Neue Rohstoffe statt Fracking
Europas Chemiemanager suchen nach einer Antwort auf den US-Schiefergasboom
„Wer setzt Druck dahinter, dass Sie keine kalten Füße bekommen?" lautet der Titel einer ganzseitigen Anzeige aus den 1980er Jahren, mit welcher der Öl- und Gaskonzern Mobil über den erstmaligen Einsatz einer effizienten Technologie zur hydraulischen Gasförderung in Deutschland informierte. Heute - drei Jahrzehnte und etwa 28.000 Bohrungen in deutschem Boden später - steht die Fracking-Technologie hierzulande unter massiver Kritik der Öffentlichkeit. Während die deutsche Politik die Ausweitung der Technologie auf die sog. unkonventionelle Gasförderung bislang untersagt, boomt die Schiefergasförderung in den USA bereits seit vielen Jahren. Dies bleibt nicht ohne Auswirkung auf die heimische Chemieindustrie.
„Erdgas ist ein idealer Energieträger, um den erneuerbaren Energien zur Seite zu stehen und dabei zu helfen, die Klimaschutzziele zu erreichen", sagte Dr. Gernot Kalkoffen, Geschäftsführer von Exxonmobil Central Europe auf der Handelsblatt-Jahrestagung Chemie 2014 Anfang Juni in Köln. Dies hätte wohl ein Gros der Tagungsteilnehmer unterschrieben. Bei der Beantwortung der Fragen, ob das notwendige Erdgas für die Energiewende durch Fracking in Deutschland gewonnen werden soll oder wie sich der Einsatz der Technologie auf die Energiepreise in Deutschland auswirken würde, liefen jedoch die Meinungen der Experten und die Strategien der Unternehmen auseinander. Während Kalkoffen angesichts des Genehmigungsstopps in Deutschland für Fracking beklagt: „Wir haben 1 Mrd. € nicht in Niedersachsen investiert", sieht Michael Schmidt, Vorstandsvorsitzender der BP Europe, dies gelassen: „Fracking in Europa hat für BP keine Bedeutung."
Aktuell wird der deutsche Erdgasbedarf zu 12 % durch heimische Gasproduktion gedeckt, etwa ein Drittel davon durch hydraulische Erdgasbohrungen gewonnen. Die Erschließung von inländischen Schiefergasressourcen könne das Wirtschaftswachstum in Deutschland beschleunigen, lautet das Fazit einer vom Verband der Chemischen Industrie beauftragten und im März 2014 veröffentlichten Studie des US-Informationsunternehmens IHS. Danach hätte die Kombination einer kostenorientierten Energiewende mit Schiefergasförderung einen positiven Effekt von 2,3 % auf das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2030. Die kostenorientierte Energiewende allein wäre um 0,6 % weniger effektiv. Eine großflächige Schiefergasförderung in ganz Europa könne den Großhandelspreis für Erdgas im Jahr 2030 um 20 % senken. Ein geringer Hebel, vergleicht man dies mit der Entwicklung des Gaspreises in den USA, der sich seit 2008 mehr als halbierte und heute mit 1,17 ct/kWh um den Faktor vier niedriger ist als in Deutschland (3,90 ct/kWh). Auch mögliche Flüssiggasexporte (LNG) aus den USA nach Europa werden aufgrund der hohen Transport- und Investitionskosten die Gaspreisschere nicht schließen, waren sich Schmidt und BASF-Vorstand Dr. Harald Schwager bei der Podiumsdiskussion in Köln einig.
Eine schwierige Situation für Europas Chemie, denn sie nutzt Erdgas zweifach: Zur Energieversorgung und als Rohstoff für die Herstellung von Chemikalien. Allein am Verbundstandort der BASF in Ludwigshafen verbrauche der Konzern soviel Gas wie ganz Berlin oder Dänemark, erklärte Schwager.
Schiefergasboom verändert Rohstoffbasis der Chemie
Derzeit beträgt der Anteil von Erdgas an der Rohstoffbasis der deutschen Chemieindustrie lediglich 15 %. Mehr als 70 % entfallen auf Erdöl, das in Naphtha-Crackern zur wichtigen Basischemikalie Ethylen weiterverarbeitet wird. Diese Cracker stehen jedoch seit einigen Jahren im internationalen Wettbewerb mit US-Crackern, die Ethan statt Naphtha als Feedstock nutzen. Das dort eingesetzte Ethan entsteht als Nebenprodukt bei der Förderung von sog. „nassem" Schiefergas. Mittels moderner Gascracker kann Ethylen in den USA auf diese Weise heute bis zu 60 % günstiger hergestellt werden als in Westeuropa.
Dies wird die Struktur der europäischen Chemie nachhaltig verändern. „Die Karten werden nicht einfach neu gemischt. Wir spielen mit einem neuen Kartenspiel", beschreibt Schwager die Situation. Experten der Strategieberatung Stratley erwarten Überkapazitäten von bis zu 6 Mio. t/a an Ethylen in Europa bis zum Jahr 2017. Nicht nur Ethylen selbst, sondern auch die in Europa produzierten Ethylen-Folgeprodukte wie z.B. Polyethylen (PE) oder Polyvinylchlorid (PVC) werden einem massivem Kostendruck ausgesetzt sein. Nach einer Prognose der Strategieberatung werden europäische Chemieunternehmen in den kommenden Jahren Kapazitäten von mindestens 2 Mio. t/a vom Markt nehmen. Dies bleibt nicht ohne Konsequenzen für die weitere Wertschöpfungskette. Denn der Abbau der Ethylenkapazitäten in Europa könnte auch die weltweite Verfügbarkeit von Cracking-Nebenprodukten wie Propylenoxid oder Butadien einschränken, zumal beide beim Ethan-Crackprozess in deutlich geringerer Ausbeute anfallen als beim Naphtha-Cracking. Beide Basischemikalien sind wichtige C3- und C4-Rohstoffe für die Spezialchemie.
„Die Verknappung von Butadien in den USA ist bereits Realität", sagt Matthias Zachert, CEO des Kautschukproduzenten Lanxess, „Aufgrund der Verfügbarkeit von günstigem Ethan aus Shale Gas haben die Betreiber der US-Anlagen bereits in den vergangenen Jahren eine ‚light-Fahrweise' gewählt, die die Verfügbarkeit von C3 und vor allem C4 deutlich verknappt hat. Dank unserer Partnerschaften mit den US-Produzenten waren wir aber immer in der Lage, die benötigten Rohstoffmengen vertraglich zu sichern." Abhilfe schaffen bzgl. des Butadien-Engpasses in den USA könnte künftig ein Verfahren für die Herstellung von Butadien aus dem Erdgasprodukt Butan, das die BASF in Kooperation mit Linde entwickelt, wie die Unternehmen Anfang Juni mitteilten.
In den Regionen Europa und China sieht Lanxess-Chef Zachert derzeit sogar einen Butadien-Überschuss, da eine nennenswerte Anzahl neuer Butadien-Extraktionen in Betrieb genommen wurden, um die Wirtschaftlichkeit der Naphtha-Cracker zu verbessern.
Das Beispiel Butadien zeigt, wie sich der langjährige Wettbewerbsvorteil der deutschen und europäischen Chemieindustrie, der auf effizienten Verbundstandorten und hoch integrierten Wertschöpfungsketten bis über die eigene Branche hinaus basiert, durch den US-Schiefergasboom regelrecht in einen Risikofaktor gewandelt hat. „Wenn ein Dominostein fällt, kippt die gesamte Kette", befürchtet ein Teilnehmer der Handelsblatt-Jahrestagung Chemie. Damit teilt er die Meinung eines Großteils der Branchenexperten: Nach eine Befragung von Stratley erwarten 80 % der Manager eine Restrukturierung der europäischen Chemieindustrie. Viele sehen insbesondere die Petrochemie und die energieintensive Chemieindustrie am Standort bedroht, aber auch Teile der Spezialchemie.
Innovationen bei biobasierter Chemie und Methanaktivierung gefragt
Damit Europas Chemie wettbewerbsfähig bleibe, müsse sie vor allem ihre Energiekosten- und Rohmaterialnachteile gegenüber den Wettbewerbern aus den USA ausgleichen, sagt Referent Dr. Walter Bürger-Kley, Managing Partner bei Stratley: „Handlungsoptionen dafür gibt es auf allen Stufen der Wertschöpfungskette." Besonders nachhaltig seien sie jedoch im Upstream-Bereich. Hier sind alternative Routen und Rohstoffe für die Herstellung von Olefinen gefragt, z.B. die oxidative Kupplung von Methan oder Fermentationsprozesse von Biomasse.
Als vielversprechend gelten die Aktivierung von Methan aus fossilen sowie aus erneuerbaren Quellen und eine biobasierte Chemie, die Zellulose als Ausgangsstoff nutzt. Klar ist, es gibt nicht einen Weg für Europas Chemie, um dem Schiefergasboom zu begegnen. Vielmehr wird ein Bündel abgestimmter strategischer Maßnahmen zum Erfolg führen.
Nicht nur Chemiker Schwager äußerte sich auf der Tagung optimistisch: „Zu allen Problemen gibt es eine Lösung, wenn man nur ausreichend forscht." Die Voraussetzungen dafür in Deutschland sind gut. Auch wenn der Standort seine Attraktivität für die Produktion klassischer Basischemikalien verliert, die Standortvorteile für Forschung sowie die Entwicklung von erneuerbaren Energien können im internationalen Wettbewerb bestehen.