Digitalisierung kompletter Wertschöpfungsketten
Flexibilisierung der Produktion durch modularisierte Anlagen
Der ZVEI setzt sich für die gemeinsamen Interessen der Elektroindustrie in Deutschland und auf internationaler Ebene ein. Mit Vorschlägen zur Forschungs-, Technologie-, Umweltschutz-, Bildungs- und Wissenschaftspolitik sieht sich der ZVEI als Schrittmacher des technischen Fortschritts. Er unterstützt eine marktbezogene internationale Normungs- und Standardisierungsarbeit. Im Vorfeld der Achema befragte CHEManager Michael Ziesemer, Präsident des ZVEI und COO und stellvertretender Vorstandsvorsitzender der Endress+Hauser Gruppe, zu aktuellen Themen der Elektroindustrie. Die Fragen stellt Dr. Volker Oestreich.
CHEManager: Wie ist die wirtschaftliche Ausgangslage für Ihre Branche in diesem Jahr und wie schätzen Sie die weitere Entwicklung ein?
Michael Ziesemer: Im Gesamtjahr 2014 sind die Erlöse der deutschen Elektroindustrie um 2,9 Prozent auf 172 Milliarden Euro gestiegen. Trotz starker monatlicher Schwankungen lag die Entwicklung unter dem Strich im Rahmen der Erwartungen. Im Laufe des Jahres sind die globalen Rahmenbedingungen ungünstiger gewordenen. Deshalb erwarten wir für 2015 ein etwas schwächeres Wachstum. Aber wir sind zuversichtlich, dass die preisbereinigte Elektroproduktion um anderthalb Prozent steigen wird. Der Branchenumsatz sollte dementsprechend gut 174 Milliarden Euro betragen.
Das geplante Freihandelsabkommen mit den USA, TTIP, wird kontrovers diskutiert. Welche Stellung vertritt der ZVEI dazu und wo sehen Sie besondere Chancen und besondere Risiken?
M. Ziesemer: Freihandelsabkommen haben generell stimulierende Wirkungen auf den Warenaustausch, das hat eine Studie, die wir im vergangenen Jahr gemeinsam mit der Helaba erarbeitet haben, schlüssig belegt. In den Jahren nach Inkrafttreten eines Abkommens haben sich die Branchenexporte in das entsprechende Zielland regelmäßig dynamischer entwickelt als davor. Sie sind auch deutlich stärker gewachsen als der Durchschnitt aller Außenhandelsbeziehungen. Entsprechende Chancen erwarten wir auch von TTIP. Der ZVEI setzt sich deshalb für intensive – aber auch ergebnisoffene – Verhandlung mit den USA ein.
Wir erhoffen, neben der Abschaffung oder zumindest der Senkung bestehender Zölle, besseren Marktzugang auf beiden Seiten – insbesondere im öffentlichen Beschaffungswesen, bei Dienstleistungen und Investitionen.
Für unsere Branche relevant ist insbesondere der Abbau nicht-tarifärer Handelshemmnisse. Eine vom Europäischen Parlament in Auftrag gegebene Studie bestätigt: Dieser Abbau fördert die verarbeitende Industrie – die Engineering Industry – in ganz Europa. Bisher behindern vor allem die Unterschiede bei technischen Vorschriften, Standards und Zertifizierungsregelungen den Handel.
Das Thema Energiewende ist derzeit in aller Munde. Welchen Beitrag können der ZVEI und seine Mitglieder dazu leisten und wo sehen Sie den größten Handlungsbedarf?
M. Ziesemer: Der Beitrag der Elektroindustrie liegt in vielen Bereichen vor allem in der Energieeffizienz. Wir betonten von Anfang an, dass sie – gleichberechtigt neben der Energieerzeugung und den Netzen – tragende Säule der Energiewende sein muss.
Energieeffizienz ist überall möglich: Sei es mit moderner öffentlicher Beleuchtung, wo wir das jährliche Einsparpotenzial auf bis zu 400 Millionen Euro schätzen. Sei es mit der Gebäudeautomatisierung, wo man – einer gemeinsamen Studie mit der Hochschule Biberach zufolge – an die 50 Prozent der Energie einsparen kann.
Das größte Einsparpotenzial bietet allerdings die Industrie: Nach ZVEI-Berechnungen können in den Maschinen und Anlagen am Standort Deutschland bereits heute weitere 10 bis 25 Prozent Energie allein durch Automation eingespart werden. Somit ließen sich innerhalb eines Jahres sieben Milliarden Euro Energiekosten einsparen. Das entspricht umgerechnet 43 Millionen Tonnen an CO2-Äquivalenten.
Der ZVEI arbeitet auch mit an einer gemeinsamen Initiative der Bundesregierung mit Wirtschaftsverbänden zum Aufbau von Energieeffizienz-Netzwerken als Teil des Nationalen Aktionsplans Energieeffizienz (NAPE). Die Bundesregierung schätzt, dass mit den 500 neuen Netzwerken bis zu 75 Petajoule Primärenergie und fünf Millionen Tonnen CO2-Emissionen bis zum Jahr 2020 eingespart werden können.
Was die Hebung von Effizienzpotenzialen betrifft, sind übrigens die Unternehmen der Elektroindustrie heute schon Vorreiter. Über 97 Prozent der Unternehmen haben bereits in Energieeffizienz investiert. 98 Prozent planen weitere Investitionen.
Wo sind die Herausforderungen, Hürden und Hindernisse, um bei den Themen Digitalisierung, Internet of Things und Industrie 4.0 entscheidende Fortschritte zu machen?
M. Ziesemer: Industrie 4.0 ist mehr als nur die Vernetzung von Produktion. Es geht um die Digitalisierung kompletter Wertschöpfungsketten. Die Elektroindustrie, vor allem die Automatisierungsindustrie, ist bei Industrie 4.0 in einer Schlüsselposition. Sie liefert das Betriebssystem für die Smart Factory, das Maschinen und Anlagen mit der Software der IKT-Brancheverbindet und so intelligente Lösungen erst möglich macht.
Wir erleben gerade den Aufbruch in die Praxis von Industrie 4.0. Dafür brauchen wir Standards und Referenzarchitekturen, auf denen die Unternehmen dann ihre eigenen praktischen Lösungen aufbauen. Im ZVEI konnte nun – gemeinsam mit den Experten der Automatisierungsbranche VDI/VDE-GMA und DKE – ein Modell einer Referenzarchitektur für Industrie 4.0 (RAMI 4.0) und die Definition der Industrie 4.0-Komponente ausgearbeitet werden. Die Praxistauglichkeit dieser theoretischen Vorarbeit testen wir an Fallbeispielen aus verschiedenen Anwenderindustrien. Dabei arbeiten wir mit Partnern aus der Automotive-Branche, dem Maschinenbau und der Prozessindustrie und dem Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung zusammen.
Jetzt brauchen wir als nächstes praktische Implementationen der neuen Referenz-architektur. Nun sind die Unternehmen und die Unternehmer gefragt. Damit das sicher erfolgen kann, arbeitet der ZVEI bereits an Security-Leitprinzipien, die in RAMI 4.0 integriert werden sollen. Bei allen Erfolgen in der Standardisierung: Das Vertrauen in die digitale Welt spielt eine überragende Rolle, um Industrie 4.0 umzusetzen. Auf der Agenda der Elektroindustrie steht daher Cybersicherheit von Industrie 4.0-Anwendungen und Datenschutz ganz oben.
Welche Bedeutung hat Industrie 4.0 speziell für die Prozessindustrie?
M. Ziesemer: Industrie 4.0 wird vielfach vor allem mit der Fabrikautomation in Verbindung gebracht. Aber auch für die deutsche Prozessindustrie werden Digitalisierung und Industrie-4.0-Technologien immer bedeutender. Produkte müssen in immer kürzeren Zyklen auf den Markt gebracht werden. Das erfordert eine stärkere Flexibilisierung der Produktion, die durch modularisierte Anlagen möglich wird.
Der ZVEI hat in engem Austausch mit der Namur ein White Paper verfasst. Es beschreibt unter anderem, wie modulare Automation durch Kapselung der verfahrenstechnischen Funktionen die Komplexität verringert. Hier brauchen wir die beschriebene intelligente Automatisierungstechnik.
Welche Themen stellt der ZVEI auf der Achema 2015 besonders in den Vordergrund?
M. Ziesemer: Industrie 4.0 und modulare Automation werden wir auch auf der Achema im Juni in den Fokus nehmen. Dort veranstalten wir gemeinsam mit Namur und ARC Advisory Group das Forum „Automation im Dialog“.