Standardisierte digitale Zwillinge als Schlüssel zur Effizienz und Nachhaltigkeit
Datenaustausch der Zukunft
Auch in diesem Jahr sieht sich die chemische Industrie mit gewaltigen Herausforderungen konfrontiert. Hohe Energiekosten und volatile Verfügbarkeiten dominieren die Schlagzeilen, während altbekannte Probleme wie Fachkräftemangel, Bürokratie und strenge regulatorische Vorgaben weiterhin bestehen. Gleichzeitig wächst der Druck, nachhaltiger zu agieren und dennoch profitabel und wettbewerbsfähig zu bleiben, wodurch erneut die Digitalisierung in den Fokus rückt.
Digital Data Chain – Teamarbeit statt Einzelkämpfer
Doch anstatt wie bislang vor allem einzelne Prozesse digitaler umzusetzen, steht nun das Große und Ganze im Mittelpunkt: ein einheitliches digitales Ökosystem. Dabei ist heute mehr denn je Zusammenarbeit gefragt, denn vom Austausch technischer Informationen und Daten profitieren alle: die Anlagenbetreiber, die Service Provider und die Hersteller von Maschinen. Dadurch sind alle Beteiligten in der Lage, die Komponenten für die Prozessindustrie. Betriebsabläufe und Prozesse höher automatisiert und damit effizienter zu gestalten. Beispielsweise können so Daten zur Maschinenleistung und zum Wartungsbedarf in Echtzeit ausgetauscht werden, was Ausfallzeiten minimiert und die Lebensdauer der Maschinen verlängert. Zudem wird die Integration neuer Komponenten in bestehende Systeme erleichtert, da alle auf denselben Daten- und Kommunikationsprotokollen aufbauen. Dadurch können Innovationen schneller implementiert und Skaleneffekte erzielt werden.
Damit dieser Prozess funktionieren kann, bedarf es Standards und Technologien für den Informationsaustausch zwischen allen Partnern. Genau diese haben Anlagenbetreiber der Prozessindustrie, Technologielieferanten und Anbieter von technischen Dienstleistungen für Anlagenbetreiber gemeinsam erarbeitet. Auch Endress+Hauser gehört zu dem sog. Digital Data Chain Konsortium, das sich zum Ziel gesetzt hat, die vollständige digitale Datenkette vom Hersteller bis zum Anlagenbetreiber zu etablieren. Dabei verbindet es drei wesentliche Technologien: die automatische Identifikation von physischen Objekten gemäß IEC 61406, digitale Herstellerinformationen nach VDI 2770 und digitale Informationsaustauschplattformen, bekannt als Information Exchange Platform (IEP). Diese Kombination ermöglicht einen harmonisierten Ansatz zur automatisierten Identifikation von Objekten in Arbeitsprozessen sowie zum automatisierten Zugriff auf Informationen zu diesen Objekten.
Der digitale Produktpass als Treiber für einen Standard
Spätestens mit der Etablierung des digitalen Produktpasses wird ein Standard unverzichtbar. Mit einem mobilen Endgerät wie einem Smartphone oder Tablet sollen Anwender künftig mit nur wenigen Klicks umfassende Informationen zu einem Produkt erhalten. Das jüngste Beispiel ist dabei die neue EU-Batterieverordnung, die als erste den digitalen Produktpass vorschreibt. Obwohl Produktinformationen, Zertifikate, Bedienungsanleitungen sowie Daten zur Reparierbarkeit, Wiederaufarbeitung und Recycling bereits verfügbar sind, scheitert der sektorenübergreifende Austausch oft an der Vielzahl unterschiedlicher Akteure und der fehlenden Standardisierung.
Effiziente Integration und Datenverwaltung
Die digitale Infrastruktur eines Unternehmens ist meist sehr komplex, da es eine Vielzahl vernetzter Geräte, unterschiedliche Kommunikationsprotokolle und die Notwendigkeit einer nahtlosen Integration über verschiedene Bereiche hinweg umfasst. Die Verwaltung dieses komplexen Netzwerks stellt hohe Anforderungen an die Interoperabilität der Daten, die Sicherheit und die Entscheidungsfindung in Echtzeit. Damit alle anlagen-, produkt-, prozess- und systembezogenen Daten strukturiert, herstellerübergreifend und branchenneutral zusammengeführt werden können, braucht es einen Standard. Die Implementierung ermöglicht dann bspw. den sofortigen Zugriff auf die Telefonnummer des letzten Servicetechnikers, die Demontageanleitung, die Übergabedokumentation oder das Kalibrierzertifikat. Zudem dient ein standardisierter Datenaustausch Anwendungsfällen in Engineering und Simulation. Diese Fähigkeit ermöglicht effiziente End-to-End-Lösungen in diesen Bereichen.
Asset Administration Shell – Basis für den standardisierten Digitalen Zwilling
Damit der Datenaustausch entlang der Wertschöpfungskette erleichtert wird, braucht es einerseits den verstärkten Einsatz von digitalen Zwillingen und andererseits ein gemeinsames Verständnis aller Beteiligten in Industrie, Verbänden und Forschung. Aus diesem Grund wurde die Industrial Digital Twin Association (IDTA) gegründet. Diese versteht sich als eine leistungsstarke Allianz, die die Zukunft des digitalen Zwillings aktiv und innovativ gestaltet und bei der zahlreiche Spitzenadressen der Industrie Mitglied sind. Das wichtigste Instrument in der Arbeit der IDTA ist die Verwaltungsschale, auch „Asset Administration Shell“ (AAS) genannt – eine standardisierte Beschreibung des Verhaltens und der Fähigkeiten eines Assets für Kommunikation und Interaktion. Die Verwaltungsschale dient dabei definierten Anwendungsfällen auf der Kundenseite, ist interoperabel in Bezug auf Datenformate, Schnittstellen und Semantik, basiert auf bestehenden oder neu geschaffenen Standards und bildet den gesamten Lebenszyklus eines Assets ab. Sie ermöglicht es, Daten aus verschiedenen Quellen in den digitalen Zwilling zu integrieren und bietet damit eine einheitliche Basis für die Kommunikation und Interaktion zwischen unterschiedlichen Systemen und Akteuren.
Auch Endress+Hauser ist aktives Mitglied der Industrial Digital Twin Association (IDTA). Im eigenen Unternehmen setzt Endress+Hauser bereits digitale Zwillinge in Form von digitalen Typenschildern ein. Dabei handelt es sich um eine technologische Weiterentwicklung des herkömmlichen Typenschilds, das alle erforderlichen Informationen und Kennzeichnungen für den sicheren Einsatz und die Wartung von Produkten in digitaler Form liefert. Über QR-Codes oder RFID-Tags nach IEC 61406, die auf den Produkten angebracht sind, können diese Informationen weltweit und jederzeit abgerufen werden. Damit ist der Grundstein gelegt, um später – wenn der Standard im Einsatz ist – den Datenaustausch zu revolutionieren.
Autor:
Nachgefragt
Interview mit Michael Riester, Endress+Hauser
CITplus: Steht der digitale Produktpass bereits für alle oder nur für neue Endress+Hauser-Geräte gemäß der VDI 2770 und der DIN SPEC 91406 zur Verfügung? Wo werden diese Daten gehostet, wer ist Eigentümer der Daten, wer trägt die Kosten und von wem können sie gepflegt werden?
Michael Riester: Der digitale Produktpass befindet sich derzeit in der Ausarbeitungsphase und soll ab 2026 zunächst für Batterien verpflichtend eingeführt werden. Obwohl die genauen Anforderungen noch festgelegt werden, ist bereits ein grundlegendes Verständnis darüber vorhanden, welche Informationen im digitalen Produktpass enthalten sein müssen. Im Zuge unserer Bemühungen um die Bereitstellung standardisierter digitaler Zwillinge arbeiten wir daher auch intensiv an der Erfassung und Bereitstellung der erforderlichen Daten für den zukünftigen digitalen Produktpass.
Im ersten Schritt implementieren wir das Digital Nameplate mit der Identifikation von Assets gemäß IEC 61406 – DIN SPEC 91406. Anschließend werden wir die Dokumentation unserer Sensoren nach VDI 2770 bereitstellen. Die Daten werden weiterhin in den internen Systemen von Endress+Hauser gespeichert und bei Bedarf den Kunden zur Verfügung gestellt. Somit übernehmen wir die Kosten für die Datenhaltung in unseren Systemen, wodurch die Pflege der Daten ausschließlich durch Mitarbeiter von Endress+Hauser erfolgt.
Technisch gesehen stellen der standardisierte digitale Zwilling und später der digitale Produktpass zunächst lediglich zusätzliche, aber standardisierte Ausgabeformate dar.
Ist angedacht, Geräte in bestehenden Anlagen mit einem entsprechenden Typenschild und QR-Code nachzurüsten, um auch die Digitalisierung von Brownfield-Anlagen voranzubringen? Wie könnte dies gelingen?
M. Riester: Dies ist grundsätzlich möglich, sofern der Nutzen im Vordergrund steht. Wenn die Digitalisierung einer Anlage beispielsweise dazu beiträgt, Wartungsprozesse zu vereinfachen oder die Transparenz zu erhöhen, und somit einen klaren Mehrwert für den Kunden schafft, kann dies durchaus sinnvoll sein. Grundsätzlich bieten wir sogar nachrüstbare Metalltags mit dem entsprechenden Code nach IEC 61406 an.
Die Ökodesign-Richtlinie sieht vor, dass Informationen zur Reparierbarkeit, Wiederaufbereitung und zum Recycling von Geräten im digitalen Produktpass hinterlegt sind.
Denken Sie, dass diese Informationen Einfluss auf die Investitionsentscheidungen haben, und wird ein relevanter Anteil an Geräten tatsächlich repariert beziehungsweise recycelt?
M. Riester: Wir sind uns der zunehmenden Bedeutung dieser Themen bewusst. Inwiefern sie die Investitionsentscheidungen unserer Kunden beeinflussen werden, bleibt abzuwarten. Unsere Geräte sind teilweise 15 bis 20 Jahren beim Kunden im Einsatz. Wir unterstützen den nachhaltigen Betrieb unserer Geräte mit einem umfangreichen Serviceangebot von Vor-Ort-Services und Rekalibrierung sowie langfristig angesetztem Ersatzteilmanagement.
Gibt es Ansätze, die Lebenszyklusdaten, die im digitalen Produktpass hinterlegt sind, mit echten Messdaten aus dem Condition Monitoring zu verbinden, um daraus effiziente Wartungsstrategien abzuleiten, zum Beispiel auch mit KI?
M. Riester: Um KI sinnvoll einsetzen zu können, beispielsweise für Anwendungsfälle wie Predictive Maintenance, ist die Verfügbarkeit von Daten mit entsprechendem Kontext eine Grundvoraussetzung. In diesem Zusammenhang möchte ich erneut auf den standardisierten digitalen Zwilling und die damit verbundenen Konzepte der Data Spaces zum vertrauenswürdigen Teilen von Daten hinweisen. Wenn uns diese Daten von Kunden bereitgestellt werden, können solche Anwendungsfälle betrachtet werden, wobei die Standardisierung eine solide Grundlage bietet. Bisher ist dies im Digital Produktpass nicht vorgesehen, hier wird auf Masterdaten fokussiert. Dies dient den 3 R’s „Repair – Recycle – Refurbish“.
Können auch Anlagenplaner den digitalen Produktpass nutzen und werden die Informationen bereits im digitalen Zwilling einer Anlage hinterlegt?
M. Riester: Das Ziel besteht darin, den digitalen Zwilling über den gesamten Lebenszyklus hinweg zu nutzen. Darüber hinaus kann er potenziell den Engineeringprozess bei Anlagenplanern erheblich effizienter gestalten. Voraussetzung dafür ist jedoch nicht nur die standardisierte Bereitstellung der Daten durch den Hersteller, sondern auch die Adaption des standardisierten digitalen Zwillings als Grundlage für den Datenaustausch und aller beteiligten Systeme und Applikationen.
Was ist in der Asset Administration Shell hinterlegt?
M. Riester: Das hängt davon ab, was das zugehörige „Asset“ ist. Per Definition der Plattform Industrie 4.0 ist ein Asset eine „Entität, die einen wahrgenommenen oder tatsächlichen Wert für eine Organisation hat und der Organisation gehört oder von ihr individuell verwaltet wird“, kann also ein einfacher Sensor, Aktor, aber auch eine Maschine oder eine komplette Anlage repräsentieren. Bei einfachen physischen Assets sprechen wir von digitalen Nameplates, Dokumentationen, technischen und ähnlichen Daten. Auf Maschinenebene geht es eher um OEE-Daten oder den Product Carbon Footprint, berechnet aus den Daten aller Assets der Maschine oder Anlage. Es hängt also stark vom jeweiligen Asset und den spezifischen Anwendungsfällen ab, die damit abgedeckt werden sollen. Dabei kann es mehrere Asset Administration Shells (AAS) für ein Asset geben. Zum Beispiel die AAS vom Hersteller, die dem Kunden zur Verfügung gestellt und dann in den kundeneigenen Systemen mit operativen Daten, Wartungshistorie und anderen Informationen erweitert wird.
Wie weit ist der digitale Produktpass und wie ist die Asset Administration Shell bereits international gültig?
M. Riester: Der digitale Produktpass befindet sich derzeit in der Ausarbeitungsphase. Die Asset Administration Shell – AAS – hingegen befindet sich aktuell in der Phase der internationalen Normung – IEC 63278-1 ED1 „Asset administration shell for industrial applications – Part 1: Administration shell structure“. Zudem besteht Interesse und es gibt erste Projekte im europäischen Ausland sowie in Japan und Korea. Wir selbst haben beispielsweise auf der Achema in Frankfurt einen gemeinsamen Anwendungsfall zum Thema „Optimierung der Wartung von pharmazeutischen Anlagen mit digitalen Zwillingen“ als Demonstrator zusammen mit Firmen aus Deutschland, Österreich und den USA vorgestellt. Aus meiner Sicht, ist das Konzept der Asset Administration Shell das am weitesten industrialisierte und zukunftsfähigste. Für unsere Kunden ein echter Mehrwert, um Prozesse zu digitalisieren, damit effizienter, qualitativer und sicherer zu machen.
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