Wie automatisiert muss ein Chemikalien- oder Pharmalager sein?
Bei der Vielfalt an Automatisierungslösungen ist eine kundenspezifische Betrachtung unerlässlich
In der heutigen Zeit kommt kaum noch ein Lager ohne automatisierte Prozesse aus. Auch vollautomatisierte Lager sind keine Seltenheit. Faktoren, die bei der Entscheidung über den Automatisierungsgrad eine Rolle spielen, sind u.a. Kosten- und Zeitersparnis, Erhöhung der Sicherheit, Senkung der Fehlerquote, Personaleinsparungen und letztendlich die Verbesserung der Kundenzufriedenheit. Aber heißt das, dass alle Lagerhäuser künftig mit Robotern, sprachgeführten Logistikprozessen, Paletten-Shuttle-Systemen etc. ausgestattet sein müssen? Diese und andere Fragestellungen wurden im CHEManager-Interview mit Mark Vogt, Director Sales & Marketing des Körber-Geschäftsfelds Supply Chain, behandelt. Die Fragen stellte Birgit Megges.
CHEManager: Herr Vogt, die Automatisierung eines Lagers hat viele Facetten. Welche Ziele stehen für Chemie- und Pharmaunternehmen im Vordergrund, wenn Sie sich für automatisierte Lösungen entscheiden?
Mark Vogt: Der Bedarf an automatisierten Logistiklösungen hat in den letzten Jahren enorm zugenommen. Das trifft nahezu auf alle Branchen zu, besonders auch auf die Chemie- und Pharmabranche. Dabei gibt es viele verschiedene Motivationsgründe: steigende Auftragsvolumina und steigende Durchsatzzahlen, mehr Effizienz und Wirtschaftlichkeit, Steigerung der Prozesssicherheit und Senkung von Fehlerquoten, Erfüllung von gesetzlichen Forderungen, wie etwa Rückverfolgbarkeit und Validierung, sowie die Problematik der fehlenden Fachkräfte. Gerade der letzte Aspekt hat in den letzten zwei Jahren – geprägt durch die Pandemie – zu einer erhöhten Nachfrage von Automatisierungslösungen geführt, um eine gewisse Unabhängigkeit vom Fachkräftemangel zu erzielen. Wir realisieren automatisierte Projekte in immer weiteren Regionen. Zum Beispiel errichten wir ganz im Osten Rumäniens, in der Nähe des Schwarzen Meers ein 40 m hohes vollautomatisiertes Hochregallager. Aber auch jenseits von Europa steigt die Nachfrage.
Welcher Grad der Automatisierung wird derzeit vorwiegend gewünscht? Wer profitiert am meisten von einer Teil- und wer von einer Vollautomatisierung?
M. Vogt: Gewünscht wird oft eine möglichst automatisierte Logistiklösung. Aber ob dies auch die Richtige ist, gilt es abzuwägen. Die richtige Dosis für den Automatisierungsgrad, also ob es eine durchgängige End-to-End-Automatisierung über alle Prozesse oder nur eine Automatisierung von Teilprozessen sein soll, hängt von vielen Parametern ab. Ein Pauschalrezept gibt es nicht. Es bedarf immer einer kundenspezifischen Betrachtung und einer Gegenüberstellung von verschiedenen bedarfsgerechten Logistiklösungen, um entscheiden zu können, was die beste Lösung für einen Kunden und seine Prozesse ist. Dabei sollte allerdings immer ein ganzheitliches Konzept betrachtet werden. Selbst wenn sich heute eine skalierbare, ganzheitliche Automatisierung nicht in allen Teilbereichen lohnt, kann ein Stufenkonzept mit einer Realisierung in Etappen über Jahre hinweg eine zukunftssichere Lösung darstellen.
Je nach gewünschtem Automatisierungsgrad kann das erforderliche Investment für Unternehmen sehr hoch sein. Für wen lohnt sich der finanzielle Aufwand?
M. Vogt: Letztendlich ist es meist die Wirtschaftlichkeit, die vorgibt, inwieweit die Logistikprozesse automatisiert werden sollen. Dabei müssen die Investitionskosten sowie die laufenden Kosten in Betracht gezogen werden. Die Frage lautet daher, wie ist die Erwartungshaltung bezüglich der Amortisationszeit für das zunächst höhere Investment? Nach wie vielen Jahren hat sich eine Automatisierung bezahlt gemacht? Je größer das Einsparungspotenzial an Personal und laufenden Kosten ist, je umsatzstärker die Durchsatzleistungen, je effizienter die automatisierte gegenüber der manuellen Lösung ist, desto kürzer der Return on Invest, kurz ROI, desto rentabler der Einsatz von Automatisierungslösungen. Es gibt Anwendungsfälle, bei denen der ROI bei unter zwei Jahren liegt. Dabei sind es nicht nur die großen, umsatzstarken Konzernunternehmen, die in Automatisierung investieren, sondern aktuell gerade kleinere und mittelständisch geprägte Unternehmungen. Oft ist es eben der Mittelstand, der Schwierigkeiten hat, neue Mitarbeiter zu gewinnen. Und es muss nicht immer die Logistiklösung für 10.000 Palettenstellplätze und mehr sein, sondern es gibt auch für geringere Anforderungen automatische Logistiklösungen, die erschwinglich und hoch effizient sind.
„Es bedarf immer einer kundenspezifischen Betrachtung und einer Gegenüberstellung von verschiedenen bedarfsgerechten Logistiklösungen.“
Wie aufwändig ist es für Unternehmen, bei weiterlaufendem Betrieb ihr Lager zu erneuern?
M. Vogt: Kann die Logistikanlage nicht für einen längeren Zeitraum ausgeschaltet werden, versuchen wir, den Einfluss auf das Tagesgeschäft des Kunden gering zu halten. Das braucht jedoch maßgeschneiderte Konzepte und gegebenenfalls Übergangslösungen für eine erfolgreiche und gewinnbringende Projektrealisierung. Soll der Betrieb weiterlaufen, sind intensive Vor-Ort-Ist-Aufnahmen, Analysen der Auftragsdaten sowie eine fundierte Einbindung der relevanten Mitarbeiter zur Kreation des richtigen Lösungs- und des adaptierten Umsetzungskonzepts erforderlich. Bei Erweiterungs- und Modernisierungsprojekten kommt es also nicht nur auf die Kosten, sondern auch auf das Umsetzungskonzept an. Dementsprechend lohnt eine Betrachtung und Abwägung, ob eine bestehende Logistikanlage an die heutigen und zukünftigen Anforderungen angepasst und ertüchtigt werden kann oder ob eine Investition in eine Neuanlage der zielführendere Ansatz ist.
Welche Rolle spielt das Thema Nachhaltigkeit bei der modernen Lagerhaltung und welche technischen Lösungen bieten sich diesbezüglich an?
M. Vogt: Das Thema Nachhaltigkeit und die Einsparung von Ressourcen nimmt verstärkt an Bedeutung zu. Dies betrifft zum einen die eingesetzten Technologien wie energiesparende Antriebstechniken, als auch intelligente Software- und Materialflusssteuerungen, die zum Beispiel Wege optimieren, sowie Anwendungen, die im Zusammenspiel mit der Gebäude- und Haustechnik die Verschwendung von Ressourcen minimieren. Die Berechnung des zukünftigen Energieverbrauchs der automatisierten Logistikanlage dient nicht nur als Basis für die Bestimmung der Größe des Transformators und des bereitzustellenden Energiebedarfs sondern auch als Entscheidungskriterium für die auszuwählende Automatisierungslösung.
Ein weiterer Schlüssel zu höherer Energieeffizienz und einem kleineren CO2-Footprint betrifft die Größe eines Lagers. Gegenüber manuellen Logistikanlagen lässt sich mit automatisierten eine deutlich höhere Lagerdichte erreichen.
Verkehrsflächen können reduziert und Regalkapazitäten besser ausgenutzt werden. Dadurch verkleinert sich zum Beispiel der zu klimatisierende Raum. Hinzu kommt, dass manuelle Lager nicht höher als 15 m gebaut werden können, während automatisierten nahezu keine Grenzen bei der Höhe gesetzt sind. Maschinen agieren auch in über 40 m Höhe noch ohne Unfallgefahr. Kurz gesagt: In die Breite wachsen ist teuer und ökologisch problematisch, da immer weitere Flächen versiegelt werden. Wieso also nicht mittels Automatisierung eine maximale Flächen- und Energieeffizienz erreichen? Ein weiteres Argument für eine automatische Lösung im Lager kann der Brandschutz sein. Wenn zum Beispiel das Lager aufgrund der Lagerung von Gefahrstoffen und Aerosolen zum Brandschutz mit einer Inertisierungsanlage zur Reduzierung des Sauerstoffgehalts ausgestattet wird, bieten Maschinen einen Vorteil gegenüber Menschen, für die das Arbeiten in einer sauerstoffreduzierten Atmosphäre problematisch ist.
Stehen gerade jetzt Energieeinsparungen bei der Entscheidungsfindung ganz oben in der Argumentationskette für Erneuerungsmaßnahmen?
M. Vogt: Absolut! Es können deutliche energetische Einsparpotenziale mittels Automatisierung erzielt werden. Beispielsweise kann die Energie, die beim Bremsvorgang von automatischen Regalbediengeräten erzeugt wird, aufgefangen werden. Per Energierückspeisung ist es möglich, diese „Abfallenergie“ zurück in das Hausnetz zu speisen und anderen Verbrauchern zur Verfügung zu stellen. Mittels Energiespeicher auf den Regalbediengeräten kann diese erzeugte Energie sogar zeitversetzt wiederverwendet werden. Kurzgesagt sind neue Technologien meist schon so entwickelt, dass sie positiv auf den Energieverbrauch einwirken.
Welche Technologien und Trends für die Lagerhaltung sind gerade auf dem Vormarsch?
M. Vogt: Es sind verstärkt ganzheitliche Logistiklösungen mit flexiblen und anpassungsfähigen Erweiterungsmöglichkeiten für die Zukunft gefragt. Dabei finden sich aktuell in vielen Anwendungen und Lösungskonzepten Autonome Mobil Robots, also AMR-Technologie sowie vollautomatisierte Kommissionierlösungen wieder. Gepaart werden diese flexiblen und leistungsfähigen Technologien mit durchgängigen und intelligenten Softwarelösungen, die verstärkt mit künstlicher Intelligenz kombiniert agieren und die Logistikprozesse optimieren.
„Es sind verstärkt ganzheitliche Logistiklösungen mit flexiblen und anpassungsfähigen Erweiterungsmöglichkeiten für die Zukunft gefragt.“
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Zur Person
Mark Vogt ist verantwortlich für den internationalen Vertrieb von Systemintegrationslösungen bei Körber Supply Chain Automation. Vor seinem Start bei Körber im Jahr 2012 sammelte Vogt nach seinem Maschinenbaustudium 25 Jahre Erfahrung in Beratung, Vertrieb und Projektmanagement für die Automatisierung der Intralogistik. Damit verfügt er über umfangreiche Erfahrungen in allen Aspekten von Automatisierungslösungen für Lager und Vertriebszentren.
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