Arzneimittelforschung: Bei klinischen Studien hat Europa das Nachsehen
19.06.2017 -
Wenn es um klinische Studien geht, zeigt Europa Anzeichen der Grippe: Der Kontinent hat als Standort von Arzneimitteltests in den vergangenen Jahren an Bedeutung verloren. Immer öfter finden zulassungsrelevante Studien auch in Schwellen- und Entwicklungsländern statt. Dort sind sie nicht nur vielfach billiger, es finden sich oft auch leichter Patienten. Nun steuern einige europäischen Staaten gegen diesen Trend.
Europa hustet und schnupft vor sich hin – so zumindest lässt sich die Lage beschreiben, wenn es um klinische Studien geht. Zwar zählt der Kontinent unverändert zu den großen Arzneimittelmärkten der Welt. Bei der Zahl der klinischen Studien, die Pharmaunternehmen hier durchführen, verliert die Region im internationalen Vergleich immer mehr Punkte. Das stellt bspw. Peter Richter, Leiter Kommunikation des österreichischen Pharmaverbandes Pharmig, fest: „Der Rückgang ist in ganz Europa zu beobachten – zum Nutzen anderer Regionen wie Rest of World, etwa Indien, nicht aber unbedingt USA.“ Ähnliches beobachtet die Schweizer Organisation PublicEye.ch. Sie berichtet, dass zwischen 1991 und 2005 der Anteil der in Schwellenländern durchgeführten klinischen Versuche von 10 % auf 40 % gestiegen sei und auch von 2006 bis 2010 weiter zugenommen habe. Dagegen sei der Anteil der in Westeuropa und in den USA durchgeführten Tests von 55 % auf 38 % zurückgegangen.
Pharmaverband EFPIA: Schwaches Niveau
Bei genauerem Hinsehen stellt sich die Lage für ganz Europa allerdings ambivalent dar. Nach Angaben des europäischen Pharmaverbandes EFPIA werden jährlich weltweit rund 9.000 klinische Tests durchgeführt, davon immerhin rund 4.000 in Europa. Deutschland nimmt dabei nach Angaben des Verbandes der forschenden Arzneimittelhersteller VFA mit 655 klinischen Studien im Jahr 2015 hinter den USA Platz 2 ein. Seit einem deutlichen Rückgang im Jahr 2012 verbucht Deutschland weitgehend stagnierende Zahlen.
Andererseits räumt die EFPIA ein, dass die Zahl klinischer Versuche in Europa auf einem schwachen Niveau liege - trotz gut gefüllter Entwicklungspipelines der Unternehmen. In den vergangenen Jahren sei die Zahl der Arzneimitteltests sogar leicht zurückgegangen. Beispiel Österreich: „Die Anzahl der klinischen Prüfungen ist in den letzten Jahren leider rückläufig“, stellt Christa Wirthumer-Hoche, Geschäftsfeldleiterin der österreichischen Medizinmarktaufsicht AGES, fest. Statistische Daten des Bundesamtes für Sicherheit im Gesundheitswesen (BASG) zeigen, dass dieser Prozess insbesondere seit 2008 anhält.
Laut EFPIA ist die europaweite Entwicklung auch vor dem Hintergrund zu sehen, dass durch eine zunehmende Internationalisierung die Zahl klinischer Studien insgesamt gestiegen ist. Dies sei einerseits zwar auch Europa zugutegekommen, da immer mehr EU-Länder in solche Studien eingebunden worden seien. Andererseits habe die Zunahme von Studien auf internationaler Ebene den generellen Rückgang in Europa nicht aufhalten können, so die EFPIA.
Weltweite Vermarktung – weltweite Studien
Es ist nicht ungewöhnlich, dass Studien international ausgerichtet werden. Da Arzneimittel meist weltweit vermarktet werden, fordern Fachleute, dass auch die klinischen Tests die Geschlechter- und Ethnienvielfalt abbilden. Das scheint aber – trotz Internationalisierung - noch nicht immer der Fall zu sein. In einem Beitrag des Fachmediums PLOS Medicine Ende 2015 warnten die Autoren davor, in Arzneimitteltests die rassenmäßigen und ethnischen Unterschiede der Bevölkerung zu ignorieren. „Damit wird eine wissenschaftliche Chance vertan, die helfen würde, die Ursachen für Krankheit und Gesundheit zu verstehen.“ Das Fachmedium Eye for Pharma weist seinerseits darauf hin, dass in den USA schwarze Amerikaner 13,2 % der Bevölkerung und Hispanics 16 % ausmachten, diese Gruppen aber nur zu 5 % bzw. 1 % in klinischen Tests vertreten seien. Ähnlich unterrepräsentiert sind offenbar auch Frauen. Insgesamt, so Eye for Pharma, sei es eine Tatsache, dass Minderheiten, Frauen, arme Menschen und ältere Personen in klinischen Studien unterrepräsentiert sind. Offenbar haben diese Fakten auch die US-Zulassungsbehörde FDA hellhörig gemacht – das Jahr 2016 hatte sie zum „Jahr der Diversität in klinischen Studien“ ernannt.
Geringere Kosten in Schwellenländern
Darüber hinaus spielen laut PublicEye.ch vielfach auch strategische und finanzielle Überlegungen der Pharmaunternehmen eine Rolle, dass klinische Studien zunehmend außerhalb Europas oder der USA durchgeführt werden. So würden viele Unternehmen ihre klinischen Versuche vermehrt in Entwicklungs- und Schwellenländer verlagern, um Zugang zu neuen Märkten zu bekommen und die Kosten niedrig zu halten. Spiegel Online berichtete bereits 2012, dass die Hersteller schätzungsweise 30 bis 50 % der Ausgaben sparen könnten, wenn sie neue Wirkstoffe in Indien statt in der EU testen.
Tatsächlich entfallen nach Angaben des europäischen Pharmaverbandes EFPIA fast 59 % der Entwicklungskosten neuer Arzneimittel auf klinische Tests. Jährlich gebe die Branche 80 bis 90 Mrd. USD für klinische Versuche aus, das entspreche etwa 60 bis 70 % ihrer Forschungs- und Entwicklungsbudgets. Die biopharmazeutische Industrie investiere damit einen größeren Umsatzanteil in neue Erkenntnisse, resultierend aus Forschung und Entwicklung, als jede andere Industrie.
Auf der Suche nach Patienten
Teilweise ist die Verlagerung von Studien in andere Regionen aber auch aus einer Not geboren. So haben die Betreiber in den etablierten Märkten Europas und den USA zunehmend Schwierigkeiten, die angestrebten Patientenzahlen zu erreichen. Jeanne Hecht, im Vorstand des Medizin-Softwarekonzerns Median zuständig für das operative Geschäft, berichtet, dass vier von fünf klinischen Tests nicht die angepeilte Zahl von Patienten erreichen. Oft spielen dabei banale Gründe eine Rolle. Laut Hecht hätten viele Ärzte vielfach nicht die Zeit, Patienten über klinische Tests zu informieren und sie dafür zu gewinnen. Eine weitere Barriere könnte die Flut an Informationen sein, mit denen die Ärzte durch die Sponsoren der Studien konfrontiert werden.
Mit der Verlagerung in Schwellen- und Entwicklungsländer stellen sich für die Studienbetreiber allerdings auch neue Herausforderungen. So weist PublicEye.ch darauf hin, dass eine Verlagerung klinischer Versuche in Regionen, in denen der Zugang zur Gesundheitsversorgung nicht gewährleistet und die Regulierung weniger streng ist, zu ernsthaften Verletzungen ethischer Standards führen kann. Ohnehin sei der Bereich der klinischen Versuche sehr intransparent: Die Hälfte der klinischen Versuche werde nie publik gemacht; negative Ergebnisse würden oft verfälscht oder beschönigt. Mittlerweile reagieren allerdings immer mehr Pharmaunternehmen auf derartige Kritik. GlaxoSmithKline und andere Konzerne zeigen sich heute beim Umgang mit klinischen Studien deutlich transparenter als noch vor Jahren.
Studienprozesse beschleunigen
Um die Attraktivität von Europa für klinische Studien wieder zu steigern, haben Entscheider und Institutionen in Europa mittlerweile unterschiedlichste Vorschläge ausgearbeitet. So plädiert die EFPIA dafür, dass die Zulassungsbehörden den Einreichungs- und Bewertungsprozess beschleunigen. Und Christa Wirthumer-Hoche von der österreichischen AGES hat vor einiger Zeit ein Pilotprojekt vorgestellt: „Damit … stellen wir uns auf die neuen Herausforderungen durch die EU-Verordnung ein und wollen zeigen, dass Österreich ein attraktiver Forschungsstandort ist. Denn: Investitionen in die klinische Forschung sind direkte Investitionen für die Patienten.“ Als Studienteilnehmer könnten diese bspw. durch einen frühen Zugang zu innovativen Therapien von einer bestmöglichen medizinischen Betreuung profitieren.
Auch jenseits des Atlantiks trommelt die FDA für klinische Studien in ihrem Einzugsbereich. Die Behörde möchte durch eine bessere Informationspolitik vor allem verstärkt unterrepräsentierte Gruppen für die Pharmatests gewinnen.
Einen speziellen Lösungsansatz bringt Median Technologies-Managerin Hecht ins Gespräch: Ärzte könnten Patienten die Teilnahme an klinischen Studien als eine von mehreren Therapieansätzen anbieten – wohl wissend, dass es sich hierbei nicht um ausgereifte und zugelassene Arzneimittel handelt.
Tatsächlich gibt es Hoffnung, dass Europa seine Grippe wieder in den Griff bekommt. Darauf deutet laut EFPIA bspw. hin, dass die Zahl der Studienzentren in Europa steigt. Dies lässt nach Einschätzung des Verbandes darauf schließen, dass die Pharmaunternehmen nicht wirklich vorhätten, ihre Studienaktivitäten in dieser Region weiter zu reduzieren.
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