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Pharmabranche: EU-Wettbewerbskommission startet Sektorenuntersuchung

08.11.2010 -

Mitte Januar überraschte EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes die Pharmabranche mit unangemeldeten Firmendurchsuchungen. Ihr Ziel ist es, mögliche Wettbewerbsverzerrungen - beruhend auf Kartellverstößen - zu enttarnen. Denn die EU glaubt an ein Marktkartell der Pharmaindustrie: Illegale Absprachen und ein Missbrauch marktbeherrschender Stellungen würden die Markteinführung preiswerterer Generika verhindern, meint man in Brüssel. Dr. Andrea Gruß befragte dazu Marc Besen, auf Kartellrecht spezialisierter Rechtsanwalt und Partner bei Clifford Chance in Düsseldorf.

CHEManager: Mit welchen Verdachtsmomenten begründet die EU-Wettbewerbsbehörde den Start der Sektorenuntersuchung in der Pharmabranche?

M. Besen: Gemäß Artikel 17 der EG-Verordnung 1/2003 besitzt die Europäische Kommission grundsätzlich die Befugnis, Sektorenuntersuchungen durchzuführen. Dies erfordert kein konkretes Verdachtsmoment gegen ein Unternehmen. Eine Vermutung, dass der Wettbewerb in der EU in gewissen Sektoren eingeschränkt ist, genügt hingegen, um eine Untersuchung der betreffenden Branche einzuleiten.

Worauf begründet sich diese Vermutung im aktuellen Fall?

M. Besen: Die Behörde hat sich den europäischen Pharmamarkt genauer angeschaut und festgestellt, dass die Zahl der neu zugelassenen, innovativen Arzneimittel deutlich gesunken ist. Diese Beobachtung ist ein Ausgangspunkt für die Untersuchung, welche die Frage klären soll, ob es künstliche Barrieren für den Markteintritt neuer Pharmaka gibt. In diesem Zusammenhang zitiert die Behörde auch den Astrazeneca-Fall. 2005 wurde gegen den Pharmakonzern ein Bußgeld in Höhe von 60 Mio.€ verhängt. Dem Unternehmen wurde vorgeworfen, den Patentschutz seines Magenmittels Losec künstlich verlängert zu haben, um u. a. die Herstellung von Generika zu verhindern. Diese Entscheidung ist jedoch noch nicht rechtskräftig.

Wann begeht ein Unternehmen eine Rechtswidrigkeit, wenn es sich für die Verlängerung des Patentschutzes seiner Produkte einsetzt?

M. Besen: Natürlich spricht grundsätzlich nichts dagegen, dass man versucht, den Schutz seines Eigentumsrechts zu verlängern. Ein Unternehmen darf den patentrechtlichen Rahmen nutzen. Insbesondere wenn es marktbeherrschend ist, darf es seine Patente aber nicht durch irreführende Aussagen, durch manipulierende Vorgehensweisen oder durch eine diskriminierende Praxis künstlich verlängern. Das wurde Astrazeneca in dem besagten Verfahren vorgeworfen. Die Kommission hat klargestellt, dass die Länge der Schutzzeit allein vom Gesetzgeber zu bestimmen ist.

Warum werden auch Generikahersteller in die Sektorenuntersuchung einbezogen?

M. Besen: Dies begründet sich in einer weiteren Beobachtung der Behörde. Danach gibt es angeblich immer weniger Generika am Markt bzw. ihre Markteinführung wird verzögert. Aufgrund dieser Tatsache will die Kommission nun auch Generikahersteller untersuchen. Denn diese könnten möglicherweise mit den Herstellern von Originalpräparaten einen so genannten Nichtangriffs-Pakt - z.B. Einigungen nach Patentstreitigkeiten - schließen. Dies wäre eine Absprache zwischen zwei Wettbewerbern und somit sehr wahrscheinlich ein Verstoß gegen das Kartellrecht.

Verschärft die Kommission durch ihre Vorgehensweise nicht genau das Problem, das Ausgangspunkt ihrer Untersuchung war, nämlich dass Unternehmen befürchten, Innovation lohne sich nicht mehr und somit noch weniger innovative Medikamente auf den Markt kommen?

M. Besen: In der Tat hat die Kommission einen Spagat zu meistern. Zum einen brauchen wir den Innovationsanreiz, auf der anderen Seite benötigen wir natürlich ein funktionierendes Gesundheitssystem, bei dem der Patient nicht am Ende des Tages einen Mehrpreis zahlt, der auf Kartellrechtsverstößen beruht.

Mit welchen weiteren Schritten muss die Branche rechnen?

M. Besen: Die Kommission wird nunmehr die im Rahmen ihrer Firmendurchsuchungen gewonnenen Erkenntnisse auswerten und anhand von Fragebogenaktionen testen. Sie wird sich in den kommenden Monaten ein Bild über die Branche machen und dann voraussichtlich im dritten Quartal 2008 einen Zwischenbericht über ihre Ergebnisse veröffentlichen und Gelegenheit zur Stellungnahme geben. Der finale Bericht soll im ersten Quartal 2009 erscheinen. Ähnliche Berichte gab es bereits für den Energiesektor oder im Finanzdienstleistungssektor Anfang 2007. Diese Reports sind keine Beschlüsse, keine Entscheidungen. Sie sind lediglich eine - wenn auch detaillierte - kartellrechtliche Momentaufnahme einer Branche.

Das heißt den untersuchten Unternehmen drohen im Falle eines Regelverstoßes keine Bußgelder?

M. Besen: Nicht unmittelbar durch den Bericht. Aber alles, was im Rahmen dieser Sektorenuntersuchung an konkre-ten Anhaltspunkten gefunden wird, kann Gegenstand eines separaten Verfahrens werden. Wird bei diesem Verfahren festgestellt, dass eine Absprache zwischen Wettbewerbern stattgefunden hat oder eine marktbeherrschende Stellung missbraucht wurde, kann dies mit empfindlichen Bußgeldern in Höhe von 10% des Konzernumsatzes geahndet werden. Insofern ist die Untersuchung eine Vorstufe, die es nicht zu unterschätzen gilt.

Wie sollten die betroffenen Unternehmen sich verhalten?

M. Besen:
Sie sollten nicht in Panik verfallen, aber die Untersuchung extrem ernst nehmen. Ein Unternehmen muss, wenn es jetzt untersucht wird, umfangreiche Fragebögen beantworten. Es hat dabei die Pflicht, erstens mitzuwirken und zweitens keine falschen irreführenden Tatsachen anzugeben. Dies wäre an sich wieder ein bußgeldträchtiger Tatbestand. Aber nochmals, und das ist das Entscheidende und daraus resultiert auch das erhebliche Unternehmensrisiko: Wenn im Rahmen dieser Sektorenuntersuchung konkrete Anhaltspunkte gefunden werden, wird die Kommission separate Verfahren eröffnen, was sie in anderen Sektoren stets gemacht hat.

Und möglicherweise wird bei der Untersuchung etwas entdeckt, was vom Unternehmen bislang gar nicht als Kartellverstoß wahrgenommen wurde, z.B. ungeschickte Unternehmenskommunikation oder irgendwelche Verträge, die nicht durch die Rechtsabteilung gelaufen sind.

Die Sektorenuntersuchung soll den Wettbewerb in der Pharmabranche stärken. Glauben Sie, dass dieses Ziel erreicht werden kann?

M. Besen: Frau Kroes hatte ein klares Bekenntnis abgegeben, den Innovationsanreiz und somit die forschende Pharmaindustrie zu stärken. Ihr Ziel scheint es daher nicht zu sein, die europäische Pharmaindustrie durch das Kartellrecht zu lähmen. Daher hoffe ich stark, dass die Kommission mit Augenmaß vorgehen wird. Aber es bleibt ein schwieriges Unterfangen. Auf der einen Seite soll der Verbraucher, der Patient, nicht am hohen Preis leiden und auf der anderen Seite soll nicht die Qualität der Medikamentenversorgung beeinträchtigt werden. Das ist ein Spannungsverhältnis zwischen Kartellrecht und geistigem Eigentumsschutzrecht, bei dem es gilt, negative Auswirkungen auf die Innovationsfreudigkeit der Pharmaindustrie zu verhindern.

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