Chemieanlagenbau vor weiterer Marktkonsolidierung
Auftragseingänge für Anlagen zur Chemikalienherstellung sanken 2020 um 36 % auf 2,0 Mrd. EUR
Die von den Mitgliedern der VDMA Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau (AGAB) verbuchten Auftragseingänge für 2020 lagen mit 11,9 Mrd. EUR um 35 % unter dem Vorjahresniveau (2019: 18,3 Mrd. EUR). Während der Auftragsrückgang im gesamten Großanlagenbau im Inland innerhalb der üblichen Schwankungsbreite blieb, gab es im Export Einbußen von über 40 %. Die pandemiebedingten Verschiebungen von Investitionen betrafen in erster Linie das Neuanlagengeschäft und konnten durch die Nachfrage nach Modernisierungen und Services nicht ausgeglichen werden.
Kein rascher Aufschwung im Chemieanlagenbau
Auch im Chemieanlagenbau wurden im Jahr 2020 zahlreiche Investitionsvorhaben gestoppt, verschoben oder storniert. So brachen die Auftragseingänge für Anlagen zur Herstellung von organischen und anorganischen Chemikalien und von Gasen sowie für Luftzerlegungsanlagen um 36 % ein; das ist der stärkste Rückgang seit der Finanzkrise 2009. Damals lag das Minus bei 42 %. Angesichts dieser Entwicklung geht eine Mehrheit der Führungskräfte im VDMA-Chemieanlagenbau mittelfristig von einer Marktkonsolidierung und einem weiteren Stellenabbau aus.
Entwicklung auf den Exportmärkten
Aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen ist nicht mit einem raschen globalen Wirtschaftsaufschwung zu rechnen. Zwar gibt es erste Anzeichen für eine konjunkturelle Erholung – etwa im Zuge der jüngsten Rally an den Rohstoffmärkten oder angesichts der umfangreichen Konjunkturprogramme in Indien, Russland oder den USA. Eine umfassende Belebung der Investitionstätigkeit in der chemischen Industrie erscheint aber erst im zweiten Halbjahr 2021 realistisch.
Westeuropa: Pandemie, Handelskonflikte und Brexit
Die durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten Unsicherheiten, der inzwischen vollzogene Brexit sowie die im internationalen Vergleich hohen Kosten für Energie und Rohstoffe führten 2020 zu einem deutlichen Rückgang der Investitionen der chemischen Industrie in Westeuropa. Dies gilt insbesondere für die Hersteller von anorganischen Chemikalien und petrochemischen Produkten.
Nach wie vor werden in Europa nur wenige World-Scale-Anlagen errichtet. Das Marktgeschehen wird vielmehr von kleinen und mittleren Projekten zur Modernisierung und Erweiterung bestehender Anlagen an den Verbundstandorten großer Chemiekonzerne bestimmt. Die Unternehmen wollen mit diesen Maßnahmen die lokale Nachfrage nach Chemikalien bedienen und gleichzeitig auch die globale Wettbewerbsfähigkeit ihrer Industrie stärken, indem sie Skaleneffekte nutzen.
Russland bleibt ein Kernmarkt
Die für Russland existenzielle Rohstoffnachfrage aus dem Ausland ist 2020 stark eingebrochen und auch im laufenden Jahr ist mit staatlichen Einnahmeausfällen aufgrund rückläufiger Öl- und Gasexporte zu rechnen. Die dadurch ausgelöste Abwertung des Rubels hat westliche Technologieimporte deutlich verteuert.
Die chemische Industrie ist eine der wichtigsten russischen Industriezweige und soll in den kommenden Jahren grundlegend modernisiert werden. Trotz der schwierigen Rahmenbedingungen herrscht Zuversicht, dass die geplanten Investitionsvorhaben (u.a. in den Bereichen Petrochemie, Kunststoffe und Düngemittel) im Umfang von etwa 50 Mrd. EUR umgesetzt werden können. Für den Chemieanlagenbau ergeben sich dadurch Möglichkeiten, an die Markterfolge der vergangenen Jahre anzuknüpfen. 2020 war Russland zum wiederholten Male der wichtigste Markt für den VDMA-Chemieanlagenbau. Die Auftragseingänge lagen mit 1,3 Mrd. EUR deutlich über dem Niveau des Vorjahrs (644 Mio. EUR), wobei mehr als 80 % dieses Volumens auf Großprojekte zurückzuführen war.
China: Wachstum trotz Pandemie
Die chinesische Chemieindustrie, die für einen Anteil von knapp 40 % am globalen Produktionsvolumen steht, blieb 2020 trotz der Covid-19-Pandemie auf Wachstumskurs, wobei sich die Dynamik der vergangenen Jahre leicht abschwächte. Die konsequente Einhaltung strenger Umweltgesetze ist mittlerweile fester Bestandteil vieler Auftragsvergaben an den Großanlagenbau in China. Hieraus könnten sich Chancen ergeben. Allerdings ist der Marktzugang in China für ausländische Unternehmen ohne lokale Partner nach wie vor schwierig. Die Auftragseingänge für den VDMA-Chemieanlagenbau stagnieren daher schon seit Jahren auf niedrigem Niveau. 2020 summierten sich die Bestellungen auf 40 Mio. EUR, das sind 70 % weniger als im Vorjahr.
Öl- und Gasförderung in den USA bleibt auf Rekordniveau
Schiefergas und Schieferöl sind die wichtigsten Primärenergieträger für die chemische Industrie und den Energiesektor in den USA. Der Großanlagenbau profitiert über die gesamte Wertschöpfungskette – von der Gasförderung und -verteilung bis hin zur Gasverarbeitung in petrochemischen Großanlagen – von den anhaltend niedrigen Erdgaspreisen und der hohen Verfügbarkeit dieses Rohstoffs in den Vereinigten Staaten. Dabei setzt sich bei vielen Neubauprojekten der Trend fort, Rohöl durch Erdgas zu substituieren und Endprodukte auch für den Export bereitzustellen. Eine weitere Folge der Schiefergasförderung ist die Koppelproduktion von Gaskondensaten (Natural Gas Liquids, NGL), wodurch der Bau weiterer Anlagen, etwa zur Herstellung von Kunststoff, wirtschaftlich attraktiv wird.
Die neue US-Administration hat deutlich gemacht, dass sie den Themen Umwelt- und Klimaschutz mehr Bedeutung beimisst als die Vorgängerregierung. Für den Chemieanagenbau könnten sich durch die politische Neujustierung Chancen im US-Markt für nachhaltige Technologien ergeben, so z.B. beim Bau von Anlagen für die Herstellung von grünem Wasserstoff oder auch im Bereich der nachhaltigen Chemie.
Für die Chemieanlagenbauer bleiben die USA somit ein wichtiger Markt für die Errichtung von Anlagen für die Öl- und Gasverarbeitung sowie für die chemische Industrie. Die Auftragseingänge, die 2020 auf 67 Mio. EUR (2019: 110 Mio. EUR) zurückgingen, könnten im Zuge der sich aufhellenden konjunkturellen und wirtschaftspolitischen Perspektiven mittelfristig wieder steigen.
Nachhaltige Industrialisierung im Mittleren Osten
Viele Länder des Mittleren Ostens forcieren die Diversifizierung ihrer Volkswirtschaften, um sich aus der Abhängigkeit von Rohstoffexporten zu lösen. Sie entwickeln dafür Strategien zur Stärkung der lokalen Wertschöpfung und zur Schaffung neuer Arbeitsplätze. Bislang legten die Länder ihre Investitionsschwerpunkte häufig auf die petrochemische Industrie und die Düngemittelherstellung. Sie nutzen hierfür ihren Rohstoffreichtum und profitieren von einer günstigen Kostensituation.
In jüngster Vergangenheit rückten die Möglichkeiten, die die Herstellung und der Export von grünem Wasserstoff auf Basis der Wasserelektrolyse sowie die Umrüstung lokaler Wertschöpfungsketten auf klimaneutrale Produktionsweisen bieten, verstärkt in das Blickfeld der Regierungen. Schließlich verfügt die Region aufgrund ihres Sonnen- und Windreichtums über hervorragende Voraussetzungen für den Aufbau einer nachhaltigen Wasserstoffwirtschaft. Ergänzt werden könnte dieses Modell durch die Bereitstellung von blauem Wasserstoff, bei dem das während der Produktion entstandene CO2 abgetrennt und weiterverwendet (CCU) oder gelagert (CCS) wird.
Vorgaben zur Stärkung der lokalen Wertschöpfung sowie zur Ausbildung inländischer Fachkräfte werden im Mittleren Osten immer häufiger Teil der Ausschreibungen. Der VDMA-Chemieanlagenbau stellt sich auf diese Forderungen ein und versucht, daraus Wettbewerbsvorteile abzuleiten. Dies kann etwa durch die Schulung von Personal für den Anlagenbetrieb oder durch besondere Leistungen im Umwelt- und Klimaschutz gelingen. Der Aufbau lokaler Fertigungsstätten stellt ebenfalls ein positives Alleinstellungsmerkmal dar.
Pandemie als Katalysator für Megatrends
Ungeachtet der Wirtschafts- und Gesundheitskrise haben die Megatrends Digitalisierung und Dekarbonisierung im vergangenen Jahr nichts von ihrer Relevanz verloren. Teilweise wirkte die Pandemie sogar als Katalysator, der Entwicklungen beschleunigte und neue Trends schuf. So hat etwa die virtuelle Kommunikation erheblich an Bedeutung gewonnen und den Berufsalltag von Fach- und Führungskräften im Chemieanlagenbau grundlegend verändert. Eine aktuelle VDMA-Umfrage bestätigt dies: Demnach wird mobiles Arbeiten zukünftig zum Standard.
Das Thema Wasserstoff ist derzeit in aller Munde und wird durch internationale Initiativen wie etwa den EU Green Deal oder nationale Aktionspläne forciert. In Deutschland gibt die im Juni 2020 beschlossene Nationale Wasserstoffstrategie das Ziel vor, bis zum Jahr 2030 fünf Gigawatt Elektrolysekapazitäten im Inland aufzubauen und Deutschland damit zum Vorreiter und Ausrüster einer globalen Energiewende zu machen. Rund 30 andere Länder haben ähnlich ambitionierte Ziele wie Deutschland formuliert und die steigende Frequenz, mit der Anlagenbauprojekte mit Wasserstoffbezug angekündigt werden, verdeutlicht, dass Wasserstoff zu einem Schlüsselrohstoff des 21. Jahrhunderts werden könnte.
Dem Chemieanlagenbau eröffnen sich dadurch enorme Marktchancen. Schließlich ist die Branche ein wesentlicher Know-how-Träger und Anbieter von Kerntechnologien wie etwa der Wasserelektrolyse, auf Basis derer grüner Wasserstoff in relevanten Mengen hergestellt werden kann. Um den Anforderungen eines in den kommenden Jahren voraussichtlich stark wachsenden Marktes gerecht zu werden, optimieren die Unternehmen die Effizienz der Herstellungsverfahren und arbeiten an einer entsprechenden Skalierbarkeit, um Wasserstoff im industriellen Maßstab in Großanlagen produzieren zu können.
Bei der effektiven Reduzierung von Klimagasemissionen könnten auch Grundchemikalien wie etwa Methanol oder Ammoniak eine wichtige Rolle spielen. Methanol kommt bereits als CO2-reduzierter Kraftstoffzuschlag oder Kraftstoffersatz zum Einsatz. Ammoniak, das sich durch Wasserelektrolyse mit Wind und Solarstrom klimaneutral gewinnen lässt (grüner Ammoniak), wird ebenfalls für neue Anwendungen – etwa als kohlenstofffreier Brennstoff in Verbrennungsmotoren oder in Brennstoffzellen sowie bei der Düngemittelherstellung – in Betracht gezogen. In Saudi-Arabien plant ein saudisch-amerikanisches Konsortium derzeit den Bau einer Großanlage, die ab 2025 klimaneutrales Ammoniak in nennenswerten Mengen zur Verfügung stellen soll. Die Vorteile dieses Zwischenschritts – verglichen mit der direkten Wasserstoffherstellung – sind vielfältig: Ammoniak lässt sich sehr viel effizienter und kostengünstiger speichern als Wasserstoff, zudem benötigt man für seinen Transport weniger Raum als für Wasserstoff, da die Energiedichte bezogen auf das Volumen höher ist. Ammoniak eignet sich insofern sehr gut für den Transport über sehr lange Strecken. Ein nachhaltiges Modell zum Schutz des globalen Klimas könnte somit folgendermaßen aussehen: Grüner Ammoniak wird in sonnen- und windreichen Regionen, z.B. in Afrika oder im Mittleren Osten, wirtschaftlich produziert und anschließend in Länder mit hohem Energiebedarf, etwa in Europa, exportiert.
Für den VDMA-Chemieanlagenbau geht es vor allem darum, sich durch Lösungen in den Feldern Prozesstechnik, Digitalisierung, Nachhaltigkeit und Service Wettbewerbsvorteile zu erarbeiten. Die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Großanlagenbau befinden sich aufgrund ihrer Kundenorientierung und Innovationskraft in einer guten Position, die Erwartungen des Marktes zu erfüllen.
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