Transformation ist das Gebot der Stunde
Nachdem sich die Schockstarre der Coronakrise gelöst hat, stellt sich die chemische Industrie für die Zukunft auf
Während des Peaks der Coronakrise schilderten Wilhelm Schreiner und Ferhat Eryurt die Situation der chemischen Industrie als von Einbrüchen und Strukturproblemen hart gebeutelt. Jetzt, ein knappes halbes Jahr später, sehen sie Anzeichen allmählicher Entspannung: Die Märkte springen wieder an, wenn auch verhalten, und die Unternehmen haben aus Covid 19 gelernt.
Herr Schreiner, Herr Eryurt, Mitte April bezeichneten Sie Covid 19 im Interview als „Brandbeschleuniger bestehender Strukturprobleme“. Wie hoch schlagen derzeit die Flammen, wie steht es um die Strukturprobleme?
Ferhat Eryurt: Das Bild war damals schon sehr dramatisch. Jetzt lockert sich die Situation wieder. Aber einzelne Unternehmen im Commoditybereich schreiben weiterhin rote Zahlen, oder etwa Zulieferer im Automotivebereich. Zwar produziert die Autoindustrie wieder, aber doch sehr eingeschränkt: Die Neuzulassungen, etwa von VW, Audi, Mercedes, Ford oder BMW sanken in der Zeit von Januar bis Juli 2020 gegenüber dem gleichen Zeitraum im Vorjahr um zwischen 38,5 (Ford) und 21,1 (Mercedes) Prozent Dazu kommt noch das Sommerloch. Aber die Kurzarbeit hilft den Unternehmen ̶̶ generell ist das Bild jetzt positiver, als es Mitte April war. Aber Strukturprobleme gibt es weiterhin, wenngleich auf niedrigerem Niveau als vor Corona.
Welche Unternehmen tun sich immer noch besonders schwer?
F. Eryurt: Auch in Covid 19 ändern sich bestimmte Muster in der Chemieindustrie nicht, so ist das Volumen-Geschäft schwierig, das in Deutschland ein hohes Preisniveau benötigt, um weiterhin rentabel zu sein. Daher haben es Commodity-Anbieter und natürlich auch die Zulieferer der Automobilindustrie wie bereits erwähnt nicht leicht.
Andere Unternehmen haben sich dem gegenüber relativ erholt: Die Anbieter von Additiven für das Baugewerbe, ganz stark auch die Unternehmen der Verpackungsindustrie, da bedingt durch Covid immer mehr verpackte Ware verkauft oder deutlich mehr über Lieferdienste abgewickelt wird. Spannend ist auch das Batteriegeschäft, wie die aktuell veröffentlichten BASF-Vorhaben zeigen. Daran sieht man, dass in Deutschland die chemische Industrie wieder investiert.
Wilhelm Schreiner: Diejenigen Unternehmen, die spezielle und auf die Zukunft gerichtete Produkte im Portfolio haben, auch unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit, haben derzeit gute Chancen. Die Unternehmen aber, die nah am Öl oder Gas produzieren, leiden besonders unter Strukturproblemen. Ein Beispiel: Vor fünf Jahren war das BDO, also das Butan-1,4-diol, extrem knapp aufgrund von Rohstoffmangel und Kapazitätsumwuchtungen ̶̶ nun hat die BASF Ende August ein Joint Venture aufgekündigt, um so die BDO-Kapazitäten im Markt wieder runter zu fahren. Bei den Commodities gibt es also Kapazitätsanpassungen, während Spezialprodukte weiter reüssieren.
„Die Unternehmen aber, die nah am Öl oder Gas produzieren, leiden besonders unter Strukturproblemen.“
- Wilhelm Schreiner
Da aber entsteht das Problem, dass sie umso näher an die Endkunden heran müssen, je spezieller die Produkte sind. Das bedingt neue Vertriebswege und andere Geschäftsmodelle ̶̶ diese Transformation muss gelingen, dann ist die deutsche Chemieindustrie, auch die des Mittelstands, wieder international im Vorteil.
Zurück zur Eingangsfrage: Die Wertung von Covid als „Brandbeschleuniger“ war damals berechtigt, erscheint aber Gott sei Dank aus heutiger Sicht als überzogen. Zwar sind die Quartalszahlen 2020 dramatisch weggebrochen, aber die befürchteten Massenentlassungen blieben dank der aktuell verlängerten Kurzarbeit doch aus. Zudem hat die Industrie ihre Schockstarre zum Teil wieder überwunden: Viele Unternehmen haben in die Zukunft investiert, die Unternehmenssteuerung wurde digitalisiert, um schneller und besser auf die Krise reagieren zu können. Und die Märkte springen wieder ein bißchen an, die Anfragen gehen langsam wieder hoch. Jetzt muss man sehen, wie sich die Covid-Situation weiter entwickelt.
Was ist von den extremen Einschränkungen während des Peaks der Pandemie geblieben, also von gesprengten Lieferketten, geschlossenen Häfen, dem Personalnotstand, den Grenzkontrollen …
W. Schreiner: Das hat sich schon entspannt, die Grenzkontrollen sind weitgehend aufgehoben und dadurch die Lkw-Engpässe sehr viel weniger geworden. Auch die Lieferungen aus China sind wieder angesprungen und der Container-Verkehr ist wieder allokiert …
… der Flugverkehr, auch was den Transport angeht, ist doch nach wie vor sehr eingeschränkt …
W. Schreiner ...das stimmt. Aber vor allem der Commodity-Transport wird doch überwiegend via Container international über Frachter, auch die nachgelagerte Binnenschifffahrt, über Lkw und wegen Nachhaltigkeitsaspekten die Bahn abgewickelt.
F. Eryurt: Um die Marktsituation noch einmal anzusprechen: Für die Chemie als Zwischenindustrie ist ganz entscheidend die Situation der Abnehmer: Kunststoffe, Additive, Lacke, im Automotiv-Bereich ̶̶ da ist das Geschäft schon sehr schwierig und abhängig davon, wie bei den Abnehmern die Bänder wann und wie wieder laufen. Da wird es sicherlich schon einen Wiederbelebungsmechanismus geben, aber sicher eher einen einmaligen Effekt mit leichter Erholung auf weiterhin niedrigem Niveau ̶̶ ich habe ja eingangs die Auto-Neuzulassungen angesprochen.
„Die Märkte springen wieder an, die Anfragen gehen langsam wieder hoch.“
- Ferhat Eryurt
Weltweit steigen die Infektionszahlen ̶̶ kommt die 2. Welle?
F. Eryurt: Selbst wenn es zu einem zweiten Lockdown kommen sollte, kann ihn die Industrie besser überstehen, als den ersten ̶̶ man weiß jetzt, worauf geachtet werden muss: Im Bereich des Risikomanagements, im Bereich der Analytics und des Forecasting wurden erhebliche Anstrengungen unternommen und dafür die technischen Voraussetzungen geschaffen. Genauso im sozialen Umfeld: Es gibt die Maskenpflicht, wir können einzelne Stadtteile oder Regionen absperren undundund. Deshalb glaube ich, dass es einen knallharten Lockdown wie in der ersten Welle nicht mehr geben wird.
Im April waren Sie skeptisch, was die Regionalisierung und Re-Lokalisierung globalisierter Lieferketten anging. Gilt das nach wie vor?
W. Schreiner: Chemieanlagen sind sehr kapitalintensiv und werden deshalb für mehrere Jahrzehnte geplant und betrieben. Deshalb wird der Preis der Vorprodukte weiterhin eine ganz entscheidende Rolle spielen. Aber bedingt durch das Lieferkettengesetz und zukunftsorientierte Nachhaltigkeitsaspekte und Logistik- und Risikokriterien gewinnen da mittel- und langfristig Re-Lokalisierungen der Lieferketten durchaus an Bedeutung. Freilich: Die Gestehungskosten und natürlich auch der Ort der Gewinnung und Verfügbarkeit der Rohstoffe werden immer die Bedingungen vorgeben.
Wie ist derzeit die Versorgung mit Rohstoffen im Gegensatz zu April/Mai dieses Jahres?
F. Eryurt: Störungen in der Supply Chain sind zwar stellenweise vorhanden ̶̶ insgesamt aber funktionieren die Lieferketten wieder.
Was konkret hat die Industrie bislang aus Covid 19 gelernt und wie zielgerichtet agiert/reagiert sie?
W. Schreiner: Sie hat viel daraus gelernt. Das gilt besonders für Risiko- und Sicherheitskonzepte, was Planung und Forecasting angeht. Außerdem haben Chemie und Pharmazie gelernt, wieweit sie tradierte Büroarbeit in kostengünstigere Homeoffice-Lösungen übertragen können, ausgenommen natürlich Forschung und Produktentwicklung.
Und im Pharmabereich stelle ich bei unseren Kunden fest, dass unter dem Aspekt einer eventuellen zweiten Welle sehr viel kritische Rohstoffe, Zwischenprodukte, aber auch Endprodukte auf Lager gelegt werden, um zu vermeiden, dass wieder Lieferketten abreißen. Das bindet zwar Kapital, das aber ist sekundär, wenn es um die Sicherung der Produktion und die Verfügbarkeit im Markt geht.
„Die chemische Industrie hat viel aus der Pandemie gelernt.
Das gilt besonders für Risiko- und Sicherheitskonzepte,
was Planung und Forecasting angeht.“- Wilhelm Schreiner
2020 wird ja nicht allein von Covid 19 bestimmt: Ende des Jahres soll auch der Brexit in Kraft treten, eventuell auch als harter Brexit. Droht der Industrie schon die nächste Krise?
F. Eryurt: Die Brexitkrise ist ja nun schon seit Jahren auf der Agenda der chemischen und pharmazeutischen Industrie. Und bei allen negativen Auswirkungen von Covid: In diesem Jahr hat jeder gesehen, was die eigene Unternehmensorganisation leistet und was die Märkte hergeben. Die chemische Industrie hat auch gesehen, wie ihre sehr komplexen, Anlagen mit niedriger Auslastung flexibel auf die Krise reagieren können.
Auch der Brexit wird Auswirkungen haben, die aber werden kalkulierbar sein, selbst bei einem harten Brexit mit Zöllen und Grenzkontrollen. Damit haben sich die meisten Unternehmen bereits während der letzten 12 bis 18 Monate befasst und Szenarien entwickelt. Wer das versäumt hat, wird natürlich mit der Wucht von zwei Krisen getroffen und tiefgreifende Probleme haben.
Was empfehlen Sie beiden Industrien, um die Auswirkungen von Covid 19 zu überwinden, zumindest weitestgehend zu neutralisieren?
F. Eryurt: Es ist ganz wichtig, das Produktportfolio sehr kritisch zu überprüfen: Was von den Produkten, die vielleicht Jahrzehnte erfolgreich waren im Markt, hatte auch unter Covid Bestand und sollte weiter produziert und angeboten werden.
W. Schreiner: Als zweites ist das Thema der Digitalisierung von großer Bedeutung. Das ist weitaus mehr als eine Aufrüstung etwa der ERP-Systeme: Es geht darum, wie durch Digitalisierung schnell und jederzeit situativ Erkenntnisse über die Märkte gewonnen und wie die Märkte genauso schnell erschlossen werden können. Dazu gehören anspruchvollste Analytics, Plattformstrategien, Veränderungen der Arbeitswelt ̶̶ Stichwort Homeoffice ̶̶ und die Rekrutierung, Ausbildung und Förderung der Mitarbeiter.
F. Eryurt: All das kann man unter dem Begriff „Transformation“ zusammenfassen: der Organisation, der Technologie und der Menschen. Zudem wird die Umweltdebatte immer härter geführt ̶̶ Nachhaltigkeitsaspekte geraten mehr und mehr in den Vordergrund.
W. Schreiner: Fazit: Viele Unternehmen werden sich die besten Investments abgreifen. Sie kommen aktuell so günstig wie nie an Geld und wer sich jetzt durch Akquisitionen und/oder Forschung zukunftsträchtig aufstellt, ist gut beraten. Es geht nicht darum, die Krise nur abzufedern, sondern sich aus der Schockstarre zu lösen und wieder auf Wachstum zu setzen. Evonik macht das gerade beispielhaft vor: Das Unternehmen akquiriert, erweitert konsequent das Portfolio und schaut nach vorne.
ZUR PERSON
Wilhelm Schreiner ist Head of Supply Chain & Procurement Europe bei The Hackett Group, war Einkaufsmanager bei großen Chemieunternehmen und berät heute internationale Großunternehmen der Branche
ZUR PERSON
Ferhat Eryurt arbeitete mehrere Jahre in strategischen und operativen Positionen in der chemischen Industrie und war zudem, ebenfalls mehrere Jahre, in der Unternehmensberatung tätig. Derzeit berät er in Kooperation mit der Hackett Group weltweit Unternehmen der Chemie-, Petrochemie-, Kunststoff- und Automotivebranche.