Chemie & Life Sciences

Die Zukunft der europäischen Generika- und Biosimilars-Industrie 2030plus

Studie der Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship (SIBE) im Auftrag von Pro Generika

13.10.2021 - Die von der Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship (SIBE) im Auftrag von Pro Generika durchgeführte Zukunftsstudie liefert spannende Einblicke und plausible Szenarien zur Zukunft der Generika- und Biosimilars-Industrie.

Zukunft ist sprunghaft und disruptiv. Genau deshalb ist es so wichtig, das Thema gezielt und strategisch anzugehen – auch für Unternehmen aus der Generika- und Biosimilars-Industrie. An dieser Stelle setzt die von der Steinbeis School of International Business and Entrepreneurship (SIBE) im Auftrag von Pro Generika durchgeführte Zukunftsstudie an, die spannende Einblicke und plausible Szenarien zur Zukunft der Generika- und Biosimilars-Industrie liefert und die Entwicklung gesellschaftlich relevanter Themen rund um das europäische Gesundheitswesen in den kommenden 20 Jahren beleuchtet. Der Studienleiter, Heiko von der Gracht, Inhaber des Lehrstuhls für Zukunftsforschung an der SIBE, erläutert die wichtigsten Erkenntnisse.

CHEManager: Herr Professor von der Gracht, Sie haben eine Szenario-Studie zur Zukunft der europäischen Generika- und Biosimilars-Industrie veröffentlicht. Droht der Generika- und Biosimilars-Branche ein Paradigmenwechsel?

Heiko von der Gracht: Das wäre zu wünschen – und zwar nicht als Bedrohung verstanden, sondern als Chance. Eine Chance nach dem Motto: „Nicht nur kopieren, sondern auch innovieren.“ Die Branche ist mit den Biosimilars ja bereits in die komplexere Produktion eingestiegen und hat sich hier schon auf den richtigen Weg gemacht. Jetzt stellt sie die Frage: Was kommt danach? Die Studie gibt Antworten, und zwar absolut ergebnisoffen und erkenntnisorientiert. Deshalb hat Pro Generika uns, ein Forscherteam einer neutralen Hochschule mit der Durchführung beauftragt. Das hat gewährleistet, dass die Studie nach objektiven Kriterien der wissenschaftlichen Güte erstellt wurde. 

Welche Antworten gibt die Studie zum Beispiel? 

H. von der Gracht: Nach 50 Jahren Erfolgsgeschichte wird das Geschäftsmodell der Generikahersteller auf der einen Seite mit Disruptionen wie zum Beispiel der personalisierten Medizin mit Losgröße 1 konfrontiert. Da reicht es für einen nachhaltigen Geschäftserfolg nicht mehr aus, in bewährter Weise bewährte Arzneimittel zu kopieren. Da muss selber innoviert werden. Das Geschäftsmodell der Bio­similars-Hersteller auf der anderen Seite begegnet Innovationen wie zum Beispiel dem mobilen Bioreaktor – auch solche Zukunftschancen sollte man nicht Branchenfremden oder Newcomern überlassen.

„Die Politik merkt erst jetzt, wie wichtig Versorgungssicherheit ist.“


Werden beide Geschäftsmodelle Disruptionen dieser Art überleben?

H. von der Gracht: Genau dafür wurde die Studie angestellt. Um die Branche noch besser bei den erforderlichen Veränderungen zu unterstützen. Denn die Einschläge kommen immer näher: Amazon Pharmacy, 4D-Druck oder auch die intelligente Tablette zum Schlucken – um nur einige Beispiele aus der Studie zu nennen. 

Das alles sind Bedrohungen für die Branche?

H. von der Gracht: Oder Weckrufe – je nachdem, wie ernst sie genommen und wie früh sie wahrgenommen werden. Unsere Studie möchte auch dazu animieren, eben weniger in Bedrohungen und mehr in Chancen zu denken. 

Was ergaben die Expertenbefragungen? 

H. von der Gracht: Auch die Zukunft ist nicht mehr das, was sie mal war. Heute ist „Zukunft“ nahezu synonym mit „Disruption“ und „Sprunginnovation“. Bei Disruptionen reden wir zum Beispiel über die personalisierte Medizin, mit der die Produktion von Arzneimitteln spezifisch für jeden Patienten aus dem 3D-Drucker an dezentralen Versorgungsstellen wie Apotheken und Arztpraxen einhergeht. Biosimilars-Hersteller sehen sich mit neuen Chancen wie dem mobilen Bioreaktor konfrontiert, der an jedem denkbaren Ort neue Minifabriken entstehen lässt und künftig in kürzester Zeit – weniger als 24 Stunden – Arzneimittel produzieren kann. Zum Beispiel das amerikanische MIT arbeitet derzeit mit Hochdruck daran.  

Könnte die smarte Hausapotheke auch so eine Zukunftschance sein? 

H. von der Gracht: Absolut. Sie sagt dem Patienten nicht nur frühzeitig, wann er das nächste Rezept anfordern oder eine Internet-Bestellung auslösen sollte. Bei oft mehr als 50 Packungen, Tuben und Fläschchen in vielen Haushalten verliert man schnell den Überblick. Sie sagt ihm auch täglich, wann er welche Arznei einnehmen sollte. Wir wissen doch, dass die verbreitete Non-Compliance die Pharma-Unternehmen im Endeffekt Millionen kostet, wenn Patienten ihre Arznei nicht regelmäßig einnehmen. 
Die Branche sollte bereits heute in die Entwicklung und Verbreitung der smarten Hausapotheke investieren oder zumindest strategische Allianzen mit Start-ups oder Partnern schmieden, die bereits daran arbeiten. Der Markt von morgen wird heute realisiert. Viele Verantwortliche unterschätzen, wie schnell die Zukunft über einen hereinbrechen kann. 

Welche Entwicklung unterschätzt die Branche am meisten? 

H. von der Gracht: Nicht alle Unternehmen unterschätzen das, aber viele unterschätzen zum Beispiel den 3D- und den 4D-Druck. Mit dem 3D-Drucker lassen sich Arzneimittel in der Küche des Patienten ausdrucken. Sozusagen „Tabletten aus dem Drucker“, die sogenannten Printlets. Und der 4D-Drucker heißt so, weil er quasi in der vierten Dimension drucken kann, also mit veränderbarem Gewebe beispielsweise für Organe oder für Implantate, die mit dem Patienten mitwachsen. 

Ist der 4D-Druck nicht heftig umstritten? 

H. von der Gracht: Ja, doch wer eine Zukunftsoption nur deshalb skeptisch bewertet, weil sie lebhaft diskutiert wird, verspielt eine potenzielle Zukunftschance. Wenn 3D- oder 4D-Druck massenmarktreif werden, stellt dies so gut wie jede herkömmliche Art der Produktion auf den Prüfstand. Bislang sagen Skeptiker: „3D-Druck wird niemals massentauglich!“ 1970 sagten das die Leute auch über den Computer für Zuhause, der heute in Milliarden von Haushalten steht.

Hat die Branche auch etwas aus Covid-19 gelernt? 

H. von der Gracht: Eher die Politik als die Branche. Die Politik merkt erst jetzt, wie wichtig Versorgungssicherheit ist. Die Pandemie hat einer breiten Öffentlichkeit gezeigt, wie abhängig wir bei der Grundversorgung mit Arzneimitteln – und genau die wird ja von Generikaherstellern gestellt – von Asien und wie störanfällig die Lieferketten sind. Es wird jetzt darum gehen müssen, wie die Versorgung – etwa durch einen stärkeren Produktionsstandort Europa – wieder nachhaltiger und wie Lieferketten wieder resilienter werden können. Dabei wird es auch auf den Einsatz moderner Methoden des Risk Managements und des Supply Chain Managements wie künstliche Intelligenz bei der Risikovorsorge oder auf adaptive Strategien der Beschaffung wie Multiple Sourcing ankommen. Insourcing, Strategische Allianzen mit Triple-A-Lieferanten, nachhaltige Lieferanten-Audits oder ESG-Konzepte – Environmental, Social, Governance – sichern ebenfalls die Versorgung.

Hat das nur etwas mit Covid-19 zu tun? 

H. von der Gracht: Nein, die Lieferengpässe und Abhängigkeiten von Asien sind Folge des immensen Kostendrucks. Es wäre wichtig, dass die Politik den Warnschuss jetzt hört und bei den Biosimilars nicht zulässt, dass der Kostendruck so massiv wird. 

Welchen Einfluss hat die digitale Revolution? 

H. von der Gracht: Wer die Daten hat, hat den Kunden und die Marktmacht. Waren bislang gute Arzneimittel und gutes Marketing die Stützen des Erfolgs, werden es künftig Daten sein. 

Unterstützen Sie daher Plattform-Initiativen wie gesund.de? 

H. von der Gracht: Ja. Denn bevor ein Internet-Konzern mit seiner Plattform auch noch den Pharmamarkt vereinnahmt – wie viele Märkte vorher – sollte das die Pharmabranche selber tun. Und zwar mit Hochdruck und größtmöglicher Kooperation und Einigkeit. Denn Daten sind der mächtigste Erfolgsfaktor der Gegenwart und Zukunft.

 

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Die Zukunft der europäischen Generika- und Biosimilars-Industrie 2030plus
Ein Blick, mehrere Zukünfte: Die Zukunftsstudie liefert spannende Einblicke und plausible Szenarien zur Zukunft der Generika- und Biosimilarsindustrie. Sie beleuchtet die Entwicklung gesellschaftlich relevanter Themen rund um das europäische Gesundheitswesen in den kommenden 20 Jahren. So zum Beispiel den Einfluss von neuen Technologien, wie dem 3D-Druck, auf die Arzneimittelversorgung oder die Etablierung neuer Therapiemöglichkeiten

Link zum kostenlosen Download:
www.steinbeis-sibe.de/studie-zukunft-generika-biosimilars 

ZUR PERSON
Heiko von der Gracht lehrt und forscht an der School of International Business and Entrepreneurship (SIBE) der Steinbeis-Hochschule und ist dort seit 2018 Inhaber des einzigen Lehrstuhls für Zukunftsforschung in Deutschland. Der gebürtige Rheinländer studierte Wirtschaftsingenieurwesen in Deutschland, den Niederlanden und Großbritannien, bevor er sich in seiner Dissertation an der EBS Universität für Wirtschaft und Recht erstmalig wissenschaftlich mit Zukunftsforschung beschäftigte. 2017 wurde er von der Fakultät für Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Universität Erlangen-Nürnberg habilitiert.

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