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Was die Cloud für Chemie- und Pharmaindustrie bereit hält

Bitkom-Vizepräsident Heinz-Paul Bonn im CHEManager Interview

17.07.2012 -

Sind Cloud Computing, Digitale Fabrik oder Factory 4.0 mehr als ein Hype? Wie kann die chemische und pharmazeutische Industrie im Umfeld hart umkämpfter Märkte von diesen Technologien profitieren?

CHEManager befragte Heinz-Paul Bonn, Vizepräsident des High-Tech Branchenverbands Bitkom, über Chancen und Grenzen der modernen Informations- und Telekommunikationstechnologie (ITK) und über die Zusammenarbeit von Bitkom mit der Chemie- und Pharma-Branche.


CHEManager: Herr Bonn, Sie engagieren sich seit über 10 Jahren im Präsidium des Bitkom. Können Sie in wenigen Worten die wichtigsten Ziele und Aufgaben des Verbandes beschreiben?

Heinz-Paul Bonn: Bitkom steht für Bundesverband für Informationswirtschaft, Telekommunikation und Neue Medien und wird alternativ gerne verkürzend als High-Tech- oder ITK-Verband apostrophiert. Er vertritt rund 1700 ITK-Unternehmen in Deutschland. Unter den etwa 1100 Direktmitgliedern sind praktisch alle in Deutschland tätigen Global Player vertreten sowie etwa 800 leistungsstarke mittelständische Unternehmen. Zusammen genommen erwirtschaften die Bitkom-Mitglieder einen Umsatz von 135 Milliarden Euro, davon etwa 50 Milliarden Euro im Export.

Als Europas größter ITK-Verband haben wir ein gewichtiges Wort auf internationaler, EU- und Bundesebene. Dabei reicht das Spektrum von gesellschaftspolitischen Themen über Datenschutz, Infrastruktur bis zu technischen Fragen. Informationstechnik und Kommunikation sind eine Querschnittstechnologie, die praktisch alle Lebensbereiche abdeckt - und so breit ist dann auch das Themenspektrum des Bitkom.

Die ITK, also die Informations- und Telekommunikationstechnologie, entwickelt sich in einem manchmal beängstigenden Tempo weiter und beeinflusst sowohl die privaten als auch die industriellen Anwender. Halten Sie die Auswirkungen auf das private Verhalten der Menschen noch für kalkulierbar?

Heinz-Paul Bonn: Es hat sich eigentlich in den letzten 3000 Jahren so viel grundsätzliches gar nicht geändert: Der Mensch als Individuum ist schwer einzuschätzen. Als Gesellschaft - zum Beispiel im Wirtschaftsleben - oder in Gemeinschaft ist eine Vorhersagbarkeit schon eher gegeben. Wir glauben also immer noch an den Sinn, Pläne zu machen.

Was sich freilich radikal geändert hat - und zwar in der Tat seit Beginn des neuen Jahrtausends mit zunehmendem Tempo - sind die Möglichkeiten und Fähigkeiten des Einzelnen, sich zu informieren und sich Gehör zu verschaffen. Da dies aber viele tun oder zumindest tun können, nivelliert sich die Wirkung auch schon wieder. Die Kakophonie beispielsweise, die durch Banal-Posts in den sozialen Medien angestimmt wird - also „Ich treffe jetzt XY zum Lunch" oder „schaut mal, das bin ich und XY am Strand" - kann man doch gut überhören. Aber wenn sich engagierte Menschen in Blogs, Posts und Tweets zu Themen äußern, die ihnen besonders am Herzen liegen, dann kann sozusagen jeder sein eigenes Sprachrohr sein und den Lauf der Dinge beeinflussen. Ich würde mich nicht gerade als Pirat bezeichnen, aber die Web-Economy beeinflusst mich immer wieder wegen ihrer hohen Freiheitsgrade für den Einzelnen wie für Communities.

Die Social Media finden aber auch im Arbeitsumfeld immer mehr Nutzer und lassen die Grenzen zwischen Arbeitsbereich und privatem Umfeld verschwinden. Jetzt will sich die Politik dieses Themas annehmen ...

Heinz-Paul Bonn: Ja, und zwar mit einem falschen Zungenschlag. Kürzlich beispielsweise hat die Kanzlerin zum Internet-Gipfel eingeladen und damit den Eindruck erweckt, als unterscheide sie zwischen Informationswirtschaft und Internetwirtschaft. Natürlich rate ich der Kanzlerin nicht, wen sie einladen soll und wen nicht. Ich möchte nur zum Ausdruck bringen, dass wir derzeit wieder dabei sind, den jährlichen IT-Gipfel vorzubereiten - und einen Nebengipfel für wenig hilfreich ansehen.

Es gibt keine Trennung zwischen klassischer Informationstechnologie einerseits und Internet-Technologie andererseits. Wenn wir heute über den IT-Standort Deutschland sprechen und dabei diskutieren, wo wir unsere Stärken noch besser herausstellen müssen, dann reden wir insbesondere darüber, wie Internettechnologien in alle Wirtschaftsbereiche diffundieren. Nehmen wir beispielsweise die Gesundheitskarte, deren Verwirklichung bedauerlicherweise mehr Zeit und Aufwand in Anspruch nimmt, als wir uns das erhofft haben. Sie funktioniert nur in einer hinreichend vernetzten Welt. Sie ist im Übrigen ein gutes Beispiel dafür, wie ITK-Themen immer auch Infrastrukturthemen sind. Hier geht es um das Zusammenspiel einer Multimilliardenbranche. Und es geht zudem praktisch jedermann an.

Wo liegt denn nun genau der Nutzen der Social Media für die Industrie, oder geht es ihr eher wie dem Zauberlehrling, der die Geister, die er rief, nicht mehr los wird?

Heinz-Paul Bonn: Ich denke, man kann heute behaupten, dass Soziale Medien wie beispielsweise XING wie ein globales Vertriebstool oder CRM-System - also Customer Relationship Management - genutzt werden. Die Möglichkeit zur Kontaktanbahnung ist ein starker Nutzen im vorwettbewerblichen Umfeld.

Wenn wir soziale Netzwerke stets mit nach oben und unten offenen Anbietern wie Facebook assoziieren, das ja von vielen Jugendlichen weitgehend sinnfrei genutzt wird, dann schränken wir unsere Phantasie deutlich ein. Auch ein Netz mit hohen Sicherheits- und Privacy-Standards ist ja im Prinzip ein soziales Netz. Das macht - um auf das Beispiel zurückzukommen - die Einführung einer Gesundheitskarte, die ja ganz persönliche patientenbezogene Daten zum Inhalt hat oder haben soll, so kritisch. Aber auch diese Infrastruktur dient einer Community.

Wir sehen zudem Trends, wonach sich weniger Menschen als vielmehr Maschinen oder Sensoren vernetzen - und hier ist der Nutzen unmittelbar greifbar. Denken Sie an Verkehrsleitsysteme, die die Gemeinschaft des Frachtverkehrs optimieren, weil Staus und unnötige Wartezeiten optimiert werden. Dies geht nur, wenn sozusagen jeder Lkw postet, wo er sich gerade befindet.

Wir finden ähnliche Mechanismen, übrigens heute auch schon in der Landwirtschaft, wo Sensoren kontinuierlich Statusmeldungen über die Wetterlage, die Bodenfeuchtigkeit oder den Grad der Sonneneinstrahlung melden. Das sind im Prinzip auch Posts, die aber zu einem wertvollen Gesamtbild über den Stand der Ernte beitragen.
Wir fassen diese Ansätze unter dem „Internet der Dinge" zusammen. Cloud Computing ist natürlich auch ein Beispiel für einen solchen Infrastrukturansatz.

Welchen Nutzen haben die Unternehmen, die sich der Cloud anvertrauen?

Heinz-Paul Bonn: Um ein Bild aus der Branche zu wählen: Cloud Computing ist weniger eine neue Therapie, sondern eher eine andere „Darreichungsform". Man muss eine IT-Infrastruktur nicht mehr einkaufen, selbst aufstellen und warten, sondern kann IT-Services aus dem Web beziehen. Das geht einher mit einem geänderten Geschäftsmodell, das vom Lizenzkauf zum Nutzungsentgelt wechselt. Man bezahlt im Idealfall nur so viel und so lange, wie man einen Service auch tatsächlich nutzt - beispielsweise zusätzlichen Speicherplatz oder weitere Rechnerkapazität bei der Hardware oder zusätzliche Anwendungsfunktionen bei der Software.

Das beste Beispiel für die damit gewonnenen Freiheitsgrade sind die Apps, die wir uns auf Smartphones oder Tablets runterladen - beispielsweise einen GPS-gestützten Sporttrainer, der die Lauf- oder Rastrecke aufzeichnet. Wir können heute schon die dabei ermittelten Werte an den Arzt mailen. Google, Apple, Microsoft oder Amazon bieten als Plattform heute bereits mehrere Millionen solcher „minimal-invasiven" Anwendungen, die man aus dem Web heraus nutzen kann.

Das funktioniert auch im Business-Umfeld. Praktisch alle großen Anbieter von Unternehmenssoftware - also Enterprise Resource Management - haben inzwischen Apps für spezielle Aufgabengebiete im Angebot: Management Informationssysteme, die auf dem Tablet die aktuellen Schlüsseldaten zur Unternehmenssituation visualisieren oder Produktkataloge und Bestellsysteme zur Vertriebsunterstützung, um zwei Beispiele zu nennen.

Die „Wolkenmacher", also die Anbieter der Cloud-Services, könnten ein beliebtes Ziel für Hacker, Spione und Saboteure werden. Wie ist es um die Security der Wolken bestellt?

Heinz-Paul Bonn: Sicherheit ist eine Medaille mit zwei Seiten. Zunächst die Sicherheit vor Angriffen: Ich wäre nicht überrascht, wenn eine Studie ergeben würde, dass Cloud-Services besser vor Angriffen geschützt sind als die klassische mittelständische IT. Dazu kommt die Sicherheit vor Ausfällen, bei denen die Hochverfügbarkeitsstandards der Cloud-Anbieter in der Regel über das hinausgehen, was in der Unternehmens-IT unter Wahrung der Wirtschaftlichkeit geleistet werden kann.

Die andere Seite der Medaille ist freilich die Sicherheit der fern gespeicherten Daten, insbesondere der personenbezogenen Daten. Hier sind die Beteuerungen der Anbieter groß, aber nur schwer zu kontrollieren. Vertrauen und Vertrauenswürdigkeit ist hier die wichtigste Währung. In Deutschland haben wir es zudem mit einem sehr eng gefassten Datenschutzgesetz zu tun, das beispielsweise die Speicherung von personenbezogenen Daten im Ausland - also auch in einem im Ausland betriebenen Rechenzentrum - untersagt.

Für einen Mittelständler scheinen die Nutzenargumente für die Cloud einleuchtend zu sein - können Sie damit aber auch die großen Unternehmen der Chemie- und Pharmabranche überzeugen?

Heinz-Paul Bonn: Die sind doch längst in der Cloud. Global agierende Unternehmen haben weltumspannende Firmennetze aufgebaut, die praktisch „privat Clouds" sind.

Aber andererseits haben wir in den letzten Jahren auch erhebliche Restrukturierungen bei Chemie und Pharma erlebt - denken Sie nur an die Zusammenlegung und Trennung von ganzen Sparten. Im Ergebnis kommt die Branche zu immer mehr Arbeitsteilung, die sich von der Forschung und Entwicklung über (bei Pharma) klinische Studien bis zur Produktfreigabe und die Herstellung und Vermarktung über eine Vielzahl von spezialisierten Unternehmen hinzieht. Hier entstehen gerade durch Cloud Computing flexible und agile Integrationsstrukturen.

„Digitale Fabriken" und „Factory 4.0" sollen den Fertigungsstandort Deutschland auch langfristig sichern - was sind die Beiträge des Bitkom hierzu?

Heinz-Paul Bonn:
Nach Schätzungen sind in Deutschland 16 Milliarden „Embedded Systems" in Betrieb, also Computer, die eine Maschine, einen Roboter oder ein Auto mit einer Zusatzfunktion ausstatten. 18 Prozent der Unternehmen haben in einer aktuellen Studie angegeben, dass das Internet eine zentrale Rolle im Geschäftsmodell spielt, für weitere 32 Prozent immerhin eine wichtige Rolle. Diese Zahlen skizzieren nicht nur den IT-Standort Deutschland, sondern auch die Weltmarktführerschaft, die Deutschland in diesem Segment innehat. „Digitale Fabriken" sind ein typisch deutsches Produkt, weil wir einen Hang zur Prozessoptimierung und Automatisierung mit kreativer Energie ausleben.

Bitkom hat einen Arbeitskreis „Pharma & Chemical Services" gegründet - was ist das besondere dieser Unternehmen aus der Sicht des Bitkom?

Heinz-Paul Bonn: Es gibt nur ausgewählte Branchen, mit denen der Bitkom eine solch enge Beziehung eingeht - oder sagen wir: bisher eingegangen ist. Am Anfang stand die Erkenntnis, dass Pharma und Chemie ohne IT-Unterstützung kaum noch neue Wirkstoffe oder Werkstoffe erforschen können oder auch keine Qualitätsprozesse umsetzen und nach Compliance-Regeln dokumentieren können. Deshalb diskutieren wir den besonderen Beitrag, den die Querschnittstechnologie ITK hier leisten kann. Natürlich geht es auch um die hohe gesellschaftspolitische Bedeutung des Gesundheitswesens und die Frage, wie die Informations- und Kommunikationstechnologie hier zu Kostenersparnis und Produktsicherheit führen kann.

Der CHEManager wird in diesem Jahr 20 Jahre alt. In der Zeit seiner Gründung gab es eine gewisse Computer-Euphorie und man definierte die verschiedensten „Computer Aided" und „Computer Integrated" Technologien wie CAD, CAE oder CIM. Einige der Themen sind heute Selbstverständlichkeit, andere sind in der Versenkung verschwunden. Oder sind die Digitale Fabrik und Factory 4.0 nur ein neuer Aufguss von CIM, dem Computer Integrated Manufacturing?

Heinz-Paul Bonn: Kein neuer Aufguss, sondern eine kreative Weiterentwicklung, die auch umsetzt, was vor 20 Jahren technisch nicht möglich war. CIM lebte ganz aus dem Modell des Zentralcomputers, heute leben wir im Netz. CIM war monolithisch, heute sind wir fragmentiert. CIM war stabil, heute sind wir agil - wir passen uns geänderten Marktbedingungen flexibel an. Das sind die Auswirkungen, die durch einen geänderten Technologieansatz erreicht wurden. Aber die Zielsetzung bleibt gleich: sichere Prozesse und transparente Informationen.

Wagen Sie abschließend noch einen Ausblick, welche ITK-Themen uns in 20 Jahren beschäftigen werden?

Heinz-Paul Bonn: Nein, ich könnte später damit konfrontiert werden.

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