Ionische Flüssigkeiten: Einzigartige Materialien mit vielfältigen Möglichkeiten
05.09.2011 -
Kaum jemand, der nicht bereits mit dem Begriff „ionische Flüssigkeiten“ konfrontiert wurde – und dennoch bleiben weiterhin vielfach Fragen offen wie z. B. auch in dem im Mai dieses Jahres in CHEManager Europe erschienenen Artikel von Neil Winterton mit dem Titel „Ionic Liquids – help or hype?“. Eine sicher berechtigte Frage, die im Folgenden aus der Sicht eines Anbieters von ionischen Flüssigkeiten im industriellen Maßstab betrachtet wird.
Was sind ionische Flüssigkeiten?
Ionische Flüssigkeiten sind Salze, die aufgrund ihrer chemischen Struktur mit meist eher voluminösen, organischen Kationen und verschiedensten Anionen schon bei tiefen Temperaturen flüssig sind. Sie bestehen ausschließlich aus diesen Ionen und enthalten keine Lösemittel wie z. B. Wasser. Dies führt zu einzigartigen Eigenschaften, die so mit keinem anderen Material erzielt werden können. Dies wiederum eröffnet den Weg zu vielen innovativen Lösungen wie neuen Produkten oder Prozessen. Vielfach werden ionische Flüssigkeiten auch heute noch als kaum bezahlbare „Labor-Kuriositäten“ angesehen. Dabei wird häufig übersehen, dass nicht der Preis für die ionische Flüssigkeit ausschlaggebend ist, sondern vielmehr die Kosten, die letztlich pro Kilo Endprodukt resultieren. Bedingt dadurch, dass ionische Flüssigkeiten meist in hohem Maße zurück gewonnen werden können, sind diese Kosten meist klein.
Von Anfang an wurden die ionischen Flüssigkeiten immer wieder mit dem vermeintlichen Gütesiegel „Green Solvents“ versehen. Diese Einschätzung gründete sich meist nur auf den nicht vorhandenen Dampfdruck der Produkte und erweist sich heute als wenig hilfreich. Wie bei vielen anderen Chemikalien findet sich auch hier das gesamte Spektrum von hochgiftig bis völlig unbedenklich. Eine generelle Einstufung der ionischen Flüssigkeiten bezüglich ihrer Toxikologie und Ökotoxikologie kann und wird es daher nicht geben. Allerdings zeigen die inzwischen zahlreich vorliegenden Untersuchungen zur Toxikologie ionischer Flüssigkeiten klare Trends und weisen den Weg zu toxikologisch unbedenklichen Materialien. Dabei zeigt sich, dass unabhängig vom Kation langkettige Alkyl-Gruppen im Hinblick auf eine möglichst niedrige Toxizität vermieden werden sollten. Mit dem 1-Ethyl-3-methyl-imidazolium-ethylsulfat steht im BASF-Portfolio heute bereits eine ionische Flüssigkeit zur Verfügung, die keine akute Toxizität zeigt, chemikalienrechtlich angemeldet ist und ein breites Spektrum von Anwendungen erschließt.
Ausgehend von der ursprünglichen Idee, ionische Flüssigkeiten als alternative Reaktionsmedien für chemische Reaktionen zu verwenden, spannt sich heute ein breiter Bogen von Erfolg versprechenden Anwendungen. Tatsächlich erfolgreich realisierte Anwendungen mit ionischen Flüssigkeiten zeichnen sich dabei häufig dadurch aus, dass sie ohne die spezifischen Eigenschaften dieser Materialien gar nicht realisierbar gewesen wären, wie die folgenden drei Beispiele demonstrieren sollen.
Eine neue Gas-Kompressionstechnologie
Bei der Kompression von Gasen entstehen durch die Erwärmung des zu komprimierenden Gases erhebliche Effizienzverluste, die sich in einem erhöhten Energieeinsatz niederschlagen. Ganz besonders deutlich wird dies beim Wasserstoff, der für eine effiziente Speicherung auf Drücke von über 400 bar komprimiert wird. Linde hat kürzlich ein neues Kompressionskonzept vorgestellt, bei dem die ionische Flüssigkeit als flüssiger Kolben die Kompressionsarbeit verrichtet. Die Vorteile dieser unter dem Begriff „Ionenkompressor“ eingeführten Technologie: geringerer Wartungsaufwand durch deutlich weniger bewegte Teile und Energieeinsparungen von ca. 20 %. Dies gelingt durch externe Kühlung des Betriebsmediums und die damit mögliche nahezu isotherme Kompression.
Ausschließlich ionische Flüssigkeiten bieten die hier erforderliche Kombination von physikalischen Eigenschaften wie eine relativ leicht bewegliche Flüssigkeit bei Temperaturen von -20°C bis +200°C, nahezu keinen Dampfdruck und eine sehr geringe Löslichkeit für Gase. Bereits heute betreibt Linde zusammen mit ausgewählten Kunden eine ganze Reihe solcher Kompressoren für Wasserstoff und Erdgas in einer ß-Test-Phase. Die breite Kommerzialisierung dieser Technologie steht unmittelbar bevor.
Elektrolyt in Farbstoffsolarzellen
Eine Erfolg versprechende kostengünstigere Alternative zu verbreiteten kristallinen Silizium-Solarzellen bieten Farbstoff-Solarzellen. Sie nutzen einen größeren Bereich des Lichtspektrums und können auch bei geringerer Lichtintensität wie z. B. bei diffusem Licht eingesetzt werden. Neben dem Farbstoff und den Elektrodenmaterialien ist der Elektrolyt dieser Farbstoffsolarzellen von entscheidender Bedeutung. Funktion und Langzeit- Stabilität der Zellen können nur mit ionischen Flüssigkeiten erreicht werden. Dabei nutzt man wiederum verschiedene Eigenschaften: der niedrige Schmelzpunkt zusammen mit dem vernachlässigbar kleinen Dampfdruck erlaubt den Einsatz der Zellen über einen breiten Temperaturbereich von -20°C bis +80°C, die Leitfähigkeit sorgt für den erforderlichen Ladungstransport und die elektrochemische Stabilität für die notwenige Stabilität. Hinzu kommt, dass die ionische Flüssigkeit den auf einer Titandioxid-Schicht aufgebrachten Farbstoff stabilisiert und auch als Lösemittel für den I-/I3- Redox-Prozess fungiert.
In Cardiff (Wales) hat G24i als erstes Unternehmen diese Technologie kommerzialisiert. Sie ermöglicht einen ganz besonders günstigen „rollto- roll“-Herstellprozess und liefert zudem flexible Zellen, die vielfältig eingesetzt werden können. Die gerade anlaufende Markteinführung zielt zunächst auf mobile Anwendungen wie z. B. Ladegeräte für Mobil-Telefone in Regionen ohne flächendeckende Stromversorgung.
Auflösen und Verarbeiten von Cellulose
Cellulose stellt mit jährlich nachwachsenden Mengen von 75x109 t die größte auf der Erde verfügbare Kohlenstoff-Quelle dar. Tatsächlich genutzt wird hiervon heute mit ca. 200x106 t nur ein sehr kleiner Teil – hauptsächlich für Papier und Zellstoff. Im engeren Sinne zu Werkstoffen verwertet wird nur eine verschwindend kleine Menge von 5x106 t – vor allem für die Herstellung von Viskose-Fasern. Cellulose wird vor allem auch deshalb nicht breiter verwendet, weil es bislang an geeigneten und leicht handhabbaren Lösemitteln fehlt. Diese Lücke kann nun erstmals mit den ionischen Flüssigkeiten geschlossen werden.
Basierend auf grundlegenden Arbeiten von Prof. Robin Rogers an der University of Alabama hat die BASF zusammen mit weiteren Kooperationspartnern Prozesse zum Auflösen und Verformen von Cellulose entwickelt. Über die chemische Modifizierung von in ionischen Flüssigkeiten gelöster Cellulose sind darüber hinaus vielfältige weitere Möglichkeiten zur Herstellung von Werkstoffen auf Basis nachwachsender Rohstoffe gegeben. Derzeit wird zusammen mit verschiedenen Kooperationspartnern an einer Kommerzialisierung dieser Prozesse und Produkte gearbeitet.
Vermeintliche Grenzen
In manchen Publikationen wird heute vermutet, dass ionische Flüssigkeiten in ihrer Anwendung gewisse Grenzen erreicht haben oder auch bezüglich ihrer Möglichkeiten überschätzt werden. Die folgenden, erfolgreich realisierten Anwendungen sollen – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – demonstrieren, dass ionische Flüssigkeiten weiterhin sehr wohl Potential als Reaktionsmedien in chemischen Reaktionen bieten, wenn ihre spezifischen Eigenschaften gezielt bei der Optimierung von chemischen Reaktionen genutzt werden: In einem von Arkema beschriebenen und im Pilot-Maßstab realisierten Fluorierungs-Prozess bewirkt die ionische Flüssigkeit eine Steigerung der Reaktions-Selektivität und eine Verlängerung der Katalysator-Standzeit. Die ionische Flüssigkeit unterstützt hier genauso die eigentliche Katalyse wie in den von Degussa und Wacker beschriebenen Hydrosilylierungs-Reaktionen. Noch deutlicher wird der positive Einfluss der ionischen Flüssigkeit in den z. B. von IFP und Chevron publizierten Prozessen, in denen sie selbst als Katalysator fungieren. In dem von BASF ausgeübten Basil-Prozess sorgt das Reaktionsmedium für eine dramatische Steigerung der Reaktionsgeschwindigkeit und erlaubt so ein völlig neues Jet-Reaktor-Konzept.
Potential und bestehende Herausforderungen
Besonders Erfolg versprechend sind die Anwendungen, bei denen gleich mehrere der für ionische Flüssigkeiten typischen Eigenschaften zum Tragen kommen. In diesem Sinne sind die ionischen Flüssigkeiten weniger als „Chemikalien“ zu sehen, sondern vielmehr als „Systeminnovationen“, die Produkte oder Prozesse erst ermöglichen. Natürlich besteht auch weiterhin Handlungsbedarf, die Eigenschaften der Materialien noch weiter zu optimieren. Schwerpunkte aktueller Forschungsarbeiten liegen hier z. B. auf der Entwicklung von ionischen Flüssigkeiten mit noch niedrigerer Viskosität, höherer Leitfähigkeit bei weiterhin hoher elektrochemischer Stabilität sowie verbesserter thermischer Stabilität.
Anwendungsfelder mit noch erheblichem Potential für ionische Flüssigkeiten sind z. B. Elektrolyte für Speichermedien wie Kondensatoren oder Lithium-Ionen-Batterien, die Abscheidung von unedleren Metallen wie Aluminium, Titan oder Silizium, die Überführung von Biomasse in regenerative Energieträger und das breite Feld der Engineering Liquids, das so interessante Anwendungen wie z. B. Schmiermittel, Hydraulikflüssigkeiten oder Sorptionsmedien für die Kälteerzeugung beinhaltet. Um die gegebenen Potentiale auch realisieren zu können, wird eine enge, interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen den Anbietern ionischer Flüssigkeiten, der akademischen Forschung und den potentiellen Kunden erforderlich sein.
Kontakt:
Dr. Uwe Vagt
BASF SE, Ludwigshafen
Unternehmensbereich Intermediates
New Business Development Ionic Liquids
Tel.: 0621/60-48616
Fax: 0621/60-22666
uwe.vagt@basf.com
www.basionics.com