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Mit offenen Karten spielen: Interview mit Dr. Kai Beckmann, Merck KGaA

Worauf es laut Merck-CIO Kai Beckmann in Integrationsprojekten ankommt

05.11.2009 -

Einer aktuellen Studie zufolge geht jeder dritte IT-Veränderungsprozess als Totalflop in die Unternehmensgeschichte ein. Damit sind natürlich nicht nur Integrationsprojekte nach einer Übernahme gemeint. Diese stellen aber für alle Beteiligten einen besonderen Veränderungsprozess dar - weit über die technischen Belange hinaus. Ende 2006 hat die Merck KGaA das Schweizer Biotechnologie-Unternehmen Serono übernommen und stand damit vor einer solchen Herausforderung. Die CHEManager-Redaktion hat bei dem CIO von Merck in Darmstadt, Dr. Kai Beckmann, nachgefragt: Ist die IT-Integration von Serono in den Merck-Konzern heute bereits abgeschlossen? Und: Wie ist es bisher gelaufen: Top oder Flop?

CHEManager: Herr Beckmann, viele Unternehmen haben einer aktuellen Studie zufolge große Probleme bei der Durchführung von Veränderungsprozessen. Wie läuft der Veränderungsprozess bei Merck, konkret die Integration von Serono in den Merck-Konzern?

Dr. K. Beckmann: Wir können schon mit einem gewissen Stolz sagen, dass die Integration von Serono von Anfang an sehr gut und erfolgreich verlaufen ist. Und das auch noch sehr schnell.

Was haben Sie denn anders gemacht?

Dr. K. Beckmann: Ich denke, einer unserer Erfolgsfaktoren war, dass wir die Situation, die durch die notwendige Integration von Serono entstanden war, als Gelegenheit begriffen haben für weitere Denkanstöße. Kurz nach dem Zeitpunkt, als die IT-Integration von Serono auf die Agenda kam, wurde das Generika-Geschäft von Merck verkauft. Insofern gab es gleichzeitig zwei tief greifende Veränderungen zu verarbeiten. Wir haben die Serono-Integration zum Anlass genommen, die gesamte Merck-IT neu aufzustellen, beispielsweise auch globaler als es zuvor der Fall war.

Sie sprechen in der Vergangenheit. Heißt das, die Integration ist vollständig abgeschlossen?

Dr. K. Beckmann: Zunächst hat eine Integration ja zwei Komponenten. Eine technische und eine organisatorische. Beide sind jetzt überstanden, und das haben wir in einer Rekordzeit von weniger als zwei Jahren geschafft. Die technische Komplexität war in dem Projekt nicht eben gering, z. B. mussten die unterschiedlichen IT-Systeme integriert werden. Organisatorisch gesehen war die Ausgangssituation die folgende: In jedem Land, in dem sowohl Merck als auch Serono vertreten waren, gab es organisatorische Dubletten, quasi zwei IT-Organisationen, die nebeneinander standen. Die doppelte Organisation sollte natürlich abgebaut und Synergieeffekte genutzt werden.

Synergien erhofft sich jedes übernehmende Unternehmen. Synergien heißt konkret vor allem Kosteneinsparungen. Häufig manifestieren sich diese auch in der Einsparung von Personalkosten, das heißt Stellenstreichungen. Wie war das im Fall Serono?


Dr. K. Beckmann:
Die Synergien, die eine Übernahme bringt, sind nicht direkt am Tag 1 spürbar. Inzwischen können wir sagen, dass wir im Bereich IT-Infrastruktur betriebliche Einsparungen von 20% realisieren konnten. Was die Einsparungen im Bereich Personalkosten angeht, so liegen Sie nicht ganz richtig. Die Merck-IT hat heute mehr Mitarbeiter als zum 1. Januar 2007. Die Ursache liegt in erster Linie darin, dass wir mit der Integration von Serono eben auch die gesamte IT-Organisation neu strukturiert und sozusagen geschäftsnaher gemacht haben: So gibt es heute neben der IT-Infrastruktur einen Pharma-IT-, einen Chemie-IT- und einen weiteren Bereich, der sich um Corporate Applications kümmert, wie sie beispielsweise für die Bereiche HR oder das Controlling gebraucht werden. Natürlich haben uns Mitarbeiter in einigen Teilorganisationen verlassen, dafür mussten wir andere Bereichen wiederum stärker ausbauen. Soweit es ging, haben wir natürlich versucht, die Mitarbeiter in diesen Entwicklungsprozess einzubeziehen und viele Mitarbeiter haben nach wie vor einen Job bei uns, aber veränderte Aufgaben oder einen anderen Aufgabenzuschnitt. Die IT bei Serono hatte z.B. einen recht hohen Outsourcing-Grad und bestand nur zu einem kleineren Teil aus internen Mitarbeitern. Diese externen Leistungen haben wir, wo wirtschaftlich sinnvoll, entsprechend der neu erarbeiteten Sourcing-Strategie zurückgebaut. Das entsprach auch unserem grundsätzlichen Ziel, die beiden Unternehmen vollständig zu integrieren anstatt zwei Parallelwelten zu erhalten.

Soweit klingt das ja sehr positiv. Gibt es trotzdem etwas, das Sie beim nächsten Projekt ändern würden?

Dr. K. Beckmann: Ich würde den Aspekt Change Management als Teil der organisatorischen Komponente noch stärker in den Fokus rücken. In den sogenannten CIO-Roundtables, zu denen ich Führungskräfte des IT-Managements aus allen Ebenen regelmäßig einlade, habe ich den Eindruck gewonnen, dass sich viele Mitarbeiter vor einer ungewissen Zukunft gesehen haben und unterschwellige Ängste da waren. Und das, obwohl wir versucht haben, transparent zu sein. Wir waren uns schon bewusst, dass Kommunikation das A+O ist.

Wie würde Ihre Empfehlung lauten für andere Unternehmen in der Situation?

Dr. K. Beckmann: Ein entscheidender Faktor bei einer Integration ist die Zeit, die sie in Anspruch nimmt. Es sollte konsequent und zügig über die Bühne gehen, sonst verliert man schnell die Nähe zum Geschäft. Und die Aufgabe der IT ist ja letztlich, mit intelligenten Lösungen zum Erfolg des Unternehmens beizutragen und nicht, sich mit sich selbst zu beschäftigen. Ebenfalls eminent wichtig: Klar sagen, was Sache ist und die Karten offen auf den Tisch legen. Sie tun niemand einen Gefallen, wenn man Stück für Stück mit den Plänen herausrückt. Wenn Sie erreichen wollen, dass die Mitarbeiter mitziehen und sich weiterhin engagieren, muss offen gesagt werden, was auf sie zukommt. Das Ziel muss sein, Reibungswärme zu vermeiden und Unsicherheit abzubauen. Lieber vorher das gesamte schmerzhafte Bild zeigen als die Veränderungen vorab verharmlosen. Es muss auch klar kommuniziert werden, dass die Veränderungen notwendig sind. Neben den organisatorischen und technischen Veränderungen ist es auch wichtig, sich an internationalen Best-Practice-Standards zu messen. In der IT werden wir ja nicht an Umsätzen und Gewinnen gemessen, wie das im Geschäft der Fall ist. Entsprechend haben wir die neue Organisation auf drei ITIL-Standards zertifizieren lassen, genauer nach ISO 20 000 für das Service-Management, ISO 27 001 für das Security-Management und 9001 für das Qualitätsmanagement. Im Dezember 2008 haben wir die Audits erfolgreich bestanden. Vor zwei Jahren haben wir die Standardprozesse auf der Basis von ITIL als nicht verhandelbare Masse festgesetzt. Was dabei von der Serono- und was von der Merck-Struktur übernommen wurde, hat man im Einzelfall abgewogen. Ziel war eine pragmatische Entscheidung, nicht ein Durchsetzen des ursprünglichen Merck-Systems.

Ist die Einrichtung einer SOA, also einer serviceorientierten Architektur, Teil des Merck-Systems?

Dr. K. Beckmann: Im Rahmen des Merck-Projekts ‚Gauss‘ wird derzeit bei Merck eine Integrationsarchitektur eingerichtet, die, wenn Sie es so wollen, auf SOA-Konzepten basiert. Der Impuls, eine IT-Architektur einzuführen, die es erlaubt, über Systemgrenzen hinweg zu agieren, ist richtig und wichtig. Das ist aber eine logische Entwicklung und es geht dabei nicht darum, einem Trend zu folgen und sich einen schicken Begriff auf die Fahnen zu schreiben.

Das Unternehmen ist immer noch zu über 70% im Besitz der Familie Merck. Ist das eine besondere Situation?

Dr. K. Beckmann: Durch die Besitzverhältnisse ist Merck nach wie vor ein Familienunternehmen - und das spürt man schon. Ich selbst bin seit fast 20 Jahren bei Merck. Die Kontinuität, die wir als Familienunternehmen vermitteln, hilft, Ängste abzubauen. Gerade in wirtschaftlich schwierigen Zeiten wie heute.

Gibt es Branchenspezifika bei Übernahmen im Pharma-Bereich?

Dr. K. Beckmann: Die IT-Landschaft im Pharma-Bereich ist grundsätzlich komplexer als in der Chemie, alleine schon was die Zulassungen anbetrifft. Die Prozesse im Bereich Pharma sind hochgradig reguliert, was zusätzlich die Komplexität enorm erhöht. Darüber hinaus sind Veränderungen an validierten IT-Systemen aufwändiger und benötigen mehr Zeit.

Die IT ist ja meistens einer der Bereiche, in denen zuerst der Rotstift angesetzt wird. Spüren Sie die Auswirkungen der Wirtschaftskrise in Ihrem Bereich?

Dr. K. Beckmann: Wir spüren, dass von uns Flexibilität erwartet wird. Wenn der Rotstift angesetzt wird, bedeutet dies die Anpassung an wirtschaftliche Notwendigkeiten. Ein Festhalten an der Strategie muss trotzdem möglich sein, taktische Maßnahmen können geschoben werden. So lange keine Katastrophen eintreten, die eine Änderung der Langfristplanung nötig machen, beispielsweise was die weitere Harmonisierung der ERP-Landschaft anbelangt, halten sich die Auswirkungen auf die IT in sinnvollen Grenzen.

In wenigen Tagen beginnt die Cebit. Haben Sie als CIO eines Pharma- und Chemieunternehmens Erwartungen an die weltgrößte Computermesse?

Dr. K. Beckmann: Insgesamt glaube ich, dass Messen für uns als Konzern eine geringere Bedeutung haben als für den Mittelstand, schließlich pflegen wir einen kontinuierlichen und dadurch sehr engen Kontakt zu unseren Lieferanten. Aber da die Cebit bei IT-Firmen zum Anlass genommen wird, neue Aussagen zu machen und sich festzulegen, kann man ja schon gespannt sein, was in diesem Jahr die Highlights sein werden.

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