Märkte & Unternehmen

Teil des Problems, aber vielmehr Teil der Lösung

Beim Kampf gegen den Klimawandel spielen deutsche Chemiestandorte eine bedeutende Rolle

13.07.2022 - Insgesamt haben wir uns längst daran gewöhnt, dass sich unsere Unternehmen und die Chemiestandorte in einem globalen Wettbewerb behaupten müssen. Wie sehr sich Produktions- und Lieferketten verändern und mit welchen Herausforderungen diese Entwicklung verbunden sein wird, war Anfang der 1990er Jahre noch nicht abzusehen.

Der CHEManager wird 30 Jahre alt, und ich darf Ihnen im Namen der Fachvereinigung Chemieparks des VCI – stellvertretend für die dort vertretenen deutschen Chemiestandorte – unsere herzlichen Glückwünsche übermitteln. Der CHEManager hat drei bewegte Jahrzehnte journalistisch begleitet, in denen sich unsere Branche mit bemerkenswerter Dynamik entwickelt und rasant verändert hat, und dabei auch immer wieder den Blick auf die wichtigsten Branchentrends gelegt und Perspektiven aufgezeigt.

Beim Blick zurück auf die frühen 1990er und die Folgejahre erinnern wir uns alle, wie unsere schon traditionell stark international ausgerichtete Branche auch als Folge der politischen Veränderungen in der Welt die Aktivitäten insbesondere im fernen und mittleren Osten immer stärker ausbaute. Der Stellenwert dieser Regionen ist gegenüber den USA, Südamerika und den Ländern in Europa, in denen die Chemieindustrie traditionell sehr stark ausgeprägt ist und eine lange Tradition hat, enorm gestiegen.

Insgesamt haben wir uns längst daran gewöhnt, dass sich unsere Unternehmen und die Chemiestandorte in einem globalen Wettbewerb behaupten müssen. Wie sehr sich Produktions- und Lieferketten verändern und mit welchen Herausforderungen diese Entwicklung verbunden sein wird, war Anfang der 1990er Jahre noch nicht abzusehen. Denn mit der Globalisierung waren und sind nicht ausschließlich Wachstumschancen verbunden, sondern auch ein erhöhter Wettbewerbsdruck, gerade auch für die deutschen und europäischen Marktteilnehmer.

Konsolidierung und Umstrukturierung

Gleichzeitig sind in dieser Phase maßgebliche Weichenstellungen erfolgt, die primär kapitalmarktgetrieben waren. Große, breit diversifizierte Industriekonglomerate haben sich aufgelöst. Daraus sind neue, stärker fokussierte industrielle Player entstanden. In diesem Zusammenhang haben wir nicht nur eine Trennung von Chemie- und Pharmaaktivitäten erlebt, wobei die Umstrukturierung der ehemaligen Hoechst AG nur eines von mehreren Beispielen ist, sondern auch innerhalb der chemischen Industrie hat eine immer stärkere Ausdifferenzierung von Teilbereichen stattgefunden, in der Regel einhergehend mit nachgelagerten Konsolidierungsschritten.

Gleichzeitig sind an verschiedenen Standorten rechtlich selbstständige Standortbetreibergesellschaften entstanden, in Mittel- und Fernost häufig als Neugründungen; in Europa sind diese Standortbetreibergesellschaften eher aus den vorherigen Konglomeraten hervorgegangenen oder es wurden konzerninterne Einheiten neu aufgestellt, mit ähnlichen Aufgabenstellungen in Bezug auf die Arbeitsgebiete.

Beim Blick zurück in die frühen 1990er Jahre erinnern wir uns natürlich auch noch an den Fall des Eisernen Vorhangs und die Herausforderungen, die mit der Deutschen Einheit insbesondere für die ostdeutschen Chemiestandorte verbunden waren. Dieser Transformationsprozess war für die betroffenen Unternehmen mit Sicherheit in Teilen ähnlich herausfordernd wie die Entwicklungen, die uns als Branche aktuell vor dem Hintergrund der Energiewende und der Nachhaltigkeitsdebatte beschäftigt, ganz zu schweigen von den derzeitigen geostrategischen Verwerfungen.

 

„In Europa steht noch viel zu wenig Energie aus regenerativen Quellen zur Verfügung.“

 

Nachhaltigkeit und Klimaschutz

Die vergangenen 30 Jahre sind – vor allem in Europa – auch gekennzeichnet von der zunehmenden Verschärfung des regulatorischen Umfelds, die noch immer anhält. Auch hier erleben wir eine dynamische Entwicklung: Die politisch-gesellschaftliche Diskussion um die Themen Nachhaltigkeit und Klimawandel hat in den letzten Jahren deutlich an Fahrt aufgenommen, und als energieintensive, aber auch innovationsgetriebene Industrie sind wir weitaus stärker als in früheren Jahren gefordert, unsere Position deutlich zu machen. Wir sind als Verbraucher fossiler Brennstoffe durch den hohen Energiebedarf und den Umstand, dass in Deutschland und in Europa noch viel zu wenig Energie aus regenerativen Quellen zur Verfügung steht, in Bezug auf die klimaschädlichen Emissionen natürlich Teil des Problems. Viel wichtiger ist allerdings die Rolle der Chemie­industrie als Teil der Lösung, denn ganz sicher werden Zukunftstechnologien nicht ohne Naturwissenschaftler, insbesondere Chemiker, und Ingenieure weiterentwickelt. Das betrifft nachhaltige Mobilitätslösungen und Energieversorgungskonzepte der Zukunft ebenso wie die Frage der Ernährung der stetig wachsenden Weltbevölkerung, für die Ernteerträge gesteigert werden müssen, oder den Kampf gegen die Krankheiten – auch gegen Pandemien.

All diese Fragen und Probleme werden nicht ohne Zutun der Chemie- und der Pharmaindustrie beantwortet und gelöst werden können. Zudem kann unsere Branche sehr wichtige Beiträge bei Themen wie Umweltschutz oder Energieeffizienz leisten, die seit langem zum Tagesgeschäft bei den produzierenden Unternehmen gehören. Zugegeben: Energieeffizienz ist vor allem auch aus Kostengründen für eine energieintensive Branche wie die Chemieindustrie eine wichtige Disziplin. Und beim Streben nach dem Schutz natürlicher Ressourcen war in früheren Zeiten auch die politisch-gesellschaftliche Diskussion eine relevante Triebfeder. Das ist heute anders: Dass wir die Lebensgrundlagen für kommende Generationen erhalten und mit unseren technologischen Möglichkeiten verbessern müssen, steht längst außer Frage. Dabei sind das profunde Know-how in Sachen Energieeffizienz und Kreislaufwirtschaft neben den ganz maßgeblichen Produkt- und Prozessinnovationen nur wenige Beispiele von vielen, mit denen die chemisch-pharmazeutische Industrie zum Erreichen von ehrgeizigen Klimaschutz- und Nachhaltigkeitszielen beitragen kann und beitragen wird.

Ganz neu ist die aktuelle Situation für uns nicht: Die Chemieunternehmen müssen schon seit vielen Jahren für gesellschaftliche Akzeptanz werben und kritischen Stakeholdern auch immer wieder in Erinnerung rufen, mit welchem Nutzen unsere Forschungs-, Entwicklungs- und Produktionsaktivitäten für die Menschen verbunden sind. Die Notwendigkeit, sich aktiv in den politisch-gesellschaftlichen Diskussions- und Meinungsbildungsprozess einzubringen, ist durch die Dynamik der Klimaschutzdebatte in den letzten Jahren ganz sicher nicht geringer geworden. Dabei darf man auch nicht vergessen, dass unsere Branche auch aus demografischen Gründen für sich werben und kontinuierlich am eigenen Image arbeiten muss. Der Fachkräftemangel macht sich schon heute bemerkbar und bedroht die Zukunftsfähigkeit einzelner Unternehmen. Um weiterhin gute, qualifizierte und leistungsfähige Nachwuchskräfte für die Chemieindustrie gewinnen zu können, müssen wir noch stärker aufzeigen, dass die berufliche Perspektive in der Chemie nicht nur spannend und im positiven Sinne herausfordernd ist, sondern auch sinnstiftend mit Blick auf Klimaschutz, Ressourcenschonung und Zukunftstechnologien.

 

„Wir sollten nicht aus Angst vor dem ökologischen Tod ökonomischen Selbstmord begehen.“

 

Wettbewerbsfähigkeit und Technologieoffenheit

Ohne Zweifel stehen wir als Branche vor einem extrem dynamischen Transformationsprozess, den nur hochanpassungsfähige Unternehmen und Organisationen erfolgreich bewältigen können. Wir müssen uns diesen Herausforderungen stellen, weil der Kampf gegen den Klimawandel eine zentrale Aufgabe ist, bei der wir uns allerdings nicht von politisch-motiviertem Alarmismus leiten lassen sollten. Wir sollten vor allen Dingen nicht aus Angst vor dem ökologischen Tod ökonomischen Selbstmord begehen. Wir werden Klimaziele nicht erreichen können, wenn wir allein in Deutschland besonders ehrgeizige ökologische Zielvorgaben definieren, und bei der Umsetzung die ökonomische und soziale Nachhaltigkeit außer Acht lassen. Wenn auf nationaler deutscher oder regio­naler europäischer Ebene die Rahmenbedingungen für erfolgreiche unternehmerische Aktivitäten nicht mehr gegeben sind, bspw. aufgrund wettbewerbsrelevanter regulatorischer und gesetzlicher Vorgaben, werden wir vor dem Hintergrund des globalen Standortwettbewerbs lediglich eine Verlagerung von Produktions- und letztendlich auch Forschungsaktivitäten in andere Regionen der Erde erleben, in denen das Streben nach Nachhaltigkeit im Vergleich einen geringeren Stellenwert hat – auf diese Weise kann der Kampf gegen den Klimawandel, der global geführt werden muss, nicht gewonnen werden.

Wir können unseren Beitrag leisten, indem wir die geeigneten politischen, regulatorischen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen schaffen, damit an den Chemiestandorten in Deutschland und in Europa Zukunftstechnologien weiterentwickelt werden können. Dabei macht es auch Sinn, vorübergehend auf Übergangstechnologien zu setzen, wenn damit bspw. CO2-Einsparziele erreicht und klimaschädliche Emissionen reduziert werden können. Die Nutzenergieerzeugung in Kraft-Wärme-Kopplung auf Basis des Primärenergieträgers Gas ist ein gutes Beispiel hierfür. Ein weiteres Beispiel ist der Einsatz sog. „grauen“ oder „blauen“ Wasserstoffs. Es wäre falsch, allein auf grünen, also auf der Basis erneuerbarer Energien erzeugten Wasserstoff zu setzen, der uns in naher Zukunft nicht in ausreichenden Mengen zur Verfügung stehen und dessen künftige Verfügbarkeit von schnellen und beherzten Innovations- und Investitionsschritten abhängen wird. Dies erfordert gleichzeitig wettbewerbsorientierte Suchprozesse im Hinblick auf Technologieoffenheit und Investitionssicherheit.

An dieser und vielen anderen Stellen ist vor allem die Politik gefordert, geeignete Rahmenbedingungen zu schaffen: Von Wasserstoffpipelines über ausreichende Erzeugungs- und Transportkapazitäten für grünen Strom bis hin zu internationalen Kooperationen, weil Deutschland mit Wind- und Solarenergie allein niemals energieautark werden kann. Und es erfordert Unterstützung für innovative Start-ups, angefangen von Genehmigungsverfahren bis hin zur Bereitstellung von Fördermitteln. Auch da gibt es noch viel Verbesserungspotenzial.

30 Jahre CHEManager, 30 Jahre Entwicklung der Chemieindustrie – was wird ein Nach-Nach-Nachfolger aus Sicht der Fachvereinigung Chemieparks wohl zum 50-jährigen Bestehen des CHEManagers schreiben? Vielleicht etwas über den gelungenen Transformationsprozess hin zur klimaneutralen Chemieindustrie und die bedeutende Rolle, die von der deutschen Chemiebranche beim erfolgreichen Kampf gegen den Klimawandel eingenommen wurde. Sicherlich wird es auch dann wieder neue, spannende Herausforderungen für die Chemie in Deutschland geben – und viel „Stoff“ für die gute journalistische Arbeit des CHEManagers.

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