Strategie: Offenheit steigert Resilienz
Chemieunternehmen erhöhen ihre Widerstandsfähigkeit durch neue Geschäftsmodelle und branchenfremde Partnerschaften
Ob Rohstoffmarkt, Finanzmarkt oder Märkte für Chemikalien und Pharmaka, die Volatilität der Märkte steigt. Trends, die früher Jahrzehnte andauerten, kommen heute in Wellen von Jahren. Gleichzeitig steigt die Zahl politischer und wirtschaftlicher Krisen, die sich weltweit über nahezu alle Regionen erstrecken. Warum bewältigen einige Unternehmen diese Herausforderungen besser als andere? Was zeichnet ein resilientes Chemieunternehmen aus? Dr. Andrea Gruß sprach darüber mit Bernd Kreutzer, Managing Director Accenture Strategy für Deutschland, Österreich, Schweiz.
CHEManager: Der Begriff Resilienz gewinnt im Management zunehmend an Bedeutung. Worauf führen Sie dies zurück?
B. Kreutzer: Wir leben heute in einer Zeit hoher Volatilität der Märkte intensiven Wettbewerbs, steigender Sicherheitsbedrohungen sowie der durch Digitalisierung getragenen Disruption ganzer Branchen. Es geht nicht mehr allein um die Wettbewerbsfähigkeit und Ertragskraft von Unternehmen im klassischen Sinn, sondern auch um deren Überlebensfähigkeit. Die Chemie- und Pharmaindustrie ist von diesen Entwicklungen umfassend betroffen. Stabilität und Ertragsstärke des Geschäftsmodells sowie dessen Überlebensfähigkeit werden zum integralen Bestandteil des Wettbewerbsdenkens. Erste Unternehmen haben daher Resilienz für sich schon als eine Kernstrategie definiert.
Der Begriff kommt aus der Psychologie und beschreibt dort die Widerstandsfähigkeit von Personen gegenüber persönlichen Krisen, aber auch die Fähigkeit, diese Krisen zur persönlichen Entwicklung zu nutzen. Dieses Konzept lässt sich sehr gut auf das Management eines Unternehmens übertragen.
Was macht Unternehmen resilient?
B. Kreutzer: Zum einen ist das die Fähigkeit, Krisen – aber auch Chancen – frühzeitig zu erkennen und Mechanismen dafür aufzustellen, um vorbeugend zu agieren. Dabei hilft ein ganzheitlicher Blick auf das Thema, denn sowohl Krisen als auch Chancen können ihren Ursprung im Markt haben. Sie können aber auch aus dem eigenen Balance Sheet heraus entstehen, zum Beispiel durch das Interesse von Investoren. Oder es kann sich um Sicherheitskrisen handeln, zum Beispiel aufgrund mangelnder Anlagensicherheit, Terrorismus oder Cyber-Kriminalität.
Zum anderen ist ein Unternehmen widerstandfähiger, wenn es schnell, flexibel und aktiv, also agil, auf Krisen reagieren kann. Digitalisierung und Automatisierung spielen hierbei eine wichtige Rolle. Egal ob es sich um Marktkrisen, finanzielle Krisen oder strukturelle Krisen handelt, am Ende gibt es zwei Kernkompetenzen, diese zu bewältigen: Prävention und Agilität.
Diversifizierung, Spezialisierung, Internationalisierung – viele Investoren haben „Patentrezepte“ für erfolgreiche Geschäftsstrategien von Chemieunternehmen. Sind Unternehmen Ihrer Meinung nach gut beraten, auf ihre Investoren zu hören, wenn sie langfristig am Markt erfolgreich sein wollen?
B. Kreutzer: Der Grundgedanke in der Chemieindustrie lautet: Markt-Resilienz kommt aus dem Portfolio. In der Branche gibt es grundsätzlich zwei Strategien, auf die man bislang gewettet hat. Die einen setzen auf ein breites Portfolio, um so eine gewisse Unabhängigkeit von Marktentwicklungen zu bekommen. Diese Unternehmen erzeugen sozusagen Resilienz über die Breite ihres Portfolios. In der Branche gibt es einige dieser großen Portfolioplayer, wie zum Beispiel die BASF. Sie werden heute an den Finanzmärkten in der Regel mit Abschlägen auf die Bewertung einzelner Geschäftsfelder bewertet.
Im Gegensatz zur zweiten Gruppe der Unternehmen, die eine skalierte Spezialisierungsstrategie verfolgt: Sie fokussieren sich auf einen Markt und streben hier eine weltweit führende Position an. Ein Beispiel hierfür ist Bayer, das sich durch die Übernahme von Monsanto als dominanter Player in der Agrochemie aufstellen will. Oder auch DuPont, das durch den Merger mit Dow drei spezialisierte Einheiten schafft.
Sie sagen, auf diese Strategien wurde „bislang“ gewettet. Beobachten Sie eine Veränderung?
B. Kreutzer: Ja, das Verkaufen von Outcome beziehungsweise Lösungen statt von Produkten rückt immer mehr in den Fokus. Chemieunternehmen öffnen ihre Geschäftsmodelle und sie öffnen sich gegenüber neuen, branchenfremden Partnern. Ein Chemieunternehmen kooperiert beispielsweise mit einem großen Truckhersteller, übernimmt ein Wetter-Forecast-Unternehmen und verkauft Setzlinge mit garantierten Ernteerträgen. Ein anderes Unternehmen kooperiert mit einem Start-up, das Scooter herstellt, um sein Know-how für neue Kunststoffe auszubauen. Nicht nur bei Produktinnovationen, auch in der Logistik, IT oder Finanzierung werden Chemieunternehmen offener für Partnerschaften. Einige Unternehmen steigern beispielsweise ihre Bilanz-Resilienz durch neuartige Finanzierungsmodelle. Diese Öffnung nach außen ist ein Hebel zu mehr Resilienz.
Eine weitere Veränderung, die wir beobachten: Die Standardstrategien werden mehr und mehr hinterfragt. Früher haben viele Unternehmen sich an den Branchenführern und den gleichen Megatrends orientiert und auf die gleichen Strategien gesetzt. Da gab es nur leichte Abwandlungen: Die einen haben sich mehr auf das Batteriegeschäft, die anderen mehr auf den Markt für Solarenergie konzentriert. Oder: Die einen setzten mehr auf Agro-, die anderen mehr auf Ernährungslösungen. Wettbewerbsvorteile hatte das Unternehmen, das schneller war oder kostengünstiger produzierte.
Heute tun nicht mehr alle Unternehmen das Gleiche. Die Wette, die DuPont eingeht, ist eine andere wie die der BASF. Es werden disruptive Maßnahmen ergriffen. In der Branche ordnet sich vieles neu.
Neue Geschäftsmodelle sind ein Weg, die Resilienz eines Unternehmens zu steigern. Welche Rolle spielen Unternehmensorganisation und -kultur?
B. Kreutzer: Die Resilienz eines Unternehmens ist vergleichbar mit dem Immunsystem des Menschen. Das Immunsystem liegt in Ihnen. Wie gut es arbeitet, hängt von Ihrer Lebensweise ab, zum Beispiel davon, wie gut sie sich ernähren oder wieviel sie sich bewegen. Die Resilienz eines Unternehmens liegt in dessen Strukturen und Mitarbeitern. Wenn Ihre Mitarbeiter nicht resilient beziehungsweise erfahren sind, denn Resilienz entsteht auch sehr viel aus Erfahrung, dann wird es Ihr Unternehmen auch nicht sein.
Ein wesentliches Konzept hierbei ist die Dezentralisierung der Organisation und Empowerment, das heißt die Übertragung der Verantwortung auf Mitarbeiter. Diese brauchen Freiheiten, um entscheiden zu können. Verantwortung sollte wieder näher beim Kunden organisiert sein. Hierzu gehört auch die Freiheit, sich nach außen zu anderen Unternehmen und branchenfremdem Partnern öffnen und Netzwerke aufbauen zu können.
Sind diese Entscheidungsfreiheit und die Öffnung nach außen nicht auch wieder mit Risiken verbunden, denen es vorzubeugen gilt, um die Überlebensfähigkeit eines Unternehmens zu sichern?
B. Kreutzer: Das ist sozusagen das Yin und Yang der Resilienz. Auf der einen Seite stehen mehr Freiheiten und Vernetzung, auf der anderen Seite versuchen Sie, wie beispielsweise beim autonomen Fahren oder der Steuerung eines Flugzeugs, den Mensch aus kritischen Entscheidungen herauszuhalten. Die Digitalisierung eröffnet hier ganz neue Möglichkeiten, zum Beispiel bei der Analyse von Märkten, der Optimierung von Lagerbeständen, in der Logistik, Instandhaltung oder Fertigung. Menschliches Bauchgefühl wird durch Algorithmen ersetzt. Die Möglichkeiten der Digitalisierung machen Unternehmen schneller und gleichzeitig auch sicherer, und damit resilienter.
Zudem unterstützt die Digitalisierung Unternehmen dabei, ihre Daten besser zu verstehen und Informationen und Wissen zu teilen – wesentliche Voraussetzungen für eine lernende Organisation. Denn Resilienz ist mehr als bloße Widerstandsfähigkeit gegen Krisen, es ist die Fähigkeit aus diesen zu lernen.