Nachhaltiger Wasserstoff
Europäische Klimaschutzziele als Treiber für neue Wasserstoffanwendungen
Verfolgt man die täglichen Nachrichten zum Klimaschutz und der Förderung von Wasserstofftechnologien, kommt es zuweilen zu einem Déjà-vu: Gab es das nicht schon vor 20 Jahren? Was wurde damals umgesetzt? Welche nachhaltigen wasserstoffbasierten Technologien können wir heute erwarten?
Schon in den 1990er Jahren forschte die Deutsche Forschungsanstalt für Luft und Raumfahrt (DLR) – heute das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt – an Wasserstoffprojekten wie der Wasserstoffgewinnung mittels Kopplung von Solarzellen mit Elektrolyseuren in der Wüste.
Bereits auf der Expo 2000 stellte BMW den BMW 750i mit Wasserstoffverbrennungsmotor vor. Und auch DaimlerChrysler forschte in den frühen 2000er Jahren mit Ballard Power an serienreifen Brennstoffzellenantrieben für Landfahrzeuge. 2002 wurden erste Brennstoffzellenbusse von Mercedes-Benz in einigen europäischen Großstädten erprobt. Und vor einigen Jahren erwarb Volkswagen Patente an der Brennstoffzellentechnologie von Ballard Power. Trotz dieser intensiven Entwicklungstätigkeiten konnte sich die Wasserstofftechnologie bei Landfahrzeugen bislang nicht durchsetzen.
Dagegen werden die patentgeschützten U-Boote der Thyssenkrupp Marine Systems schon seit geraumer Zeit mit Wasserstoff angetrieben. Die U-Boote der Klasse 212 A sind seit 2004 für die deutsche Bundesmarine im Einsatz. Der innovative Antrieb bietet erhebliche Vorteile gegenüber Verbrennungsmotoren, denn Brennstoffzellen erzeugen keine Abgase, lediglich Wasser. Zudem ist der Antrieb extrem leise und strahlt kaum Wärme ab – wichtige Eigenschaften für sog. Tarnkappen U-Boote.
Sektorenkopplung und Netzwerke beschleunigen Innovationsprozesse
Heute im Jahr 2021 steht die Zukunft von damals vor der Tür. Seit 2020 wird die Erforschung der Nutzung von Wasserstofftechnologien von der Europäischen Union (EU) über das Projekt IPCEI Hydrogen und national durch den Bund noch intensiver und zudem deutlich integrativer über alle Bereiche der Industrie gefördert. Der besondere Fokus der Förderung wird dabei auf die Sektorenkopplung gelegt, um die Energiewende zu beschleunigen und die Durchdringung in den Markt umzusetzen. Erklärtes Ziel ist die Reduktion der Treibhausemissionen in der EU.
Die Sektorenkopplung energieintensiver Industrie wie Chemie und Stahl soll in diesem holistischen Ansatz die Anwendung von Wasserstofftechnologien in allen Industrie- und Lebensbereichen katalysieren. So kann überschüssiger Strom aus erneuerbaren Energien in Wasserstoff und Sauerstoff umgewandelt werden. Sauerstoff kann in kommunalen Klärwerken eingesetzt werden, während der Wasserstoff zur Energiegewinnung dient.
Das Konsortium Namosyn, dem Universitäten, Fraunhofer-Institute, Industrieunternehmen und die Dechema angehören, erforscht die gesamte Wertschöpfungskette der Herstellung und Nutzung synthetischer Kraftstoffe aus Wasserstoff von der Synthese, dem Anlagen- und Motorenbau bis zum Automobil.
In der Chemieindustrie wird sowohl die Umwandlung von Wasserstoff und CO2in Methan als auch von Wasserstoff in Basischemikalien wie Dimethylether in großtechnischen oder auch durch mikrobielle Verfahren erforscht. In weiteren Projekten wird die Umwandlung von Hüttengasen und Wasserstoff in Monomere für Kunststoffe, Dünger und weitere Wertstoffe untersucht.
„Wir erwarten ein Innovationsjahrzehnt für Wasserstofftechnologien in allen Industrie- und Lebensbereichen in Europa.“
Tanja Bendele, Ruhr-IP Patentanwälte
Sobald grüner Wasserstoff günstig in großen Mengen verfügbar und das Wasserstofftankstellennetz ausreichend ausgebaut sein wird, ist auf eine signifikante Zunahme an Brennstoffzellenfahrzeugen zu hoffen. In der H2 Mobility haben sich die Unternehmen Air Liquide, Daimler, Linde, OMV, Shell und Total zusammengeschlossen und europaweit bereits über 120 Wasserstofftankstellen in Betrieb genommen. Beraten und begleitet wird die Gesellschaft von den assoziierten Partnern BMW, Honda, Hyundai, Toyota und Volkswagen sowie der Gesellschaft NOW, deren Gründungsauftrag das Nationale Innovationsprogramm Wasserstoff- und Brennstoffzellentechnologie ist.
Die benötigte Infrastruktur für die Verteilung des Wasserstoffs fängt an zu entstehen. Erst kürzlich wurde eine Absichtserklärung von Nikola und Iveco mit dem Fernleitungsnetzbetreiber OGE (Open Grid Europe) für den Transport von Wasserstoff zu Wasserstofftankstellen bekannt. Und der Energiedienstleister und Infrastrukturanbieter Westenergie testet, ob vorhandene Erdgasverteilnetze genutzt werden können, um Wasserstoff zu den Endkunden zu transportieren. In der Gemeinde Holzwickede bei Dortmund stellt das Unternehmen deutschlandweit zum ersten Mal eine bestehende Erdgasleitung der öffentlichen Gasversorgung auf reinen Wasserstoff um. „Verläuft der Test erfolgreich, könnte Deutschland seinen großen Vorteil für das Energiesystem der Zukunft nutzen: Wir könnten unser gut ausgebautes Erdgasnetz mit mehr als 550.000 km Länge für Wasserstoff einsetzen. Dies wäre ökologisch wie ökonomisch sinnvoll“, sagt Katherina Reiche, Vorstandsvorsitzende bei Westenergie und Vorsitzende des Nationalen Wasserstoffrats.
Patente Wasserstofftechnologien
Würden die Innovationsanstrengungen der Unternehmen über die Anzahl ihrer Patentanmeldungen im Bereich der Wasserstofftechnologien korreliert, schnitten die verschiedenen Sektoren der Industrie sehr unterschiedlich ab.
So zeigt sich die Innovationskraft der chemischen Industrie oder beispielhaft des Ölkonzerns Shell anhand der Anzahl der Patentanmeldungen mit Bezug zu Wasserstofftechnologien, bereits seit Anfang der 2000er Jahre. Shell forscht sehr intensiv in allen Bereichen der Wasserstoffnutzung und schützt umfänglich sein Entwicklungsergebnisse über Patente. Auch beim Technologiekonzern Siemens Energy werden Wasserstofftechnologien als Schlüsseltechnologien zur Sektorenkopplung der Energiewirtschaft und Chemieindustrie verstanden und intensiv entwickelt. Dies zeigt die enorme Anzahl an Patentanmeldungen in den letzten Jahrzehnten.
Aktuell entwickeln europaweit Stahlhersteller Anlagen und Verfahren zur Direktreduktion von Eisenerz mit Wasserstoff zur Roheisenherstellung. In der Anzahl der noch anhängigen Patentanmeldungen spiegelt sich diese Entwicklungstätigkeit aktuell noch nicht wider. Allerdings werden Patentanmeldungen auch erst 18 Monate nach dem Anmeldetag offengelegt.
Unter der Marke Carbon2Chem entwickelt Thyssenkrupp ein Verfahren zur chemischen Umwandlung von Hüttengasen aus der Stahlherstellung unter zusätzlicher Nutzung von Wasserstoff zur Herstellung von Basischemikalien. „Wasserstofftechnologien sind für uns in der Industrie der Schlüssel zur Klimaneutralität. In der Stahlherstellung kann Wasserstoff Kohlenstoff als Reduktionsmittel ersetzen und so CO2-Emissionen vermeiden. Zudem können wir CO2-Emissionen aber auch als Rohstoff nutzen: jene, die in der Stahlherstellung nicht direkt vermeidbar sind, aber auch in anderen Sektoren wie der Zement- oder Kalkindustrie und in Müllverbrennungsanlagen. Wir verarbeiten diese zu Basischemikalien weiter und ersetzen so fossile Rohstoffe in der Chemieindustrie. Carbon2Chem leistet damit einen wichtigen Beitrag zu Kreislaufwirtschaft und Sektorenkopplung“, erklärt Markus Oles, einer der drei verantwortlichen Gesamtkoordinatoren bei Carbon2Chem zur Bedeutung der Wasserstofftechnologie für Thyssenkrupp Steel Europe. „Um die großen Bedarfe zu decken, arbeiten wir schon heute mit verschiedenen Partnern an Projekten zum Aufbau der Wasserstoffversorgung“, ergänzt Oles.
So wird z. B. in Lingen ein Baustein der Wasserstoffherstellung für eine grüne Stahlherstellung im Rahmen der Wasserstoffinitiative GET H2 aufgebaut. Ziel der GET H2 Partner BP, Evonik, Nowega, OGE und RWE Generation ist es, die erste öffentlich zugängliche Wasserstoffinfrastruktur aufzubauen. Die aus dieser Infrastrukturinitiative resultierenden Patentanmeldungen werden die innovative und erfolgreiche Zusammenarbeit der europäischen Industrie in der Sektorenkopplung auch beim Thema Innovationsschutz aufzeigen.
Deutlich geringer fällt die Anzahl an Patentanmeldungen im Wasserstoffbereich bei originären Stromkonzernen aus. Und auch bei den deutschen Automobilherstellern kann an der Gewichtung der Patentanmeldungen zu „Brennstoffzellen“ und „Wasserstoff“ die interne Gewichtung der Technologie abgelesen werden. Gänzlich innovativer positionieren sich die asiatischen Autohersteller Toyota und Hyundai oder auch chinesische Autokonzerne mit ihren über diverse Patentfamilien geschützten Wasserstoff angetriebenen Fahrzeugen.
Das Europäische Patentamt (EPA) publiziert seit einigen Jahren sektorenübergreifend zu Firmen und Erfindern patentierter nachhaltiger Technologien, u. a. im grünen Transportwesen, Energieerzeugung und Energiespeicherung.
Die aktuellen sektorenübergreifende Förderungen von Wasserstofftechnologien der EU und der Bundesregierung, die auch die CO2-Umwandlung – Defossilierung – wie die Herstellung von Monomeren für die Kunststoffindustrie und synthetischen Kraftstoffen neben der Nutzung von Wasserstoff in der Mobilität umfassen, hat die Innovationskraft in Europa nochmal katalysiert. Kürzlich haben europäische Gerichte den Umsetzungsdruck auf die Beteiligten weiter erhöht.
Die Summe all dieser Anstrengungen und Innovationen lässt mit Spannung ein Innovationsjahrzehnt für Wasserstofftechnologien und generell grünen Technologien in allen Industrie- und Lebensbereichen in Europa erwarten.