News

Thomas Köhler, Chef der BG Chemie, im Interview mit Chemanager Online:

Mehr als eine Unfallversicherung - Die BG Chemie bietet Unternehmerhaftpflicht, Rehabilitation und Prävention aus einer Hand

01.02.2010 - Mit einer veränderten ­Altersstruktur in den ­Unternehmen gewinnen Arbeitssicherheit und Gesundheitsschutz, aber auch Rehabilitationsleistungen an Bedeutung.

All diese Aufgaben übernimmt die Berufsgenossenschaft Chemie für ihre Mitgliedsunternehmen. Zum 1. Januar 2010 fusionieren die BG Chemie und fünf weitere gesetzliche Unfallversicherer zur BG Rohstoffe und chemische Industrie (RCI). Der neue Verbund wird etwa 35.000 Unternehmen mit derzeit rund 1,3 Mio. Versicherten betreuen und über ein Gesamtbudget von rund 1,2 Mrd. € verfügen. Dr. Andrea Gruß befragte ­Thomas Köhler, Hauptgeschäftsführer der BG Chemie und Sprecher der ­Geschäftsführung der BG RCI, zu den heutigen Aufgaben und künftigen Herausforderungen der Berufsgenossenschaft.

CHEManager: Die Gründung der gesetzlichen Unfallversicherung geht auf das 19. Jahrhundert zurück. Welche Intention verfolgte die damalige Gesetzgebung?

T. Köhler: Zu dieser Zeit begann das Maschinenzeitalter. Wesentlichen Produktionssteigerungen standen neue Gefährdungen für die Arbeiter gegenüber. Der ungewohnte Umgang mit gefährlichen Maschinen führte zu schweren Betriebsunfällen, für die keine ausreichende Versicherung bestand. Missstände in der wirtschaftlichen Lage und bei der gesundheitlichen Versorgung der Arbeiterschaft waren offenkundig. Bismarck rea­gierte darauf mit einer umfassenden Sozialgesetzgebung. Das Unfallversicherungsgesetz aus dem Jahr 1884 brachte bei Betriebsunfällen Versicherungsansprüche gegen die neu gegründeten Berufsgenossenschaften - Zusammenschlüsse der Betriebsunternehmer der jeweiligen Branche, die selbst die finanziellen Mittel aufbrachten. Zum ersten Mal gab es damit eine ausreichende Versorgung von Verletzten und Hinterbliebenen.

Welche Aufgaben übernimmt die BG Chemie heute?

T. Köhler: Wie vor fast 125 Jahren ist die BG Chemie auch heute der gesetzliche Unfallversicherer der chemischen Industrie und verwandter Industriebereiche. Wir haben rund 14.000 Mitgliedsbetriebe mit knapp 900.000 Versicherten. Unsere Hauptaufgabe ist es, die Unternehmen dabei zu unterstützen, Arbeitsunfälle, Berufskrankheiten und arbeitsbedingte Gesundheitsgefahren zu verhüten. Wenn es aber doch zu einem Schadensfall kommt, begleiten wir die Versicherten: Wir steuern die medizinische Behandlung und die Wiedereingliederung in den Beruf und in das soziale Umfeld. Außerdem entschädigen wir die Versicherten finanziell. Die Erfolge in der Prävention sind beachtlich: Die chemische Industrie ist heute - bezogen auf das Unfallgeschehen - mit unserer Unterstützung die sicherste Indus­triebranche in Deutschland.

Neben der Absicherung von ­Unternehmen und Arbeitnehmern ist die Prävention ein wesentlicher Auftrag der BG. Welche Leistungen bieten Sie hier?

T. Köhler: Unsere technischen Aufsichtspersonen gehen in die Betriebe und prüfen, ob die ­Sicherheitsvorschriften eingehalten werden. Vor allem aber unterstützen und beraten sie die Unternehmen dabei, ihre Arbeitssicherheitsmaßnahmen zu optimieren, oder bei Gesundheitsaktionen. Wir haben Fachreferate als Ansprechpartner für alle spezifischen Fragen der Prävention - angefangen von Arbeitsmedizin über Gefahrstoffe bis hin zum Explosionsschutz. In unseren Zentren für Arbeitssicherheit in Maikammer und Laubach sowie in anderen Häusern bilden wir jedes Jahr über 22.000 Menschen aus, die das Erlernte als Multiplikatoren in den Betrieben weitergeben. Darüber hinaus stehen unsere Experten den Mitgliedsbetrieben täglich mit Rat und Tat zur Seite.

Welche neuen Herausforderungen ergeben sich durch den demografischen Wandel bei der Gesundheitsprävention?

T. Köhler: Die Unternehmen müssen die Arbeitsbedingungen und damit die Maßnahmen im Gesundheitsschutz und in der Arbeitssicherheit an die geänderten Voraussetzungen anpassen. Mit Blick auf den zunehmenden Fachkräftemangel wird es aus meiner Sicht immer wichtiger, die Beschäftigungsfähigkeit Älterer zu erhalten, indem man sie frühzeitig fördert. Dabei unterstützen wir die Betriebe. Angefangen von der Beratung zur alterns- und altersgerechten Gestaltung von Arbeitsbedingungen bis hin zu betrieblichen Gesundheitsförderungsprogrammen. Wir sind aber auch an Forschungsprojekten beteiligt, die sich mit speziellen Problemen älterer Beschäftigter befassen. Schließlich ändern sich im Alter unsere Wahrnehmung und das Reaktionsvermögen. Dem müssen wir gemeinsam mit den Unternehmen Rechnung tragen.

Das Unfallversicherungsmodernisierungsgesetz, kurz UVMG, brachte einige Änderungen im Jahr 2009. Welches sind die wesentlichen Neuerungen?

T. Köhler: Ganz wesentlich ist natürlich die Organisationsreform: Bis Ende 2009 darf es nach dem Willen des Gesetzgebers bundesweit nur noch neun Berufsgenossenschaften geben. Durch diesen drastischen Fusionsprozess sinkt die Zahl der Berufsgenossenschaften innerhalb von fünf Jahren auf ein Viertel. Aus der BG Chemie wird in diesem Prozess die BG Rohstoffe und chemische Industrie.
Eine weitere für die Unternehmen direkt spürbare Neuerung: Die Lastenverteilung für Altfälle wird neu geregelt. Das Solidarprinzip drängt hier das Verursacherprinzip zurück. Hat eine Berufsgenossenschaft überproportional hohe Rentenlasten, werden diese von allen Berufsgenossenschaften solidarisch getragen. Es geht darum, in schrumpfenden Branchen dem Rückgang der Beschäftigten und der Entgeltsumme Rechnung zu tragen. Denn die Rentenlasten aus früheren Versicherungsfällen bleiben im Wesentlichen unverändert. Neu ist auch die „Gemeinsame Deutsche Arbeitsschutzstrategie". Danach müssen alle im Arbeitsschutz handelnden Akteure des Staates und der Unfallversicherung ihre Überwachung und Beratung der Unternehmen aufeinander abstimmen.

Wie sieht das Gesicht der neuen BG Rohstoffe und chemische Industrie aus?

T. Köhler: Wir fusionieren mit fünf anderen Berufsgenossenschaften: Bergbau, Steinbruch, Lederindustrie, Papiermacher und Zucker. Im „Kreis der Neun" wird die BG RCI, bezogen auf die Zahl der Versicherten, die kleinste sein.
Derzeit sind wir mitten im bedeutendsten Fusionsprozess unserer Geschichte. Das alles ist ein gewaltiger Aufwand. Sehr unterschiedliche Prozesse müssen vereinheitlicht, neue Einheiten geschaffen werden. Das neue Haus muss zusammenwachsen und Schritt für Schritt eine gemeinsame Identität ausbilden.
Ich will es klar sagen: Eine Fusion haben wir nicht gewollt, und sie war aus Sicht der chemischen Industrie aus wirtschaftlichen Gründen auch nicht nötig. Aber nachdem der Gesetzgeber sich festgelegt hatte, haben wir die Dinge aktiv angepackt und nach vorne getrieben. Die BG RCI geht daher im Januar 2010 an den Start mit dem erklärten Ziel, in Prävention und Rehabilitation eine führende Rolle einzunehmen.
Dabei lautet unser Credo: so viel gemeinsame Präventionsarbeit wie möglich - so viel branchenspezifische Prävention wie nötig.

Welche Auswirkungen hat die neue Struktur für Ihre Mitglieder?

T. Köhler: Durch die Synergieeffekte werden wir die Qualität unseres Service weiter erhöhen, da wir vom Know-how gegenseitig profitieren können. Gerade die BG Chemie gilt in einigen Bereichen - wie der Arbeitssicherheitsausbildung und der ­Arbeitsmedizin - als besonders kompetent. Das kommt jetzt allen zugute.
Das Gesetz sieht zudem vor, dass die fusionierenden Berufsgenossenschaften bis zu 12 Jahre getrennte Umlagen beibehalten können, die Branchen also ihren eigenen Beitrag festsetzen können. Von dieser Möglichkeit machen wir Gebrauch. Das bedeutet aber auch, dass wir in den nächsten Jahren alle Synergieeffekte nutzen müssen, um bei der späteren Zusammenführung der Umlagen Beitragssteigerungen zu vermeiden.

Das Monopol der Berufsgenossenschaften wird immer wieder von einigen Interessengruppen kritisiert. Sie fordern Versicherungspflicht statt Pflichtversicherung. Welche Risiken birgt eine Privatisierung der gesetzlichen Unfallversicherung?

T. Köhler: Ein herausragendes Merkmal der gesetzlichen Unfallversicherung ist die Ablösung der Unternehmerhaftung. Würde die Unfallversicherung privatisiert, hätte das zur Folge, dass die Unternehmen wieder in die Haftung eintreten müssten. Kritiker führen an, dass die Firmen sich dann bei einem privaten Anbieter versichern könnten. Nur - im Gegensatz zu den privaten Assekuranzen haben wir keine Haftungsgrenze. Branchen oder Firmen mit einem hohen Unfall- oder Berufskrankheitenrisiko würden entweder gar keinen Versicherer finden oder nur mit exorbitanten Risikozuschlägen.
Nehmen Sie das Beispiel ­Asbest: Asbest ist in Deutschland seit Anfang der 90er verboten, hat aber eine Latenzzeit von teilweise mehr als 20 Jahren. Das heißt, dass bei Menschen, die vor 20, 30 Jahren damit in Kontakt kamen, jetzt erst Erkrankungen kommen können. Kein Versicherungsunternehmen ist bereit, ein solches Risiko abzudecken. Hinzu kommt, dass ja auch die bestehenden Verpflichtungen, also die Rentenzahlungen aus früheren Versicherungsfällen, übernommen werden müssten. Und die betragen hochgerechnet rund 90 Mrd. €.

Das deutsche Sozialversicherungssystem befindet sich im Wandel. Vor welchen Herausforderungen steht die gesetzliche Unfallversicherung vor diesem Hintergrund?

T. Köhler: Die gesetzliche Unfallversicherung ist ein wichtiges Standbein der sozialen Sicherung. Sie hat sich bewährt, auch in Krisenzeiten. Vielen Staaten ist sie Vorbild durch ihr Prinzip „Prävention, Rehabilitation und Entschädigung aus einer Hand". Als lernendes System muss sie sich aber weiterhin anpassen, wenn sich die wirtschaftlichen Bedingungen verändern. Dass dies funktioniert, zeigt exem­plarisch die Neuregelung der Lastenverteilung als Antwort auf den Rückgang von Produktionsarbeitsplätzen und den Ausbau der Dienstleistungsbranchen.
Wichtig ist jetzt, dass in Krisenzeiten die Unternehmen bei der Prävention nicht sparen. Zu diesem Thema müssen wir kontinuierlich beraten. Eine wirkungsvolle Prävention verhindert Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten und damit die Altlasten von morgen. Unserer Selbstverwaltung ist diese Präventionsrendite sehr bewusst, deswegen fordert und fördert sie mit großem Nachdruck eine praxisorientierte Prävention. Wenn die Prävention erfolgreich bleibt, ist die gesetzliche Unfallversicherung auch in der Zukunft eine Erfolgsstory.