Strategie & Management

Wie gelingt der Doppelsprung?

Wie Chemieunternehmen mit künstlicher Intelligenz die disruptive Transformation meistern

21.01.2025 - Die deutsche Chemieindustrie der Zukunft dürfte mit der Chemiebranche der vergangenen Jahre nur wenig gemeinsam haben. KI und der demografische Wandel sind zwei wesentliche Katalysatoren der Veränderung.

Ukrainekrieg, hohe Energiekosten, Klimawandel und demografischer Wandel – anders als früher hat die Chemieindustrie mit multiplen Krisen zu tun, die sich zudem gegenseitig verstärken. Ein weiterer Katalysator für Veränderung ist die künstliche Intelligenz (KI). Die deutsche Chemieindustrie der Zukunft dürfte mit der Chemiebranche der vergangenen Jahre nur wenig gemeinsam haben. Doch wie gelingt angesichts dieser Herausforderung eine erfolgreiche Transformation? Andrea Gruß sprach darüber mit Juan Rigall, Geschäftsführer bei Santiago Advisors, und Mitbegründer des CHEMonitor-Trendbarometers (s. Seite 13).

CHEManager: Herr Rigall, Sie begleiten die Chemiebranche seit vielen Jahren als Berater. Welche Entwicklungen beobachten Sie aktuell?

J. Rigall: Die deutsche Chemieindustrie steht derzeit zeitgleich vor mehreren großen Herausforderungen. Dazu gehören steigende Energiekosten, der Druck zur Defossilisierung, bürokratische Hürden und nicht zuletzt der demografische Wandel, der unter anderem zu einem anhaltenden Fachkräftemangel führt. Um die Wettbewerbsfähigkeit zu sichern, sind dringende Maßnahmen erforderlich. Viele Unternehmen reagieren auf den erhöhten Transformationsdruck mit Kostenreduktion und einer Konzentration auf ihr Kerngeschäft. Teilgeschäfte werden verkauft, Anlagen stillgelegt und Verwaltungsstrukturen vereinfacht. Investitionen werden vor allem außerhalb Deutschlands getätigt, in Regionen mit hohem Zukunftspotenzial für die Unternehmen. 

„Die volle Nutzung der Potenziale von KI gelingt nur, wenn wir den notwendigen Veränderungsprozess jetzt einleiten.“

Werden diese Maßnahmen ausreichen, um die multiplen Krisen zu überwinden? 

J. Rigall: Die Industrie handelt. Sie steht nicht still. Gleichzeitig verlieren die Unternehmen aufgrund von Re­strukturierungen und Altersstruktur nahezu täglich an Know-how. Die Fachkräftesicherung und die Gestaltung der zukünftigen Arbeitswelt müssen daher auf der Agenda des Top-­Managements genauso verbleiben wie Kostenreduktion und Prozessoptimierungen. Denn spätestens, wenn die zukünftigen Kerngeschäftsfelder neu aufgestellt und die Anlagenstrukturen wieder voll wettbewerbsfähig sind, braucht es dort hoch qualifizierte Mitarbeiter. Während die demografische Entwicklung seit langem vorhersehbar war, wurden viele Unternehmen von der Disruptionskraft neuester Technologieentwicklungen, insbesondere im Bereich der künstlichen Intelligenz, überrascht. Die Digitalisierung hat durch KI ein neues Tempo erreicht und vor allem neue Verbesserungspotenziale erschlossen. Unternehmen müssen jetzt auf allen diesen Felder gleichzeitig handeln, um in Zukunft wettbewerbsfähig zu bleiben. Hier besteht aus meiner Sicht dringender Handlungsbedarf. 

Das klingt nach einer wahren Mammutauf­gabe …

J. Rigall: In der Tat. Der Wandel und die damit verbundenen Anforderungen sind zu komplex, als dass sie noch isoliert betrachtet werden können. Es geht nicht mehr darum, auf klassische Weise Prozesse zu verbessern oder mithilfe von Software digitaler zu gestalten, sondern sie unter der Prämisse von weniger Personal, schrumpfendem Know-how und stärkerem Technologieeinsatz neu zu denken. 
Eine erfolgreiche Transformation braucht einen übergreifenden Blick und ein entsprechend ausgerichtetes Handeln. Anstelle der üblichen, langwierigen und inkrementellen Optimierungen braucht es ein auf die Zukunft gerichtetes Neudenken der gesamten Organisation. Die Frage, wie man künftig schneller wachsen kann mit proportional weniger Personal, muss neu beantwortet werden. Und moderne Technologien wie KI und Automatisierung sind ein wesentlicher Teil der Antwort.
Unternehmen werden diese disruptive Veränderung nur durch einen „Doppelsprung“ meistern. Die Doppelsprung-Transformation umfasst zwei wesentliche Aspekte: Erstens den Aufbau von Kompetenzen, um methodisch, fachlich und durch die Art des Zusammenarbeitens das Potenzial von Technologien wie künstlicher Intelligenz und Automatisierung nutzen zu können, und zweitens den Einsatz dieser Technologien selbst, um den Verlust an menschlichem Know-how zu kompensieren und die erheblichen Effizienzsprünge auch tatsächlich im Betriebsalltag zu realisieren. Diese beiden Elemente sind entscheidend, um First-Mover-Vorteile zu schaffen und die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen langfristig zu sichern.

„Um dem Know-how-Verlust entgegenzuwirken, sollten Unternehmen proaktiv neue Qualifikationsprofile entwickeln.“


Für den Doppelsprung braucht es Ressourcen. Die deutsche Chemie­industrie hat bereits hunderte von Millionen Euro in Digitalisierungsprojekte gesteckt, ohne dass dadurch ein technologischer Vorsprung erreicht wurde. Worauf führen Sie das zurück?

J. Rigall: Es ist ja nicht so, dass keine Fortschritte erzielt wurden. Es ist eher so, dass diese Investitionen auch Grundlagen geschaffen haben für einen effizienten Einsatz von KI. Man denke nur an die Strukturierung und Verfügbarkeit von Daten als Grundlage von lernenden und prognostizierenden Algorithmen. Aber die durch KI enorm gestiegene Dynamik der letzten Jahre hat viele Unternehmen – bei allem lobenswerten Enthusiasmus in Anbetracht der neuen Möglichkeiten – eben auch überrascht. Dadurch wurden zum einen für viel Geld KI-Talente von außen rekrutiert. Zum anderen wurden gerade bei KI-Applikationen häufig zu viele und zu einfache Anwendungsfälle gleichzeitig in Angriff genommen. 80 % der Organisationen probieren zu viel aus. Das wirkt am Anfang motivierend. Die Motivation sinkt aber schnell, wenn große Durchbrüche ausbleiben.
Ein Beispiel dafür ist der Aufbau von Cloud-Infrastrukturen. Häufig hat man diese mit Bottom-up-Anwendungsfällen kombiniert, um Mitarbeiter durch tolle Dashboards über ihre diversen IT-Systeme und neue Bedienmöglichkeiten zu begeistern. An sich eine gute Idee. Aber die Millionen Euro an Einsparungen, die sich der Vorstand erhofft hatte, blieben dadurch in den meisten Fällen aber aus – und dann macht sich schnell Ernüchterung und Unverständnis breit.
Viele KI-Projekte scheitern auch, weil die Mitarbeiter nicht ausreichend in den Veränderungsprozess eingebunden sind. Es ist wichtig, transparent zu kommunizieren, Ängste – zum Beispiel vor dem Verlust des Arbeitsplatzes – abzubauen und Vertrauen zu schaffen. Erste entstehende KI-Pilotlösungen werden ansonsten schnell abgelehnt oder im Alltag einfach nicht angewendet. Daher sind Qualifizierungsprogramme und kontinuierliche Unterstützung genauso notwendig, um die neuen technologischen Möglichkeiten auch nutzen zu können.
Gerade bei der künstlichen Intelligenz müssen Unternehmen Stolpersteine antizipieren und die richtigen Maßnahmen rechtzeitig ergreifen, damit auch bereits getätigte Investitionen noch Früchte tragen. Blindes Explorieren oder das Hoffen auf einen Zufallstreffer durch maximal viele Use Cases sind auf Dauer schlichtweg zu teuer und zu langwierig.

Wo sehen Sie die größten Chancen der KI? Wie lässt sich das Potenzial gewinnbringend heben?

J. Rigall: Sie können mit künstlicher Intelligenz hervorragend Abläufe optimieren, die zum Beispiel mit Text-, Sprach- und Bildverarbeitung zu tun haben. Auch beim Forecasting oder anderen Prozessen, bei denen es an Daten mangelt, kann die KI durch millionenfache Simulation und Trial and Error im digitalen Raum großen Nutzen stiften und zu besseren Entscheidungen führen. In der Öffentlichkeit wird viel über generative KI diskutiert. Für die Prozessindustrie ist das Potenzial von Machine Learning und Reinforcement Learning aber häufig der größere Game Changer.
Um das spezifische Potenzial von KI zu heben, müssen Unternehmen unbedingt Know-how zur künstlichen Intelligenz intern aufbauen. Ideal ist zum Beispiel ein Chemiker mit KI-Affinität. Denn nur mit Personen, die auch die internen Abläufe und die stoffliche Wertschöpfung verstehen, lässt sich die notwendige Beurteilungs- und Beratungskompetenz aufbauen, um die Technologie im eigenen Unternehmen gewinnbringend einzusetzen. 
Darüber hinaus ist es wichtig, einen ganzheitlichen Ansatz zu verfolgen. Das bedeutet, nicht nur isolierte technologische Verbesserungen anzustreben, sondern auch die gesamte Organisation und ihre Fähigkeiten neu zu denken. Dazu gehört die Aufbauorganisation genauso wie die einzelnen Abläufe darin, die IT-Systeme genauso wie die Daten darin, bekannte Qualifikationen genauso wie völlig neue Fähigkeiten. Nur wer das große Ganze im Blick hat, kann die Vorteile von KI wirklich nutzen.

Wie wirkt sich die Digitalisierung und künstliche Intelligenz auf die Arbeitswelt aus? 

J. Rigall: Die veränderte Arbeitsteilung zwischen Mensch und Maschine ist bereits heute zu spüren: Schneller Support, schnelle Fragenbeantwortung, schnelle Auswertung, schnelle Simulation – die Maschine wird zum persönlichen Sekretär mit Multi-­Fähigkeiten. Neue Automatisierungs­technologien, insbesondere ermöglicht durch künstliche Intelligenz, können fehlendes Know-how ersetzen, neues Wissen schaffen und Effizienzen heben. Damit könnten sie einen Wachstumsschub auslösen und die Folgen des demografischen Wandels abfedern. Doch der Veränderungsprozess muss vorausschauend und sofort angegangen werden. Damit wir in drei bis vier Jahren über die notwendigen ausgebildeten Ressourcen verfügen, müssen bereits heute neue Qualifikations-, Rollen- und Jobprofile aufgesetzt und pilotiert werden.

Können Sie uns hier ein konkretes Beispiel nennen?

J. Rigall: Die Transformation wird zum Beispiel neue Rollen im Supply Chain Management erfordern. Hier werden Simulations-, Optimierungs- und Vorhersagefähigkeiten immer wichtiger, um die zunehmend komplexeren Zusammenhänge managen zu können. Tradierte Rollen wie der Demand Planner oder der Produktionsplaner werden aufgrund der Automatisierung weitgehend entfallen. Stattdessen entstehen neue Profile, wie zum Beispiel der Supply Chain Operations Controller, der die gesamte automatisierte Supply Chain überwacht. Auch der Supply Chain Simulator wird wichtig sein, um die Folgen von Disruptionen bei Lieferkettenproblemen oder Produktionsausfällen zu simulieren. Diese und andere neue Profile müssen frühzeitig entwickelt und in die Organisation integriert werden. Man pilotiert bereits heute Ansätze wie den sogenannten Control Tower, in dem interdisziplinär ausgebildete Kollegen globale Lieferketten von Anfang bis Ende steuern und überwachen – von einem Ort aus und unter massivem Technologieeinsatz.

Welche weiteren Tipps haben Sie für Unternehmen, damit der „Doppelsprung“ gelingt? 

J. Rigall: Sofort anfangen! Ich habe es eben schon angesprochen, die volle Nutzung der Potenziale von KI gelingt nur, wenn wir den notwendigen Veränderungsprozess jetzt einleiten. Denn der Wettbewerb, insbesondere aus Asien und den USA, schläft nicht. Und der Veränderungsprozess benötigt Zeit. Am Ende geht es um Menschen, deren Arbeit mit neuen Fähigkeiten und in einem automatisierten Umfeld neugestaltet werden muss. Unternehmen sollten nicht warten, bis der Wettbewerb sie rechts und links gleichzeitig überholt, sondern frühzeitig den unternehmensindividuellen Nutzen von künstlicher Intelligenz erkennen und dadurch gezielt eigene Beurteilungskompetenz aufbauen. Zudem sollten sie sich nicht in einer Vielzahl weniger relevanten Pilotprojekten verlieren, sondern sich auf strategisch entscheidende Anwendungsfelder konzentrieren. Um dem Know-how-Verlust entgegenzuwirken, sollten Unternehmen proaktiv neue Qualifikationsprofile entwickeln und entsprechende Trainings- und Rekrutierungsprogramme frühzeitig aufsetzen. Die Ressourcen von morgen müssen heute ausgebildet werden. Genauso ist es empfehlenswert, sich mit anderen Unternehmen zu vernetzen, um von deren Erfahrungen zu lernen. Ein innovatives und offenes Ökosystem, das Universitäten, Lösungsanbieter, Start-ups und Talente gleichermaßen einbindet, ist wichtig. Nur so können sie die Herausforderungen der Zukunft meistern und ihre Wettbewerbsfähigkeit sichern.

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Zur Person

Juan Rigall ist Geschäftsführer und Mitgründer der Strategie- und Organisationsberatung Santiago Advisors. Seit 1996 ist er als Top-Management-Berater tätig und zählt zahlreiche Konzerne und Marktführer im Mittelstand, v. a. in den Life Sciences und Hightech-Industrien, zu seinen Kunden. Im Jahr 2007 initiierte gemeinsam mit dem CHEManager-Team das Trendbarometer CHEMonitor. Rigall studierte Wirtschaftsingenieurwesen mit Fachrichtung Maschinenbau an der TU Darmstadt und promovierte dort in den Finanzwissenschaften.

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