrop: Die chemische Industrie macht doch mehr als ich selbst wahrnehme – woran hinter verschlossenen Türen gearbeitet wird, ist eben nicht für alle zugänglich. Es wird viel an der Digitalisierung gearbeitet, auf sehr vielen Ebenen und an sehr vielen Themen. Allerdings kann der Blick auch hier wieder trügen, denn der Digitalisierungsgrad zeigt die chemische Industrie klar im Mittelfeld der deutschen Branchen, wo ich sie auch vermutet hätte. Wir haben viel Kontakt zu größeren Chemieunternehmen gehabt. Hier passiert extrem viel, und es sind sehr viele schlaue Köpfe am Werk, aber das spiegelt nicht unbedingt die gesamte Branche wider.
Sie spielen auf die überwiegend mittelständisch geprägte Branchenstruktur an?
C. Suntrop: Ja. Unsere Projekte im chemischen Mittelstand zeigen, dass hier anders „gekocht“ wird. Meine Gespräche mit den Geschäftsführern zeigen, dass alle das Thema auf dem Radar haben, auch an Themen arbeiten, weniger darüber reden, mehr einfach machen, aber die Möglichkeiten teilweise mit den finanziellen und sozio-technischen Mitteln begrenzt sind. Wo sich ein Konzern schnell mal 30 Mitarbeiter in ein Digitalisierungsteam ruft, programmiert im kleineren Mittelstand der IT-Leiter am Wochenende die Dashboards fertig.
Und inhaltlich?
C. Suntrop: Die Digitalisierung ist noch sehr klar Prozessoptimierung, was auch völlig okay ist. Der Prozess darf nur nicht mit der Funktion verwechselt werden, und bei der abteilungsübergreifenden Digitalisierung kommen wieder alle an ihre Grenzen. Es gibt noch eine Menge Potenzial bei den Themen der Vollautomatisierung der Supply Chain, der digitalen Marktbearbeitung und der Nutzung von künstlicher Intelligenz zur besseren Planung und Steuerung der Kapazitäten.
Im Vorgehen hat die chemische Industrie sehr viel beim Thema Netzwerkarbeit gelernt, die Zusammenarbeit mit kleineren Firmen und Start-ups formt sich – noch keine Selbstverständlichkeit, aber es entwickelt sich sehr positiv, auch dank vieler Initiativen auf Bundes- und Länderebene wie zum Beispiel Digital Hubs, Chemtelligence, etc. In der (agilen) Bearbeitung von Projekten, dem Aufbau von Digital Competences und der ganzheitlichen digitalen Transformation tun sich die Unternehmen noch sehr schwer. Die notwendigen Kompetenzen sowohl aus Sicht der Technik (Data Scientists etc.) als auch des Change Management sind teilweise nicht an Bord der Digitalisierungsprogramme. Aber viele sehen diese Defizite bereits, und zahlreiche der Unternehmen sind schon losgelaufen. Die anderen Unternehmen, die noch überlegen, was aktuell passiert, laufen spätestens mit Erscheinen des Buchs los.