Was hat die Chemielogistik mit unserem Wohlstand zu tun?
Chemielogistik hat mit politischen und verkehrstechnischen Randbedingungen zu kämpfen
In weiten Teilen unserer Gesellschaft hat sich die Auffassung festgesetzt, dass Wohlstand „einfach da ist" und alles das, was den Genuss dieses Wohlstandes stört, abgeschafft gehört. Konsequenterweise werden damit auch viele Industriebranchen abgelehnt - vor allem, wenn sie Produkte wie Chemikalien herstellen, die vielerlei - tatsächliche oder vermeintliche - Risiken beinhalten.
Konsequenterweise haben sich in den vergangenen zwei Dekaden viele europäische Länder darauf fokussiert, ihre Finanzwirtschaft (Großbritannien, Irland) oder den Tourismus (Spanien, Italien, Griechenland, Skandinavien) zu fördern und zumindest billigend in Kauf zu nehmen, dass die Industrie „auswandert".
Mit Verwunderung stellt man dann fest, dass die Handelsbilanzdefizite zunehmen und ganze Volkswirtschaften auch dauerhaft „auf Pump" leben. Ans Abstruse grenzt es dann, wenn Deutschland vorgeworfen wird, gegenüber seinen europäischen Nachbarn Handelsbilanzüberschüsse zu erwirtschaften.
Erst vor ca. zwei Jahren hat dann zumindest die EU-Kommission erkannt, dass es für den Erhalt unseres hohen Wohlstandsniveaus einer Re-Industrialisierung bedarf und proklamiert, dass der Anteil der Industrieproduktion am Bruttosozialprodukt von derzeit ca. 15% bis 2020 auf ca. 20% gesteigert werden sollte. Kein Zufall ist sicherlich, dass diese 20% bereits heute der Anteil sind, den die Industrieproduktion am Bruttosozialprodukt in Deutschland hat.
Diese 20% sind zu einem wesentlichen Teil der Tatsache zu verdanken, dass es der Mehrzahl der deutschen Unternehmen gelungen ist, sich permanent technologisch, organisatorisch und strukturell weiter zu entwickeln und in ihren jeweiligen Geschäftsfeldern weltweit führend zu sein. Zunehmend problematisch wird jedoch, dass die - vielfach vom Staat vorgehaltene bzw. zumindest noch kontrollierte - Infrastruktur immer maroder wird. Unsere Volkswirtschaft schafft es nicht nur nicht, die Infrastruktur - insbesondere die Verkehrsinfrastruktur - bedarfsgerecht auszubauen, sondern schafft es noch nicht einmal, die in den vergangenen Dekaden aufgebaute Verkehrsinfrastruktur zu erhalten. Bekannte Beispiele dafür sind eine Vielzahl maroder Straßen- und Eisenbahnbrücken aber auch Schleusen von Kanälen und Binnenwasserstraßen. Die Betroffenheit der Chemiewirtschaft wird deutlich, wenn man sich vergewissert, dass in Deutschland pro Jahr mehr als 250 Mio. t Chemikalien befördert werden - die sich mit fast 60% auf die Straße und jeweils ca. 10% auf Pipeline, Eisenbahn, Binnenschiff und Seeschiff aufteilen.
Mit einem Mengenabsatz von etwa 10 Mio. t entfallen auf die Chemiedistribution zwar „nur" rund 4% der transportierten chemischen Erzeugnisse. Doch dieser Anteil ist durchaus nachvollziehbar, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Sendungsgewichte in der Chemiedistribution überwiegend zwischen wenigen hundert Kilogramm und wenigen Tonnen betragen. Nur im Streckengeschäft liefert der Chemikalienhändler Komplettladungen, wie sie in der Geschäftsbeziehung zwischen Chemieproduzent und Großverbraucher die Regel sind. Hinter einem Mengenabsatz von 10 Mio. t stehen somit in der Chemiedistribution mehrere Millionen Sendungen.
Zentrale Forderungen der Chemischen Industrie an Verkehrspolitik
Nichtsdestotrotz kümmert sich primär der Verband der Chemischen Industrie (VCI) - gewissermaßen der große Bruder des VCH - um die Frage, welche zentralen Forderungen die Chemische Industrie an die Verkehrspolitik stellen muss, um den Interessen einer der transportintensivsten Wirtschaftsbereiche Rechnung zu tragen. Diese Forderungen betreffen insbesondere:
- den Erhalt und Ausbau der Infrastruktur mit dem Ziel, die Verkehrsträger im Sinne einer Betrachtung des Gesamtsystems Verkehr intelligent zu verknüpfen;
- eine Stärkung der Komodalität: Dazu sind die Verkehrsknotenpunkte so auszubauen, dass sie die Wirtschaftszentren mit den Hauptverkehrsachsen verbinden. Ein besonderes Augenmerk ist in diesem Zusammenhang auf eine effiziente Hinterland-Anbindung an die Seehäfen zu legen. Mit Blick auf die ostdeutsche chemische Industrie sind Engpässe in der Eisenbahninfrastruktur zügig zu beseitigen und die Bedingungen für den kombinierten Verkehr zu verbessern;
- die Schaffung von zusätzlichen multimodalen Knotenpunkten und die Beseitigung von Engpässen: Dazu gehört insbesondere, die Wettbewerbsfähigkeit des Schienenverkehrs u.a. durch den Einsatz deutlich längerer Züge zu verbessern;
- die Stärkung der Binnenschifffahrt, insbesondere der von der Chemiewirtschaft intensiv genutzten Tankschifffahrt;
- die deutliche Verkürzung von Planungs- und Bauzeiten;
- die zügige Implementierung vernetzter Telematiksysteme;
- die Schaffung der Voraussetzungen für eine nachhaltige Logistik, u.a. durch eine kontinuierliche Emissionsreduzierung.
Es erstaunt nicht, dass sich die VCI-Forderungen auch im Aktionsplan Güterverkehr und Logistik des Bundesverkehrsministeriums wiederfinden. Dieser Aktionsplan schlägt ein umfangreiches Maßnahmenbündel vor, um
- den Logistikstandard Deutschland zu stärken,
- eine leistungsfähige Verkehrsinfrastruktur zu erhalten, zu modernisieren und zu erweitern,
- eine bessere Vernetzung aller Verkehrsträger zu erreichen,
- einen umweltfreundlichen und energieeffizienten Gütertransport zu fördern und
- die Nachwuchssicherung und gute Arbeitsbedingungen zu unterstützen.
Doch ist sicherlich Skepsis angebracht, ob diese Vorhaben in den kommenden Jahren tatsächlich realisiert werden. Hinzu kommt, dass sich die Unternehmen mehr oder weniger regelmäßig mit neuen temporären oder dauerhaften Erschwernissen auseinandersetzen müssen.
Temporär - so ist zumindest immer noch die Hoffnung - sind die Probleme durch die wiederholten Streiks der Lokführer. Ist es schon in streikfreien Zeiten für die Bahn ausgesprochen schwierig, gegenüber dem LKW wettbewerbsfähige Transportleistungen anzubieten, gerät sie völlig ins Hintertreffen, wenn einer ihrer entscheidenden Vorteile - Pünktlichkeit und Liefersicherheit - nicht mehr gewährleistet ist. Weicht ein Unternehmen während eines Streiks aber erst einmal auf den LKW aus, ist es natürlich geneigt, den „Lückenbüßer" auch kontinuierlich zu beschäftigen.
Weitere „Nebenkriegsschauplätze" halten auch die Chemielogistiker immer wieder von ihrer eigentlichen Arbeit ab. Aktuelles Beispiel ist das seit dem 1. Januar 2015 gültige Mindestlohngesetz. Dieses statuiert eine zivilrechtliche und bußgeldrechtliche Haftung des Auftraggebers zur Zahlung des Mindestlohns an den LKW-Fahrer. Zahlt ein LKW-Unternehmer seinen Fahrern weniger als den Mindestlohn, haftet der Auftraggeber gegenüber dem Fahrer unmittelbar für die Differenz - auch wenn die Auftragsbeziehung über mehrere Stufen (vom Auftraggeber über Spediteur über Transportunternehmer zum Subunternehmer) abgeschlossen ist.
Aus den vergangenen Jahren ließe sich eine Liste derartiger Beispiele erstellen. Zu befürchten ist, dass sich die Chemielogistik auch in Zukunft aufgrund schludriger Gesetzgebung, gesellschaftlicher Fehlentwicklungen und struktureller Entwicklungen nicht nur aber auch mit derartigen unproduktiven Themen und Fragen auseinandersetzen muss.
Zusammenfassend ist also festzustellen, dass man es der Chemielogistik - in vielen Fällen unnötigerweise - schwer macht, ihre zentrale Aufgabe zu erfüllen, nämlich gute Rahmenbedingungen für die Kernaufgabe der Unternehmen zu schaffen, Chemikalien zu produzieren und zu distribuieren. Denn nur wenn dies gelingt, werden wir das hohe Wohlstandsniveau, das unsere Industriegesellschaft uns bietet, erhalten können.
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