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Carsten Suntrop (CMC2) im Interview: Die eigene Chemielogistik überdenken

Chemie- und Logistikbranche: gemeinsame Schnittmenge noch nicht ausgelotet

27.04.2011 -

Hohe Anforderungen an Sicherheit und Umweltschutz kennzeichnen die Chemielogistik. Von allen am Prozess Beteiligten wird Spezialwissen verlangt und zusätzlich ist eine spezifische Infrastruktur gefordert. Das Buch „Chemielogistik" gibt erstmalig einen grundlegenden Überblick zu diesem Thema aus Sicht der Praktiker aus Chemie und Logistik und stellt unterschiedliche Geschäftsmodelle vor.

Dr. Sonja Andres befragte den Autor Prof. Dr. Carsten Suntrop (CMC2) zu Erkenntnissen, die seine Gespräche mit Chemielogistikern seitens der Nachfrager als auch der Anbieter zu Tage förderten und die Grundlage seines Buches bilden.

CHEManager: Herr Suntrop, Ihr gemeinsam mit Co-Autoren verfasstes neues Buch greift das Thema Chemielogistik auf. Was war der Auslöser, speziell die Logistik der chemischen Industrie zu betrachten?

Carsten Suntrop: Die Branche der chemischen Industrie ist insgesamt nicht ausreichend positiv repräsentiert. Ich möchte hier gerne einen Beitrag leisten, dies zu ändern. Gleiches gilt für die Chemielogistik. Es gibt zahlreiche Veröffentlichungen, Kongresse, Expertenrunden zum Thema Logistik in der Konsumgüter- oder Automobilbranche, doch nur sehr wenige mit dem Fokus der Chemielogistik. Dabei ist gerade die Chemielogistik eine ganz besondere, eine anspruchsvolle Logistik - hier zählen Sicherheit, Zuverlässigkeit und natürlich Kosteneffizienz. Zusätzlich findet eine Umwälzung im gesamten Chemielogistikmarkt statt - seit mehreren Jahren ordnen sich Nachfrager und Anbieter neu.

Die Nachfrager, sprich die produzierende chemische Industrie, müssen zunehmend weitere Optimierungspotentiale finden. Dies können Potentiale im Bereich des exakteren Timings, der besseren Planbarkeit oder der Kostensenkung sein. Diese Potentiale schaffen die Produzenten nicht alleine, sondern nur gemeinsam mit den Netzwerkpartnern über die gesamte Wertschöpfungskette. Die kapitalmarktorientierten Produzenten verstehen die professionelle Kommunikation immer mehr als einen Erfolgsfaktor ihres Geschäftes - in diese Kommunikation gehört ein Chemieunfall, egal an welcher Stelle der Erde, nicht hin. Die Vermeidung von Unfällen soll ein Safety Supply Chain Management sicherstellen. Dazu benötigen sie auch die Chemielogistiker.

Seitens der Logistikanbieter hat sich zum einen ein jahrzehntelanger Captive Market geöffnet. Die Chemieparks werden durch abhängige oder unabhängige Industriedienstleister betrieben und als Standortmanager geführt. In diesem Umfeld wird auch das Geschäft der Standortchemielogistik immer wieder neu auf den Prüfstand gestellt. Sei es vom Standortmanager oder vom Kunden selber. Zum anderen bilden sich mehr und mehr Chemie-Regionen (Cluster) und Chemie-Hubs in der deutschen, aber insbesondere auch europäischen Chemielogistiklandschaft. Hier entstehen Notwendigkeiten, langfristig erfolgskritische Umschlagsorte und Transportstrecken zu sichern, was auf Anbieterseite viele neue Möglichkeiten schafft und Entscheidungen forciert. Zudem haben große Kontraktlogistiker das enorme Potential der Chemielogistik erkannt und tragen zur Umgestaltung des Chemielogistikanbietermarktes bei.

Welche Themen werden im Buch behandelt?

Carsten Suntrop: Es werden die grundsätzlichen Anforderungen an die Chemielogistik definiert. Der Markt, Kennzahlen und Teilnehmer werden dargestellt - insbesondere wird der osteuropäische Markt beleuchtet. Wir diskutieren mögliche Strategien in diesem Markt und die Entwicklung zu neuen Geschäftsmodellen. Aus Sicht von Logistikkunden und Standortmanagern werden die Anforderungen definiert.

Daneben verdeutlicht das Buch zahlreiche Geschäftsmodelle konkreter Unternehmen aus der Praxis. Erfolgreiche Prozessmanagementmodelle werden gegenübergestellt. Schwerpunktthemen der erfolgreichen Zusammenarbeit zwischen Kunden und Logistikdienstleistern, wie die Dienstleisterauswahl oder die IT-Unterstützung, werden erläutert.

Gibt es nach Ihren Recherchen in der Chemielogistik Geschäftsmodelle, die bessere Entwicklungschancen haben als andere?

Carsten Suntrop: Aus meiner Sicht werden sich die Geschäftsmodelle in der Chemielogistik wandeln. Es wird zwar nach wie vor reine Fuhrunternehmer geben, alle werden jedoch zusätzliche Leistungen oder Mehrwertleistungen anbieten, um sich zu differenzieren. Die Kunden der chemischen Industrie wünschen sich Dienstleister, die als Lead Logistic Provider (LLP) oder auch als Netzwerkorganisationen integrative Lösungen anbieten. Aus diesen gemeinsam mit den Kunden entwickelten Lösungen entstehen neue Potentiale.

Erfolgsfaktoren für Geschäftsmodelle sind standardisierte Netzwerke, kostenoptimale Chemielogistikinfrastrukturen, chemiespezifisches Logistik-Know-how, Rightsizing-Kompetenz, Fähigkeit zum Vertrauensaufbau, Integrationsfähigkeit, Bewältigung von Transformationsprozessen und - von den Kunden gewünscht - Innovationsfähigkeit!

Der chemische Produzent als Kunde der Chemielogistik konzentriert sich mehr denn je auf die Themen „Sicherheit" und „Umweltschutz" - ein Unfall mit Personenschaden vernichtet auf der Reputations-, Shareholder- und Image-Seite mehr Vermögen, als je mit der Auswahl eines Tiefpreisanbieters verdient werden kann. Daher entscheiden bei der Auswahl des Chemie-Logistikdienstleisters Sicherheit, Zuverlässigkeit und natürlich auch die Wettbewerbsfähigkeit.

Insgesamt werden unterschiedliche Geschäftsmodelle erfolgreich sein können. Geschäftsmodelle, die es schaffen, sich in die Wertschöpfungskette des Kunden der chemischen Industrie zu integrieren. Beschaffungs-, Distributionslogistik oder Produktionslogistik oder auch die klassische Standortlogistik in den Chemieparks zählen hierzu. Die potentiellen Kunden in der chemischen Industrie werden noch viele Aufgaben abgeben, die ein Chemielogistiker als Mehrwertleistung erbringen kann. Hier liegen dann auch die für den Chemielogistiker attraktiven Margen bei 8 bis 10 oder sogar 12%.

Wie stellt sich die Branche heute dem Thema Outsourcing?

Carsten Suntrop: Bisher eher zurückhaltender als andere Branchen. Hier gibt es noch großes Potential, denn ca. 40% industrieller Kontraktlogistik wird noch intern abgewickelt. Diese Zahl gilt zwar für alle Branchen, für die chemische Industrie scheint sie genau zu treffen; denn andere Branchen, wie die Pharmabranche sourcen noch weniger aus, wiederum andere, wie der Automotive-Sektor, viel mehr.

Bisher war die Not nicht allzu groß, die Logistikaktivitäten bis zum letzten Quäntchen zu optimieren. Dies hat sich, auch mit der Krise in 2009, zunehmend gewandelt. Unternehmen die bereits viel nach draußen gegeben haben, realisieren weitere Potentiale über die intensive Zusammenarbeit mit den Dienstleistern.

Wir nehmen jedoch schon die ersten umfassenden Bemühungen wahr, auch Logistikaktivitäten nahe der Produktion an die Dienstleister abzugeben. Bei der Abgabe der Dispositionsaktivitäten sind die Kunden in der chemischen Industrie noch zurückhaltender und eindeutige Schnittstellen müssen hier von vielen Kunden noch entwickelt werden.

Werden sich die Anforderungen der chemischen Industrie in Bezug auf die Logistik in den kommenden Jahren verändern? Wie könnte ein Zukunftsszenario aussehen?

Carsten Suntrop: Wir können aus Sicht der am Buch beteiligten Chemielogistikexperten die folgenden sieben Tendenzen erkennen, aus denen sich dann ein Zukunftsszenario ableiten lässt:

  • Tendenz 1: Konsolidierungen und Strukturveränderungen in der gesamten Chemielogistik-Branche
  • Tendenz 2: Chemielogistik muss Chemie-Hubs in strategisch wichtigen Chemieclustern abdecken
  • Tendenz 3: Erfolgsfaktoren in der Chemielogistik sind neben angemessenen Kostenstrukturen insbesondere auch Netzwerkfähigkeit und nach wie vor die Kompetenz, mit Gefahrgütern zuverlässig und sicher umgehen zu können
  • Tendenz 4: Nachhaltige Sicherung der Überlebensfähigkeit erfolgt über eine eindeutige Positionierung des eigenen Geschäftsmodells im sich verändernden Chemielogistikmarkt - dabei sind die Erfolgsfaktoren Kapazitätsauslastung, Spezialisierung, Netzabdeckung, Macht des Einkaufes, Innovationsfähigkeit oder Mehrwertleistungen mit hoher Integration zu beachten
  • Tendenz 5: Supply Chain Management und die Vernetzung von Planungs- und Steuerungsprozessen über die gesamte Supply Chain eines Chemielogistikkunden
  • Tendenz 6: Vermeintliche Sekundärprozesse wie Finanzierung oder Management von Dienstleistungskooperationen werden zu erfolgskritischen Primärprozessen
  • Tendenz 7: Modulare IT-Komponenten ermöglichen die Umsetzung individueller, integrativer Prozessketten

Kann das Buch „Chemielogistik" beiden Seiten - der Chemiebranche wie den Logistikdienstleistern - Hilfestellung geben bei der Wahl eines geeigneten Geschäftsmodells?

Carsten Suntrop: Genau auf diese Fragestellung ist das Buch ausgelegt: Wir möchten der Chemiebranche Anregungen geben, über die geeignete Breite und Tiefe der eigenen Chemielogistik nachzudenken. Dabei sind klassische Make or Buy-Kriterien Basis für die Entscheidung. Das Unternehmen der Chemiebranche muss hierbei die Entwicklungsstufe erreicht haben, in der es die eigenen Logistikprozesse transparent nachvollziehen und die Anforderungen an den Dienstleister steuerbar definieren kann.

Die Chemielogistiker können mit dem Buch ihr eigenes Wissen über ihren Markt prüfen und, wenn möglich, Anreize aufnehmen, um die nötige Weiterentwicklung ihres eigenen Geschäftsmodells voran zu treiben. Der Chemielogistikmarkt wird in den nächsten Jahren eine erhebliche Veränderung erfahren. Die großen Komplettlogistikanbieter haben sich entschieden, in diesem Markt aktiv zu sein. Dies wird durch Preiskämpfe, neue Netzwerkstrukturen und Konsolidierungen spürbar sein. Die mittelständischen, insbesondere auch inhabergeführten Chemielogistiker, positionieren sich heute schon sehr breit und treiben die Integration in die Kundenprozesse. Die Nachhaltigkeit, mit der diese Unternehmen an Investitionsentscheider gehen, wird einige Teilnehmer im Markt überraschen und Strukturveränderungen implizieren.

Die vom Anteilseigner-Kunden abhängigen Standortlogistiker haben beste Möglichkeiten mit ihren Kunden weltweit zu wachsen - hier muss das Vertrauen in die Dienstleistungsfähigkeit des Standortlogistikers gesetzt werden. Die Kompetenzen hinsichtlich der Leistungserbringung im Gefahrgut-/-stoffbereich (Zuverlässigkeit, Verständnis für Sicherheit) sind bei den Standortlogistikern in den meisten Fällen sehr hoch ausgeprägt. Der Standortlogistikmarkt kann mit allen anderen zusammenwachsen und wird zu erfolgreichen Kooperationen mit den Komplettlogistikanbietern führen. 

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