Vorteile durch Vereinheitlichung
Migration von Leitsystemen im Anlagenverbund
Europas führender Hersteller von Chemierohstoffen aus Steinkohlenteer betreibt in Castrop-Rauxel die weltweit größte Raffinerie für Steinkohleteer. Knapp ein Dutzend Produktionsbereiche für primäre und sekundäre Prozesse sind am Standort ansässig und waren bislang mit unterschiedlichen Leitsystemen automatisiert. Eine groß angelegte PLS-Migration schuf die Basis für mehr Durchgängigkeit und erhöhte Betriebsverfügbarkeit.
Die Rütgers-Gruppe ist in der Teerdestillation seit den Anfängen vor über 150 Jahren weltweit Vorreiter: Rund 500.000 Tonnen Steinkohleteer werden jährlich allein in Castrop-Rauxel verarbeitet. Der Teer, der bei Koksgewinnung aus Steinkohle als Nebenprodukt anfällt, enthält weit über 10.000 meist aromatische Verbindungen und dient seit dem 19. Jahrhundert als wichtige Rohstoffquelle für die chemische Industrie. Die aus der zähflüssigen Masse zu gewinnenden Synthese-Produkte sind heute in vielen Bereichen, zum Beispiel in der Aluminiumherstellung und in der Kunststoff- und Pharmaindustrie, unverzichtbar. Die Aufbereitung erfolgt wie in der Erdölraffinerie durch fraktionierte Destillation mit nachfolgender Kristallisation. Dabei werden bei der Primärverarbeitung vor allem drei Hauptbestandteile getrennt: Pech, das mit ca. 50 bis 55 Prozent den größten Teil ausmacht, Naphthalin sowie aromatische Öle. Im Werk Castrop-Rauxel konzentriert sich das Unternehmen neben Gewinnung dieser so genannten Aromaten auch auf ihre Weiterverarbeitung und Veredelung. Veredelte Teererzeugnisse sind die wichtigsten Zusatzstoffe für die Beton- und Reifenherstellung und dienen außerdem als Vorprodukte für die Farb-, Kleb- und Dichtstoffproduktion.
Vielfältige Produktionsanlagen
Auch wenn das Ausgangsprodukt, der Steinkohleteer, noch immer das gleiche ist, haben sich die Verfahrenstechnik und die Veredelungsprodukte in der 100-jährigen Geschichte am Standort Castrop-Rauxel stets weiterentwickelt. Optimale Nutzung der Rohstoffressourcen, verbesserte Umweltverträglichkeit, erhöhter Arbeitsschutz und verringerter Energieeinsatz sind für das Unternehmen damals wie heute wichtige Ziele. Insgesamt zehn verschiedene Produktionsbereiche für die Primärverarbeitung und für vor- und nachgeschaltete Prozesse sind seit langem automatisiert und werden regelmäßig modernisiert. Das sukzessive Wachstum und die organisatorische Trennung der einzelnen Bereiche haben im Laufe der Zeit zu einer sehr uneinheitlichen Leitsystem-Landschaft geführt: Nicht weniger als zehn verschiedene Leitsysteme von fünf Herstellern waren in Castrop-Rauxel parallel im Einsatz. Sämtliche Systeme wurden speziell für die jeweiligen Steuerungsaufgaben ausgewählt und verrichteten zuverlässig ihren Dienst. Allerdings bedeutete die Menge an verschiedenen Prozessleitsystemen für Rütgers auch einen erhöhten Aufwand in Sachen Ersatzteilvorhaltung und Schulung, wenig Flexibilität und keine durchgängige Datenbasis. Darüber hinaus gefährdeten abgekündigte Systeme und schlechte Ersatzteilverfügbarkeit in manchen Bereichen den reibungslosen Produktionsablauf. Mangelnde Erweiterbarkeit, z. B. Anbindung an SAP, und fehlende Möglichkeiten für den Einsatz höherwertiger Regelungsfunktionen verschärften die Situation zusätzlich.
Auf der Suche nach geeigneten Modernisierungsmaßnahmen gründete sich im Jahr 2006 die Projektgruppe „Vereinheitlichung der Prozessleitsysteme" unter der Führung von Marc Jentsch, Ingenieur für Prozessleittechnik und Projektengineering am Standort Castrop-Rauxel. Ziel war zunächst die Erstellung eines Konzepts für die Bereinigung der uneinheitlichen PLS-Struktur auf dem Gelände sowie für die Auflösung der verschiedenen Serviceverträge und kostspieligen Ersatzteillager. Das Konzept sollte darüber hinaus für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre tragfähig sein und die in dieser Zeit anfallenden Kosten berücksichtigen - eine komplexe Aufgabe, die einige Fragen aufwarf: Sollte eines der bereits bestehenden Leitsysteme auch in den anderen Bereichen eingesetzt werden? Wie würden sich zukünftige Erweiterungen bewerkstelligen lassen? Wäre im Zuge einer Vereinheitlichung der Leittechnik auch das Zusammenlegen von bislang getrennten Bereichen sinnvoll?
PLS-Standardisierung mit System
Im ersten Schritt erfolgte die Identifizierung von Wertschöpfungsbereichen, wie z. B. Ersatzteilversorgung, Verfügbarkeit, Produktivität, vorbeugende Instandhaltung, Projektierung etc. Anschließend stellte das Projektteam einen umfangreichen Kriterienkatalog auf, der eine einheitliche Bewertung der in Frage kommenden Leitsysteme ermöglichen sollte. Über 40 verschiedene Gesichtspunkte wurden aus den Wertschöpfungsbereichen abgeleitet, in drei Ober- und elf Unterkategorien eingeteilt und mit entsprechenden Gewichtungsfaktoren versehen. Eigenschaften wie Offenheit, Funktionalität und Engineering hatten in der Oberkategorie „Technik" die höchste Gewichtung. Mit Hilfe der erstellten Bewertungsbögen prüfte das Projektteam insgesamt fünf verschiedene Leitsysteme auf Herz und Nieren. Dabei verließ man sich nicht nur auf eigene Erfahrungen, sondern gab Vertriebsmitarbeitern der einzelnen Hersteller Gelegenheit, ihre Systeme vorzustellen.
Den Leitsystem-Wettstreit entschied schließlich das Siemens Prozessleitsystem Simatic PCS 7 mit der höchsten Punktzahl für sich. Bis dato war der Hersteller nur durch vereinzelt eingesetzte Steuerungen und eine kleinere SCADA-Anwendung in den Anlagen von Rütgers vertreten gewesen. Jetzt überzeugte sein Prozessleitsystem mit Bestnoten bei den technischen Faktoren, u. a. durch volle Integration der Sicherheitstechnik oder zentrales Engineering und umfangreiche Simulationsmöglichkeiten. Mit günstigen Hardwarekosten, hoher Verfügbarkeit und niedrigen Lifecycle-Kosten schlug das Siemens-System schließlich auch noch den letzten Konkurrenten aus dem Feld.
Erfolgreiche Migration - eine Frage der Strategie
Neben einem ausgereiften Leitsystem und der Lieferung von zuverlässiger Hardware waren am Standort Castrop-Rauxel aber auch umfassendes Know-how und optimaler Service gefragt. Schließlich galt es, in möglichst kurzer Zeit und ohne längere Betriebsunterbrechung acht im Einsatz befindliche Systeme durch ein neues Leitsystem zu ersetzen. Hier profitierte Rütgers von den fundierten Kenntnissen der Mitarbeiter des Siemens Migration Support Centers in Köln. Das Experten-Team beschäftigt sich seit langem mit allen Facetten des Themas Leitsystem-Migration und hat über Jahre in zahlreichen Projekten viel Erfahrung im Umgang mit den gängigen Prozessleitsystemen diverser Hersteller gesammelt. Die Vielzahl an unterschiedlichen Systemen, die in den Rütgers -Anlagen im Einsatz war, erforderte ein individuelles Vorgehen für jeden einzelnen Bereich. Da installierte Systeme nicht nur in Sachen Hardware ein großes Investment darstellen, sondern auch in Form von Applikationssoftware oder Erfahrung des Personals, ist es bei Migrationsprojekten im Interesse des Kunden, diese Werte zu schützen. Deshalb ist es entscheidend, dass Migrationsdienstleister und Kunde in enger Zusammenarbeit gemeinsam ermitteln, nach welcher Strategie, in welchem Umfang und zu welchem Zeitpunkt der Umstieg auf das neue Leitsystem erfolgen soll. In Castrop-Rauxel gab der Kunde den Takt vor: Als Hauptverantwortlicher für die komplette Prozessleitsystem-Landschaft bestimmte Marc Jentsch die Migrationsschritte für die einzelnen Anlagenteile, die im Verbundbetrieb teilweise voneinander abhängig sind.
Von der Theorie zur Praxis
Eine der insgesamt acht Migrationen am Standort Castrop-Rauxel betraf die Phenolgewinnung. Zwei getrennte Bereiche, Rohphenol und Phenol, beide mit unterschiedlichen Leitsystemen ausgestattet, sollten nun mit Simatic PCS7 ausgerüstet werden. Konkret bedeutete das die Informationsbewältigung von ca. 2800 Ein- und Ausgangssignalen, ein knappes Drittel davon Analog- und rund zwei Drittel Digitalwerte. Am bereits installierten Profibus waren knapp 150 Teilnehmer angeschlossen. Da die Altsysteme über entsprechende Schnittstellen verfügten, konnte die Migration der Daten, wie z. B. bestehender Regelkreise, Messstellenkennzeichen und Parameter, weitgehend automatisiert erfolgen: Aus den exportierten Textdateien der Altsysteme, die jeweils individuelle Charakteristiken aufwiesen, generierten die Spezialisten von Siemens mit Hilfe eines datenbankorientierten Migrationswerkzeugs strukturierte Excel-Tabellen. Mit abgestimmten Software-Typicals wurden über den in Simatic PCS7 integrierten Import-Export-Assistenten die Instanzen mit Parametern und Verschaltungen erstellt. Für die geforderte Standardisierung sorgte unter anderem die Verwendung der in Simatic PCS7 integrierten Standard-Bausteinbibliothek. So wählten die Projekteure z. B. bestimmte Control-Funktionen für Regelungsaufgaben und sorgten dadurch dafür, dass diese die entsprechenden Funktionen des Altsystems erfüllten. Dieses Vorgehen stellte sicher, dass Regelungsaufgaben nicht nur einfach 1:1 nachgebaut wurden, sondern ein aktueller Stand der Technik und damit die gewünschten Funktionserweiterungen erreicht werden konnten. Die standortweite Verwendung einer Bibliothek und eine einheitliche Visualisierung ermöglichten zudem eine bereichsübergreifende Bedienung und eine vereinfachte Systempflege.
Eine umfassende Simulation auf Einzelsteuerebene vorab sorgte schließlich beim eigentlichen Umschluss für eine reibungslose Inbetriebsetzung: Innerhalb von zwei Stunden wurden neue I/O-Karten eingebaut, die Steckverbindungen getauscht, das neue System gestartet und die Altsysteme abgestellt.
Vorteile langfristig gesichert
Innerhalb von 24 Monaten hat man bei Rütgers drei Viertel der bisherigen Leitsysteme ersetzt. Automatisierungsgrad und Durchgängigkeit sind gestiegen und die jetzt einheitliche Bedienphilosophie wurde von den Anlagenfahrern positiv aufgenommen. Für das Unternehmen rechnet sich das neue Leitsystem nicht nur in punkto Ersatzteilversorgung und Wartungsverträge, sondern auch bei künftigen Erweiterungen: Im Systemvergleich zeigte sich beim Einsatz von Simatic PCS7 in Bezug auf Messbereichsänderungen, Projektierungsaufwand etc. eine Ersparnis von bis zu 60 Prozent gegenüber anderen Systemen.
Dank neuer Technik, entsprechenden Schnittstellen und erhöhter Prozessinformationsdichte können nun mehr Möglichkeiten und Ressourcen effektiver genutzt werden: gehobene Regelungsfunktionen ebenso wie das Condition Performance Monitoring für Aussagen über Regelgüten oder das Ableiten von Anlagenkennzahlen. Das System ist jetzt auch für eine Anbindung an die ERP-Ebene ausgestattet - ein weiteres Projekt, das nach Abschluss der Migration in Angriff genommen wird.
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